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SOZIALES/122: Erfahrungsberichte - Wenn Kinder andere Werte leben (welt der frau)


welt der frau 4/2010 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Wenn Kinder andere Werte leben

Von Michaela Herzog


Wenn erwachsene Kinder in zentralen Lebensfragen wie Partnerschaft, Sexualität und in ihrer Haltung zur Kirche eigene Wege gehen, fordern sie ihre Umgebung heraus. Zwischen Liebe und Auseinandersetzung und abhängig von den eigenen Wertvorstellungen ringen Mütter darum, die Lebenswege der Kinder anzunehmen.


"Die Trennung hat mich mitten ins Herz getroffen"
Maria L.(*), 70, Mutter von sieben Kindern

Meinen sieben Kindern habe ich gewünscht, mit dem Menschen, mit dem sie vor dem Traualtar stehen, alt zu werden. Meine Tränen, dass es bei allen anders gekommen ist, habe ich alleine geweint. Aus Liebe zu ihnen und aus Angst, den Kontakt zu den Enkelkindern zu verlieren. Ich finde, den Kindern zuliebe müssten Paare zusammenbleiben. Man schafft es. Ich habe es ja auch geschafft. Und zwar ohne die Möglichkeit einer Aussprache. Die Beichte war mir eine Pflichtübung. Der Beichtstuhl kein Ort für mich, um Eheprobleme auszusprechen.

Unserer Generation hat man das Ideal von der Reinheit vor der Ehe gepredigt. Trotzdem gab ich den sexuellen Forderungen meines späteren Ehemannes nach. Mit schlechtem Gewissen. Ihm zuliebe. Ich war damals unaufgeklärte 21 Jahre alt. Und bin ihm in meinen 45 Ehejahren immer zur Verfügung gestanden. Auch um 4 Uhr in der Früh, wenn ihm danach war. Lieber so, als den ganzen Tag einen launischen Mann ertragen zu müssen. Es galt, was er sagte und wollte. Für alle. Sowohl für mich als auch für die Kinder.

Der völlig veraltete und heruntergewirtschaftete Hof, das Erbe meiner Eltern, hat von mir und meinem Mann den totalen Arbeitseinsatz gefordert. Jahrelang war die Gehschule mit auf dem Feld. Bis ich mir meine Eileiter durchtrennen habe lassen.

Gedanken wie "einfach weggehen mit nur zwei Koffern" habe ich mir strikt verboten. Wie oft wäre ich gerne gegangen. Warum ich geblieben bin? Wegen meiner sieben Kinder.

Heute bin ich froh, dass ich geblieben bin. Mein Mann ist milder geworden. Meine Freude an ihm überwiegt. Ich lasse die Vergangenheit ruhen. Ob ich jemals glücklich war? Diese Frage habe ich mir nie gestellt. Erfüllte Pflichten sind zu meinem Lebensglück geworden. Meinen Rat, einen Stein daraufzulegen und wieder neu zu beginnen, hat keines meiner Kinder befolgt.

Die Nachricht einer meiner Töchter: "Wir trennen uns", traf mich völlig unvorbereitet. Tief ins Herz. Das Paar war beim Hausbau, die Kinder ganz klein. Dieser Schmerz ließ mich nicht mehr schlafen. Reden konnte ich nicht mit ihr. Ich hätte ihr massive Vorwürfe gemacht. Die hätten unsere Beziehung noch mehr verschlechtert. Ich habe geschluckt und geschwiegen. Und gelitten.

Ich werde das Gefühl nicht los, dass die jungen Frauen heute zu viele Forderungen an das Leben und an die Männer stellen. Leichtfertig handeln und sich zu wenig um ihre Ehe bemühen. Schließlich gibt es das Versprechen: bis der Tod euch scheidet. Früher war es nicht so leicht, sich scheiden zu lassen. Das hat wahrscheinlich viele Ehen gerettet. Bei meinen Kindern erlebe ich mittlerweile alle Lebensformen. Verheiratet, Scheidungen, wieder verheiratet, in Partnerschaft lebend, alleinerziehend.

Zur Besinnung gebracht hat mich, so furchtbar es klingen mag, der Selbstmord einer verzweifelten Frau aus einem Nachbarort. Sie hatte sich wegen ihrer Eheprobleme vor den Zug geworfen. Der Tod dieser jungen Frau hat mir meine Augen und mein Herz geöffnet. Und mich zur Einsicht gebracht, dass ich als Mutter aus Liebe zu meinen Kindern die Klügere und die Bedächtigere sein muss. Und dass ich mit meinen 70 Jahren lernen muss, die Lebensentscheidungen meiner erwachsenen Kinder zu akzeptieren. Denn keine Veränderung im Leben ist es wert, die Beziehung zu den Kindern, auch wenn sie nicht nach meinen Wertvorstellungen leben, aufs Spiel zu setzen.

Heute freue ich mich über die spontanen Besuche von Ex-Schwiegerkindern. Darf alle Enkelkinder willkommen heißen. Und schließe auch die neuen Partner meiner Kinder in die Arme.

