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RATGEBER/050: Wenn alles zu viel wird (welt der frau)


welt der frau 5/2009 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Wenn alles zu viel wird

Von Alexia Weiss


Das Kind klagt immer wiederkehrend über Bauchschmerzen, es ist ungewohnt aggressiv oder zieht sich sukzessive zurück: Wie Eltern die ersten Anzeichen einer Überforderung ihres Volksschulkindes nicht übersehen. Und wie man für seine Tochter, seinen Sohn wieder einen kindgerechten Alltag schaffen kann.


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Kevin war neun Jahre alt und besuchte die dritte Klasse Volksschule, als er mit seinen Eltern erstmals die Erziehungsberaterin Rikki Polreich aufsuchte. Der Grund: "Totaler Schulfrust." Vermutlich war er durch körperliches Wachstum überfordert, seine schulischen Leistungen sackten ab. Was passierte in der Familie? "Auf einmal ist die Schule der Mittelpunkt zu Hause. Er muss lernen, lernen. Auch mit den Eltern. Kein Erfolg", schildert Polreich. Schließlich wurde der Sport gestrichen. Das Ergebnis: "Noch schlechtere Noten und Aggressivität."

Polreich half den Eltern und dem Buben, aus dem Teufelskreis herauszukommen. Ihr Tipp in solchen Fällen: "Lernen auf ein zeitliches Maß einschränken, Hausübungen ebenso. Schule sollte man erst gar nicht zum Mittelpunkt des familiären Geschehens mutieren lassen. Und: Sport wieder erlauben! Denn körperliche Fitness macht sich auch im kognitiven Bereich bemerkbar."


Signale der Überforderung

Wie aber können Eltern erkennen, dass ihr sechs- bis zehnjähriges Kind mit gröberen Problemen kämpft? "Volksschulkinder sagen nicht: 'Ich bin überfordert', daher zeigt sich Überforderung meist durch körperliche Signale", sagt der Psychologe und Psychotherapeut Stefan Geyerhofer, der an der Webster University in Wien lehrt. "Das können sein: Weinen, diffuse Ängste, psychosomatische Beschwerden, in extremen Fällen Schulverweigerung. Sehr häufig klagen die Kinder über Bauchweh."

Polreich hat auch beobachtet, dass unter Druck geratene Kinder, die zuvor unbeschwert wirkten, still und nachdenklich werden. Antworten fallen einsilbig aus. Die eigene Leistung wird realitätsfremd - also nicht richtig - eingeschätzt. "Alle sind bezüglich schlechter Noten schuld, nur das Kind selber nicht."

LehrerInnen wiederum sollten bei folgenden Symptomen hellhörig werden und das Gespräch mit den Eltern suchen: "Das Kind ist nervös, ist sehr still, redet generell wenig, braucht selbst für kleinste Aufgaben ewig, weil es sich nicht traut, die Lösung hinzuschreiben, aus Angst, sie könnte falsch sein", so Geyerhofer. In der Praxis "denken LehrerInnen dann oft, das Kind sei dumm".


Die Ursachen für Überforderung

Die Ursachen für Überforderung sind höchst unterschiedlich. Im Bereich der Schule kann dies beispielsweise "zu rasches Vorgehen" oder "ein zu großes Stoffpensum" sein, sagt die Erziehungsberaterin Regina Weinstabl. Von Elternseite wird hingegen oft viel zu viel Druck ausgeübt. "Eltern wollen, dass ihr Kind ganz besonders ist - besonders begabt, besonders geschickt etc.", so Weinstabl. Andere Mütter oder Väter wollen ihre persönlichen Wünsche und Hoffnungen durch das Kind realisiert sehen. Gänzlich anders die Situation von Migrantenkindern, dabei vor allem von Mädchen. "Sie müssen zusätzlich zum Lernpensum viele häusliche Pflichten übernehmen", weiß Weinstabl aus der Praxis.

