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BERICHT/010: Technik, Mensch und Selbstbestimmung - Widerständigkeit eingebettet im medizinisch-politischen Komplex (SB)


Tagung "(Un-)Sicherheit, (Bio-)Macht und (Cyber-)Kämpfe: Kritische Theorieperspektiven auf Technologien als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung"

Anmerkungen zu Prof. Alexandra Manzeis Vortrag "Über die Implementation von Marktmechanismen im Krankenhaussektor"



Wer heutzutage ein Krankenhaus in der Hoffnung aufsucht, ihm werde dort geholfen, rechnet womöglich nicht damit, daß er sich mit diesem Schritt in Verhältnisse begibt und Interessen überantwortet, die nicht unbedingt auf die Beseitigung seines Leids ausgerichtet sind. Die Wiederherstellung der Gesundheit erweist sich eher als eine Art Werbeversprechen, das sich manchmal erfüllt, manchmal auch nicht. Letzteres hätte dann möglicherweise damit zu tun, daß das Gesundheitswesen ein Milliardengeschäft ist, und wirtschaftliche "Notwendigkeiten" die Behandlungsart und -dauer bestimmen. Aus dem Geldbeutel der Krankenversicherten finanzieren sich riesige Wirtschaftszweige.

Neben der zunehmenden Durchökonomisierung des Gesundheitswesens üben auch gesundheitspolitisch-administrative Richtungsentscheidungen einen gravierenden Einfluß auf die Art der medizinischen Behandlung aus, die mitunter weniger auf die Behebung von Leid denn auf seine Verwaltung ausgerichtet ist. Die Politik fördert ein herrschaftskonformes Menschenbild, bei dem die Subjekte ihre Vernutzung in der Knochenmühle fremdbestimmter Arbeitsverhältnisse schicksalsergeben hinnehmen und sich bei leistungsmindernden Unwuchten dem medizinischen Reparaturbetrieb ausliefern.

 Referentin bei der Diskussion - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Alexandra Manzei
Foto: © 2012 by Schattenblick

Einer innovativen Entwicklung des medizinisch-politischen Komplexes hat sich die Sozialwissenschaftlerin und Philosophin Prof. Dr. Alexandra Manzei von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar auf der Frühjahrstagung dreier universitärer Einrichtungen [1]‍ ‍an der TU Hamburg-Harburg gewidmet. Unter dem Paneltitel "Technologie und Politische Ökonomie" referierte sie am Beispiel der digitalen Patientenakte und ihrer informationstechnologischen Vernetzung "über die Implementation von Marktmechanismen im Krankenhaussektor - Wie durch die Digitalisierung und Standardisierung medizinischer Praxis ökonomische Kriterien an das Patientenbett gelangen".

Mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hatte Prof. Manzei im Rahmen einer ethnographischen Studie in den Jahren 2005 bis 2007 "das Verhältnis zwischen Erfahrungswissen und Technik" am Beispiel der universitären Intensivmedizin erforscht. Jeweils zwei Monate lang besuchte sie als teilnehmende Beobachterin eine chirurgische und eine internistische Intensivstation und hat dazu ergänzend Interviews und Gruppengespräche mit verschiedenen Akteuren (Ärzten, Pflegekräften, Patienten, Technikern, Putzleuten) sowie Beteiligten außerhalb der Station (aus Verwaltung, Pflegedienstleistung, Controlling, Medizintechnikunternehmen) geführt.

Zu den zentralen Ergebnissen dieser Studie gehört, daß die digitale Patientenakte, die seit ungefähr Mitte der neunziger Jahre Einzug in das Gesundheitswesen genommen hat, durch die informationstechnologische Vernetzung in Krankenhäusern einen dramatischen Funktionswandel erfuhr. Die Patientenakte dient inzwischen nicht mehr nur der Dokumentation von Krankheiten und deren Behandlung, sondern wird als Instrument der Kontrolle und Kostendämpfung eingesetzt. Zugang zur digitalen Patientenakte haben neben den behandelnden Ärzten und Pflegenden auch das Krankenhausmanagement und der medizinische Dienst der Krankenkassen. Das elektronische Dokument kann von verschiedenen Stationen des Krankenhauses aus, beispielsweise dem Operationssaal, abgerufen werden. Darüber hinaus ist es mit dem Monitoring auf der Intensivstation verbunden und zeichnet physiologische Werte wie Blutdruck, Puls, Temperatur, etc. auf.

