Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → PSYCHOLOGIE

RATGEBER/047: Barbie ist kein Elternteil - Interview mit Familientherapeut Juul (welt der frau)


welt der frau 1/2009 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Barbie ist kein Elternteil
Kinder muss man nicht zu sozialen Wesen erziehen, sie sind es von
Geburt an, sagt der dänische Familientherapeut Jesper Juul

Interview von Jutta Berger


JUTTA BERGER: Sie gehen davon aus, dass der Mensch von Geburt an ein sozial und emotional kompetentes Wesen ist?

JESPER JUUL: Kinder sehen und erleben sich in Beziehung zu anderen, sind ursprünglich sozial. Man muss sie nicht dazu erziehen. Sie haben die sozialen Fähigkeiten und auch den Wunsch, sozial zu sein.

JUTTA BERGER: Was können Eltern tun, um diese Fähigkeiten zu stärken?

JESPER JUUL: Eigentlich nichts, außer gute Vorbilder zu sein. Es braucht keine Stärkung, Eltern sollten die Entwicklung dieser Fähigkeiten nicht stören.

JUTTA BERGER: Was stört?

JESPER JUUL: Wir Eltern denken, dass wir die Kinder beeinflussen, manipulieren müssen. Nur keine langen pädagogischen Vorträge! Damit kann ein kleines Kind nichts anfangen. Das ist Ideologie, Moralvorstellung. Wir sollten mehr nachdenken und uns fragen, was wir wirklich wollen. Wollen wir Kinder erziehen und was erzieht dann? Wir Erwachsene glauben, Erziehung ist, wenn wir so unsere Erziehungsuniform anziehen. So ist es aber nicht. 80, 90 Prozent der Erziehung passiert sozusagen "zwischen den Zeilen": Wie gehen wir miteinander um, als Erwachsene, mit den Kindern, als Paar, wie gehen wir mit anderen Erwachsenen um? Das erzieht. Denn Kinder lernen durch Beobachten, durch Imitation.

JUTTA BERGER: Es geht in der Erziehung um das Vorbild?

JESPER JUUL: Ja, das Kind kopiert und kooperiert. Erziehung ist ja nur deshalb erfolgreich, weil Kinder kooperieren. Sie machen genau das, was sie gelernt haben. Auch von sogenannten schlechten Beispielen. Mütter glauben, sie sind ein schlechtes Vorbild, wenn sie sich aufregen, brüllen. Ich sage, das schadet niemandem, das ist ein gutes Vorbild, weil es emotional, aufrichtig ist. Von Barbie-Eltern lernt man nichts über andere Menschen.

JUTTA BERGER: Was verstehen Sie unter "Barbie-Eltern"?

JESPER JUUL: Diese Eltern pflegen eine moderne, süße, romantische Art von Vernachlässigung. Alles ist so nett, so süß, wie in Watte gepackt. Das sind Eltern, die immer bedienen, immer für die Kinder da sind. Sie fragen: "Was darf es sein, was soll ich machen?" Benehmen sich wie Angestellte in der eigenen Wohnung. Kinder bekommen alles, was sie sich wünschen. Die wahren Bedürfnisse des Kindes werden aber nicht erfüllt.

JUTTA BERGER: Welche Bedürfnisse sind das?

JESPER JUUL: Das wichtigste Bedürfnis ist Führung durch die Erwachsenen.

JUTTA BERGER: Wollen Sie, dass die Erziehung wieder autoritärer wird?

JESPER JUUL: Nein, nein! Führung heißt, als Eltern zu zeigen, dass man ein Mensch mit eigenen Bedürfnissen, eigenen Grenzen ist. Eltern sollen Menschen aus Fleisch und Blut sein.

JUTTA BERGER: Sie sollen authentisch sein?

JESPER JUUL: Ja, das ist sehr wichtig. Eltern sollen so authentisch wie möglich sein. Viele Eltern spielen Elternsein, sie versuchen, alles richtig zu machen. Aber das ist unmöglich. Das Kind braucht seine Eltern als Menschen, nicht nur als Serviceeinrichtungen. Ich beobachte eine neue Tendenz: Junge Eltern reden wieder über sich selbst in der dritten Person. "Nein, die Mutti will nicht" oder "Komm zum Papi"... Dann kommen die nach ein paar Jahren zu mir und sagen: "Unser Kind hört nicht zu." Ist ja logisch, wenn man über sich selbst in dritter Person redet, gibt es keinen direkten Kontakt, keinen emotionalen Kontakt.

JUTTA BERGER: Warum machen das die Eltern?

JESPER JUUL: Ich glaube, das kommt aus einer Verunsicherung heraus. Man will alles richtig machen. Sein Kind nicht verletzen. In Schweden zum Beispiel gab es die letzten Jahre einen Trend, da wollten die Eltern unbedingt glückliche Kinder haben. Ich sage den Eltern immer, erstens ist es unmöglich und zweitens ist es furchtbar für ein Kind, mit Eltern zu leben, die wollen, dass es immer glücklich ist.

JUTTA BERGER: Glückliche Kinder wünschen sich doch alle Eltern.