Druck entstehe aber auch, wenn dem Kind zu viele Freizeitangebote zur Verfügung stehen: Beispielsweise, wenn eine Siebenjährige nicht nur Reitunterricht nimmt, sondern auch Ballettstunden besucht und eine Fremdsprache erlernt. Dazu meint Geyerhofer grundsätzlich, dass der Nachmittag nicht ebenso strukturiert weitergehen solle wie der Schulalltag. Und Weinstabl ergänzt: Auch Schlafmangel und mediale Reizüberflutung können Kinder hemmen, ihren Alltag problemlos zu meistern.

Haben Eltern erkannt, dass ihre Tochter, ihr Sohn unter zu großem Druck steht, rät Geyerhofer: "Ganz wichtig sind ausreichend Leerzeiten statt immer nur Programm. Also ausreichend Zeit für Spiel, Blödeln und Langeweile. Darunter fallen aber nicht Computerspiele, da diese stark vorstrukturiert sind. Langeweile ist ganz, ganz wichtig." Polreich betont: "Wer das auffällige Verhalten eines Kindes ändern will, muss zunächst eine sichere Bindung zu ihm herstellen. Ein Kind, das sich angenommen und geliebt fühlt, ist auch bereit, sein Verhalten zu ändern." Und: "Lob spornt an!"


Loben tut gut

LehrerInnen wiederum sollten das Kind "unterstützend abholen, wo es steht", sagt Polreich. Allerdings sei dies im heimischen Schulsystem "oft schwer möglich". Leichter zu bewerkstelligen wäre für PädagogInnen, die Aufgabenstellungen klar, kurz und eindeutig zu formulieren und ebenfalls: zu loben. Außerdem sollte sich nach Ansicht Polreichs jede Lehrerin, jeder Lehrer vor Augen halten: "Niemand macht absichtlich Fehler, jeder gibt sein Bestes. Kinder, die keine Fehler machen dürfen, verlieren an Selbstvertrauen und haben keinen Lernerfolg!" Was aber passiert, wenn Eltern und LehrerInnen die Signale übersehen? "Wenn kleine Anzeichen ignoriert werden, besteht die Gefahr, dass sie sich chronifizieren", warnt Geyerhofer. "Letztendlich bedeutet das Krankheiten und psychische Störungen, wie etwa Angststörungen, kindliche Depressionen bis hin zu Leistungs- und Schulverweigerung."

Polreich arbeitet heute als Coach auch häufig mit Erwachsenen, die aufgrund einer schiefgelaufenen Schullaufbahn aus dem Tritt gekommen sind. Kindern, die zu Schulversagern werden, in der Folge eine Klasse wiederholen oder sogar in die Sonderschule kommen (was vor allem Migrantenkinder treffe), werde auch das weitere Leben wesentlich erschwert. Bei Ratsuchenden, die als Erwachsene mit Legasthenie kämpfen, ihren Schulabschluss nachholen oder häufig arbeitslos sind, "wurde bereits der positive Start in der Grundschule verabsäumt". Und, warnt Polreich: Keine Ausbildung, das bedeute auch häufig "Abrutschen in die Suchtszene und keine Chance auf ein zufriedenstellendes Leben".

Der neunjährigen Nina blieb dank der rechtzeitigen Initiative ihrer Eltern ein solches Schicksal erspart. Sie suchten mit ihrer Tochter Stefan Geyerhofer auf, da das Mädchen sich ab der zweiten Klasse immer mehr zurückzog. "Es stellte sich heraus, dass das Mädchen eine Teilleistungsschwäche beim räumlichen Vorstellungsvermögen hat, das heißt, sie kann sich unter Würfel und Quader nichts vorstellen. Mithilfe eines persönlich abgestimmten Trainingsprogramms, das vier Monate ergotherapeutische Förderung umfasste, lernte das Mädchen, ihre Schwäche zu überwinden. Hilfreich war in diesem Fall die Zusammenarbeit mit der Lehrerin, die Feedback über die Fortschritte gab."

Immer wieder überraschend ist für den Experten, "wie lange Überforderung gar nicht auffällt". Als negative Entwicklung sieht er, "dass solche Probleme früher erst ab Gymnasiumsalter auftraten, jetzt zunehmend schon Volksschulkinder betroffen sind".


Homepage der Autorin Alexia Weiss: www.alexiaweiss.com


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 5/2009, Seite 12-13
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2009