Über diese umfängliche Vernetzung wird laut Manzei auch ein Stück weit Kontrolle über das Handeln des medizinischen und pflegerischen Personals ausgeübt, das daraufhin sein Verhalten ändert. So werde der sozial eher geschlossene Raum der Intensivmedizin für gesellschaftliche und organisatorische Anforderungen von außen geöffnet und transparent gemacht, schreibt die Referentin in ihrem unveröffentlichten Vortragsskript. Gesundheitspolitische und betriebswirtschaftliche Anforderungen gelangten in Form ökonomischer und administrativer Standards unmittelbar an das Patientenbett. Manzei bezeichnet diese Normierung als "eminent politisch".

In den Intensivstationen werden international vereinheitlichte Scoring-Systeme (Punkt- bzw. Zählsysteme) eingesetzt, mit deren Hilfe Standards der medizinischen Entscheidung festgelegt und verbreitet werden. Beispielsweise werden im System APACHE (Acute Physiology and Chronic Health Evaluation) Daten zu Blutdruck, Beatmungszeit, Alter, Gewicht, Krankheitsverlauf, etc. miteinander verrechnet. Anhand des Ergebnisses würde dann entschieden, ob sich die Weiterbehandlung des Patienten lohne oder nicht, berichtete Manzei. Der TISS 28 Score (Therapeutic Intervention Scoring System), wiederum werde in der Pflege verwendet, wobei keineswegs sämtliche Arbeiten der Pflegekräfte berücksichtigt würden.

Demnach bestehen erhebliche Diskrepanzen zwischen dem, was gezählt (und damit vergütet) wird, und dem, was die Pflegenden tun, bzw. tun müssen (aber langfristig womöglich immer weniger zu tun bereit sein werden, wenn das nicht angemessen entgolten wird). Solche Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis werden vom Krankenhausmanagement womöglich nicht berücksichtigt. Manzeis Erfahrungen nach versuchen die Pflegenden dies meist durch das "freiwillige" Streichen ihnen eigentlich zustehender Pausen, Überstunden und allgemein Mehrarbeit auszugleichen. Da bleibt für die eigentliche Pflege der Patientinnen und Patienten immer weniger Zeit.

In der digitalen Patientenakte kulminieren unterschiedliche Interessen, die unter Umständen nur noch wenig mit dem realen Geschehen auf der Intensivstation zu tun haben. In ihrem Vortragsskript schreibt Manzei, Patientenakten würden, bevor sie eine Station verließen, vom Oberarzt hinsichtlich ökonomischer und juristischer Kriterien angepaßt. Ökonomisch, damit durch fehlende Dokumentation keine finanziellen Verluste entstehen, juristisch, damit die Diagnosen, therapeutischen Anordnungen und die Dokumentation nicht gegen international standardisierte Behandlungsnormen verstoßen.

Die informationstechnologische Übertragung ökonomischer Relevanzkriterien auf medizinische Standards erzeuge eine Realitätsebene eigener Art, resümiert Manzei. Diese sei zur Zeit nicht nur durchsetzungsmächtiger als andere Beschreibungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, sie beeinflusse sogar strukturell und tiefgehend das Wissen und Handeln des medizinischen und pflegerischen Personals und darüber das Krankheitserleben des Patienten.