JESPER JUUL: Es ist auch erlaubt, das zu wünschen. Aber es macht einen Unterschied, ob man sich das wünscht oder ein Projekt daraus macht. Das bedeutet ja, dass das Kind nie unglücklich sein darf. Frustration ist verboten, Konflikte sind verboten. Kommen diese Kinder in den Kindergarten, die Schule, verhalten sie sich ohne Empathie..

JUTTA BERGER: Warum ist die Empathie verschwunden?

JESPER JUUL: Das Kind hat ja die letzten Jahre mit zwei Schauspielern gelebt. Menschen, die immer zur Verfügung stehen, keine Konflikte wollen, keine eigenen Bedürfnisse haben. Wie soll so ein Kind lernen, dass andere Menschen Bedürfnisse, Gefühle und Grenzen haben?

JUTTA BERGER: Eltern sollen Gefühle zeigen, aber auch klare Grenzen signalisieren?

JESPER JUUL: Sie müssen das tun, was sie auch aus anderen Bereichen ihres Lebens kennen: Sagen, was sie wollen oder nicht wollen. Kinder kooperieren wunderbar, man muss es ihnen nur ohne Belehrung sagen. Kleine Kinder wollen eigentlich nur eines: ihre Eltern glücklich machen. Wichtig ist, dass die Eltern mit ihrem Kind leben, nicht mit ihren Vorstellungen. Das kennen wir auch aus Liebesbeziehungen: Die ersten sieben bis neun Jahre leben wir ja mit unserer Fantasie zusammen.

JUTTA BERGER: Wer lehrt Eltern, was für Kinder richtig ist?

JESPER JUUL: Ich halte nichts davon, wenn ExpertInnen Elternführerschein und Elternbildung fordern. Elternsein kann man nur zusammen mit den Kindern lernen. Wichtig ist, die Kinder zu beobachten, dadurch als Erwachsener zu lernen und dann den Kindern Fragen zu stellen. Sich auf einen spannenden Lebensabschnitt einlassen, bereit sein zu lernen, über sich selbst und das Kind. Kinder fühlen sich dabei wertvoll, merken, dass sie das Leben der Eltern bereichern.


*


Zur Person: Jesper Juul

Jesper Juul (60) ist Familientherapeut und Autor. Sein bekanntestes Buch "Das kompetente Kind" wurde in 13 Sprachen übersetzt. Bevor Jesper Juul Geschichte und Religion studierte, war er Schiffskoch, Erdarbeiter, Tellerwäscher und Barkeeper. Nach dem Studium arbeitete er als Lehrer und Sozialarbeiter, ließ sich schließlich zum Familientherapeuten ausbilden. Er ist Mitbegründer des Kempler Institute of Scandinavia in Odder (Dänemark) und gründete FamilyLab International, ein Programm zur Unterstützung von Eltern, das in sechs europäischen Ländern angeboten wird. Jesper Juul arbeitet zurzeit in neun Staaten. Er ist mit einer Kroatin verheiratet, hat einen Sohn aus erster Ehe und einen zweijährigen Enkelsohn.


Eine Werkstatt für Familien

Inspiration und Begleitung will FamilyLab Menschen anbieten, die sich in Zeiten der Veränderung auf das Abenteuer Familie einlassen. Jesper Juul: "Wir sehen neue Familienformen und Formen des Zusammenlebens, die Geschlechterrollen befinden sich in der Auflösung, und mitten in diesem Ganzen sollen wir uns Kindern und Jugendlichen gegenüber verhalten, die einen ganz neuen Status sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft bekommen haben." Mit FamilyLab, dem "Familienlabor", bekommen Eltern Unterstützung beim "Finden, Erfinden, Experimentieren mit ihrer eigenen Art und Weise, eine Familie zu entwickeln" (Juul).

Trainerinnen und Trainer begleiten offene oder geschlossene Gruppen von FreundInnen, Vereinen, Unternehmen. FamilyLab sei keine Schule, betont Juul, sondern eine Werkstatt. Denn zur Mutter, zum Vater könne man sich nicht ausbilden lassen, "Ausbildung" sei nur im tagtäglichen Zusammenspiel mit Kindern und erwachsenen Partnern möglich und sei ein lebenslanger Prozess. Lernziel in der Familienwerkstatt ist die Umsetzung liebevoller Gefühle in liebevolle Handlungen.

Weitere Informationen erhalten Sie unter nfo@familylab.at und auf www.familylab.at.


*


Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 1/2009, Seite 14-16
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
Redaktion: Welt der Frau Verlags GmbH
4020 Linz, Lustenauerstraße 21, Österreich
Telefon: 0043-(0)732/77 00 01-0
Telefax: 0043-(0)732/77 00 01-24
info@welt-der-frau.at
www.welt-der-frau.at

Die "welt der frau" erscheint monatlich.
Jahresabonnement: 29,- Euro (inkl. Mwst.)
Auslandsabonnement: 41,- Euro
Kurzabo für NeueinsteigerInnen: 6 Ausgaben 8,70 Euro
Einzelpreis: 2,42 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2009