Unsere unterschiedlichen Ansichten zu den Themen Emanzipation, Beziehung und Sexualität bestehen nach wie vor. Das darf sein. Meine Töchter und meine Söhne versuchen, anders zu leben. Ob sie es deshalb aber leichter haben als ich damals in ihrem Alter, weiß ich nicht.


"Meine Kinder sind homosexuell und super Leute"
Ernestine K.*, 63, Mutter von zwei Söhnen und einer Tochter

Habe ich als Mutter etwas falsch gemacht? Dieser Gedanke ist mir noch nie gekommen. Das meine ich nicht überheblich, sondern ehrlich. Ich war zwanzig Jahre bei meinen Kindern daheim, weil ich sie selber aufziehen wollte. Wer weiß, wenn ich das nicht gemacht hätte, vielleicht würde ich meinen, dass es aus einem Defizit in der Kindheit resultiert.

Es war nach einer langen Amerikareise meiner Söhne. Nach ihrer Rückkehr habe ich ganz intensiv gespürt, da muss etwas ganz Gravierendes vorgefallen sein. Als Mutter hat man da ein ganz besonderes Gespür. Und dann habe ich erfahren, dass meine beiden Söhne im Flugzeug ein amerikanisches Ehepaar kennengelernt haben. Der Mann hat sich über unseren minderjährigen Jüngsten hergemacht, die Frau hat unseren Ältesten verführt. Aber nicht gegen ihren Willen.

Ich war zutiefst aufgewühlt, geschockt und entsetzt. Dem Anrufer aus Amerika drohte ich schreiend mit Strafe. Ein befreundeter Psychiater konnte uns verzweifelten Eltern nicht sagen, ob wir das Verhalten unseres Jüngsten als pubertierende Laune oder als sexuelle Neigung zu verstehen hatten.

Für meinen Mann waren schwule Männer immer das Letzte gewesen. Nun war er persönlich betroffen. Als Katholik und politisch Konservativer.

Heute ist das kein Thema mehr. Wir lieben den Lebensgefährten unseres Sohnes sehr. Und die Frau unserer Tochter, die sie während ihres Studienaufenthaltes in Paris kennengelernt hat. Unsere Tochter ebenfalls gleichgeschlechtlich orientiert? Wir hatten bis zu ihrem Outing schon einiges hinter uns und viel dazugelernt. Bei der berührenden Hochzeit unserer Tochter in den Niederlanden war sogar mein Bruder dabei, der dem Ereignis zuerst total ablehnend gegenübergestanden ist. Geweint habe ich vor Glück. Sonst nie. Wenn ich sehe, wie glücklich meine Kinder mit ihren Partnern sind, passen ihre Entscheidungen auch für mich.

Ich komme aus einem konservativen, aber zugleich kritisch katholischen Haus. Obwohl ich als Revoluzzerin unter meinen fünf Geschwistern gegolten habe, wurde meine Jugendzeit stark geprägt von den Idealen der Kirche. Ich war unter denen, die für eine gute Sterbestunde neun Mal am ersten Freitag im Monat in die Kirche gegangen sind. Das haben alle in der Gemeinschaft gemacht. Nach dem Sinn hat keiner gefragt. Zu einem gewissen Gehorsam waren wir alle erzogen worden.

Als erwachsene Frau habe ich dann eine sehr persönliche "Theologie der Befreiung" unter der Begleitung eines Priesters durchlebt. Deshalb kann ich mit der katholischen Amtskirche und ihren Auflagen relativ locker umgehen. Ich finde das Christentum eine ganz tolle Sache, nur wird es von manchen seiner Vertreter entsetzlich mies verkauft. Ich würde mir einfach mehr Mut wünschen von einer Kirche, in der ich mich bis heute wohlfühle. Ich bin eine gern gesehene Lektorin und Kommunionspenderin in unserer gut funktionierenden Pfarre. Niemand hat sich wegen meiner Kinder von uns abgewandt.

Ich weiß, die offizielle Kirche spricht schnell von Schuld und Sünde, wenn von Menschen, die andere sexuelle Neigungen leben, die Rede ist.

Diese Verurteilungen berühren mich sehr. Und zwar deshalb, weil es mir leid tut um die Kirche, die ihre Chance nicht wahrnimmt, für diese Menschen da zu sein.

Natürlich überlege ich hin und wieder: Warum ist mein Sohn homosexuell? Wieso ist meine Tochter mit einer Frau verheiratet? Meine Schwiegertochter hat beide Kinder von Samenspendern geboren. Von den leiblichen Vätern meiner Enkelkinder weiß ich nichts. Darüber wollen meine Tochter und ihre Frau nicht sprechen. Das akzeptiere ich.

Der zweite Sohn lebt in einer Patchworkfamilie. "Mit einer Kirche, die meine Geschwister nicht will, möchte ich nichts mehr zu tun haben", hat er vor Jahren erklärt und ist ausgetreten. Ausgetreten sind mittlerweile alle drei Kinder aus der katholischen Kirche.

Keines meiner fünf Enkelkinder ist getauft.