Die von der Referentin am Beispiel der elektronischen Patientenakte eindrücklich veranschaulichte Ökonomisierung des Gesundheitswesen stellt nicht das Ende der Entwicklung dar. Mit der elektronischen Gesundheitskarte, kurz e-Card, die von den Gesetzlichen Krankenkassen bis Ende nächsten Jahres bundesweit eingeführt werden soll, werden in dem weltweit einmaligen Projekt dieser Größenordnung medizinische Datenbanken angelegt, die ein enormes Mißbrauchspotential bergen. Auf EU-Ebene wird bereits eine Vereinheitlichung nationaler Datenbanken zum Zwecke einer "Sekundärnutzung", beispielsweise zum Vorteil profitorientierter Forschungseinrichtungen und Pharmakonzerne, angestrebt. Die Möglichkeiten des Mißbrauchs medizinischer Datenbanken unter veränderten politischen Bedingungen, bei denen Datenschutz in Datennutz verkehrt wird, sind noch völlig unausgelotet. [2]

Die Digitalisierung der Patientenakten ist mit keiner Kostenersparnis einhergegangen, wie Manzei in ihrem Skript ausführt. Ähnliches gilt für die elektronische Gesundheitskarte, deren Kosten in die Höhe schießen. Laut der Website stoppt-die-e-card.de belaufen sie sich schon jetzt absehbar auf vierzehn Milliarden Euro, eine Summe, die der Behandlung fehle, lautet einer von zahlreichen Kritikpunkten an dieser Innovation.

Auch der Deutsche Ethikrat hat sich mit der Gesundheitsökonomie und den Folgen für die Behandlung befaßt. In der 2011 veröffentlichten Stellungnahme mit dem Titel "Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen - Zur normativen Funktion ihrer Bewertung" [3] schreiben die Ethikexperten, daß sich selbst in Deutschland "die Anzeichen für Qualitätseinbußen aus Gründen relativer Mittelknappheit in Bereichen der medizinischen Versorgung, aber auch in der ambulanten wie der stationären Pflege" (S. 7) mehren. In der Stellungnahme wird generell bestätigt, was Prof. Manzei im Detail anhand zweier Intensivstationen herausgearbeitet hat:

"Für den Bereich der Medizin hat die Gesundheitsökonomie international Standards der Kosten-Nutzen-Bewertung entwickelt, die nicht unumstritten sind. In Deutschland ist das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) seit 2007 per Gesetz beauftragt, auf der Grundlage international anerkannter Standards Kosten-Nutzen-Bewertungen zu erstellen. Diese sollen dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), der für die Bestimmung des Umfangs der Leistungen in der GKV [Anm. der SB-Redaktion: Gesetzliche Krankenversicherung] verantwortlich ist, als Empfehlungen dienen. Ob und wie derartige Bewertungen vorgenommen und gesundheitspolitisch umgesetzt werden sollten, ist aber keine wertfreie wirtschaftswissenschaftliche Entscheidung, sondern hat bedeutsame rechtliche und ethische Implikationen, insbesondere weil damit auch die Beschränkung medizinisch notwendiger Leistungen einhergehen kann. Die Bewertungen sind ökonomisch angelegt, in ihren Kalkülen und Modellen aber weit davon entfernt, politisch oder ethisch neutral zu sein. Ihre Umsetzung wirft weitreichende Fragen der Gerechtigkeit auf, die es zu bedenken gilt." (S. 8)

Die medizinischen und pflegerischen Akteure müßten Entscheidungen verantworten, die sie strukturell immer weniger entscheiden könnten, heißt es in Manzeis Vortragsskript. Die Referentin macht das am Beispiel eines Pflegedienstleisters fest, der die Entscheidung des Controllings zur Streichung von zwei Stellen akzeptiert, aber gefordert habe, daß die Pflegenden selber über Art und Weise der Kürzung entscheiden dürften. Das wurde von der Krankenhausleitung akzeptiert. Nicht ohne Stolz habe der Mann ihr von dem gemeinsam mit dem Personal getroffenen Beschluß berichtet, daß eine Schwester früher in Rente geht und drei Pflegekräfte Teilzeitarbeit aufnehmen.