Ich habe als Mutter einer lesbischen Tochter und eines homosexuellen Sohnes in der ersten Zeit genau überlegt, wem ich ein Gespräch darüber zumuten kann. "Mir graust so vor schwulen Männern, dass ich mir immer nachher die Hände waschen muss", hat uns ein Freund, Chef Hunderter Angestellter, erzählt. Unser Outing war ihm furchtbar peinlich, schließlich kennt er unsere Kinder von Geburt auf. Er hat aus unserer Situation gelernt. Mittlerweile rede ich mit jedem darüber.

Ja, meine Kinder leben verantwortungsvoll nach anderen Werten. Ich lebe auch anders als meine Eltern. Das fällt mir nicht so schwer zu akzeptieren.

So ist das Leben. Es ist, wie es ist. Es ist gut.


"Alle fünf sind aus der Kirche ausgetreten"

Anna M.*, 55, Mutter von fünf Töchtern

Meine fünf Töchter, alle waren in der Jungschar und Ministrantinnen, haben sich bis zu ihrem 14. Lebensjahr in unserer Pfarre sehr beheimatet gefühlt. Warum ist ihr Interesse an der Kirche und den Werten, die sie von klein auf erlebt haben, abgebröckelt? Es gibt ja für sie bis heute uns Eltern als Vorbild.

Mit Schulwechsel und am Studienort sind sie mit anderen Menschen in Kontakt gekommen. Neue Gemeinschaften, neue Ideen und neuer Freundeskreis gaben den Stoff für viele Familiendiskussionen. Wechselnde Partnerschaften und Sexualität sind Thema geworden. Berufswünsche, Auslandsaufenthalte und der Wunsch nach Freiheit. Alle fünf sind offene und neugierige Frauen.

Früher haben die jungen Leute mit 20 Jahren geheiratet, die konnten leichter mit der Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche warten. Heute bis zur Hochzeit zu warten, da warten alle lang. Das machen die jungen Leute nicht mehr. Für uns als Eltern war es natürlich ein herausfordernder Prozess, das zu akzeptieren.

Wie viel Einspruchsrecht habe ich als Mutter? Bis zum Alter von 18 Jahren musste ich ja für alles, was sie tun, geradestehen. Ich habe ihnen schon klargemacht, dass sie sich bis zur Volljährigkeit an Regeln zu halten haben, die wir als Eltern vorgeben. Mit 17 Jahren ein Kind bekommen? Nein! Ich habe bald die Pille zum Thema gemacht.

Sexualität ist für meine Töchter etwas ganz Normales. Alle ihre bisherigen Beziehungen waren ehrlich und echt, auch wenn sie nach einiger Zeit in Brüche gegangen sind. Nur der Begierde nachzugehen, egal, neben wem im Bett zu liegen, kam für keine infrage. Sie leben ihre Sexualität immer im Rahmen einer Partnerschaft, mit Vergnügen, Leidenschaft und Verantwortung. Das gefällt mir.

Ich habe mit 22 Jahren das erste Kind bekommen. Nach einer geheimen Beziehung, die drei Jahre gedauert hat. Das erste Kind ist passiert. Alles war in Schwebe. Mein Mann hat sich nach einem Jahr Bedenkzeit vom Priesteramt laisieren lassen. Ein Jahr später haben wir geheiratet.

Eine Zeit lang habe ich die natürliche Empfängnisverhütungsmethode angewendet, sie mir aber bald abgewöhnt und die Pille genommen. Ohne schlechtes Gewissen. Geschlechtsverkehr nur zur Fortpflanzung? Das Verbot war uns egal. Mit gutem Gewissen und aus Liebe leben wir bis heute das, was uns guttut.

Ich habe mich als junges Mädchen daran halten wollen, dass man keinen Sex außerhalb der Ehe hat. Doch meine voreheliche Hinwendung zu meinem späteren Mann geschah nicht leichtfertig, sondern aus Liebe. Er ist der einzige Geschlechtspartner in meinem Leben geblieben.

Meine Generation hat vieles nicht hinterfragt, gerade was die Amtskirche von uns gläubigen Jugendlichen verlangt hat. Meine Töchter hingegen sind kritisch und lassen sich nichts hineindrücken. Weder von einem Mann noch von der Kirche. Während des Studiums haben sie sich von der Kirche abgewandt und sind ausgetreten. Es liegt nicht am Geld. Sie fühlen sich als Frau in der Kirche als fünftes Rad am Wagen. Einfach nicht ernst genommen. Ein feministischer Protest. Das Geld spenden sie einer Fraueneinrichtung.

Das hat mich trotz allem Verständnis schwer getroffen. Viele Tränen habe ich vergossen und innere Kämpfe durchlitten. Ihre Reaktion? Die Mama flippt schon wieder aus, reden wir lieber zuerst mit dem Papa.

Ich mische mich nicht mehr ein. Meine erwachsenen Töchter tragen die Verantwortung für ihr Leben. Für ein Leben in Fülle, und zwar im Diesseits.

Ich vertraue ihnen. Ich bin für sie da.


(*) Der Name ist der welt der frau-Redaktion bekannt.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
April 2010, Seite 30-33
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2010