Die Pflegekräfte hätten diesen Zwang freiwillig selbst bestimmt und mit dem Bewußtsein umgesetzt, tatsächlich Verantwortung tragen zu dürfen. Alle von ihr Befragten hätten die Zunahme an organisatorischer Entscheidungsverantwortung positiv bewertet, aber gleichzeitig von einem steigendem Druck, Kostenaspekte berücksichtigen zu müssen, gesprochen. Die Forscherin schlußfolgert aus ihrer Untersuchung, daß die Pflegekräfte nicht nur einem enormen Zwang ausgesetzt sind, sondern auch einen Freiraum haben. Der zeigt sich dem Vortrag zufolge nicht nur bei Personalentscheidungen, sondern auch in der Wahl zu entscheiden, wann sie bei ihrer Tätigkeit eine medizinische und wann eine ökonomische Argumentation nutzten, wann sie kulturell argumentierten oder wann sie sich als Deutsche mit historischem Bewußtsein, die auf Menschenrechte rekurrieren, verstünden. Die Möglichkeit, mit diesen "Rahmungen" auch spielen zu können und darin nicht vollständig verhaftet zu sein, ist für Manzei ein Ansatzpunkt zu sagen, daß da etwas ist, "was nicht in der Fremdbestimmung via Selbstbestimmungsdiskurs" aufgeht.

Diese Einschätzung blieb in der anschließenden Diskussion nicht unwidersprochen. Timmo Krüger, der an der Universität Leipzig eine Dissertation über internationale Klimapolitik schreibt und einen Kommentar zum Panel 2 "Technologien in/als Hegemoniebildung" gehalten hatte, veranschaulichte seine Skepsis am Beispiel einer anderen Regierungs"technik", wie er es formulierte: Die sächsische Polizei dürfe ein eigenes Konzept entwickeln, wie sie in zehn Jahren aufgestellt sein wolle, theoretisch könne sie sogar die Bereitschaftspolizei streichen. Aber vorgegeben seien 20 Prozent Einsparungen bei Personal und Kosten. Er wüßte nicht, wo da "das Spiel" sei.

Darin gab die Referentin ihm recht und räumte ein, daß der Zwang, dem das medizinische Personal ausgesetzt werde, umfassend sei, aber sie wiederholte in anderen Worten, daß da irgendwo noch "ein stückweit Freiheit", ein Moment "Widerständigkeit" wäre. Die Pflegenden hätten sich die Ökonomisierung zu eigen gemacht. Sie seien sich vollkommen bewußt, daß die in den Scoring-Systemen festgelegten Standards ihre Arbeit nicht abbildeten. Aber sie verträten die Ansicht, daß dadurch wenigstens gezeigt würde, daß sie überhaupt arbeiteten. Vorher habe man gar nicht registriert, wenn sie mit jemandem redeten oder ihn gesäubert hätten. Wenn jedoch der Arzt operiere, sähe man das und das werde dann abgerechnet.

Bei dieser Einschätzung der Referentin stellt sich dennoch die Frage, ob eine von oben zugewiesene Freiheit den unterstellten Anspruch erfüllt oder ob es nicht schon immer zum Repertoire von Herrschaftstechniken zählte, die Zügel hin und wieder etwas lockerer zu halten. Ein zugespitztes Beispiel soll dies verdeutlichen: Sind die Insassen des US-amerikanischen Gefangenenlagers Guantánamo auf Kuba "ein Stück weit" frei, weil ihnen ein Basketballplatz eingerichtet wurde, den sie - aber nur wenn sie Wohlverhalten zeigen - benutzen dürfen? Oder handelt es sich nicht vielmehr um ein disziplinarisches Mittel des für das Lager zuständigen US-Verteidigungsministeriums? Jemandem eine Eisenkugel ans Bein zu binden und ihn in irgendeinem Verließ verrecken zu lassen ist nicht in jedem Fall die höchste Form der Herrschaftspraxis. Solche drastischen Maßnahmen kann ein Burgherr vielleicht mit wenigen Menschen machen, aber nicht mit einem ganzen Volk.

Rückübertragen auf den Krankenhausbetrieb erscheint die vermeintliche Freiheit der höchst engen ökonomischen Zwängen ausgelieferten Pflegekräfte als Mittel einer - im übrigen in Managerkreisen gemeinhin bekannten und praktizierten - Form der Unternehmensführung. Menschen funktionieren nicht, wenn sie nur und ausschließlich drangsaliert werden. Vom Standpunkt der Kontrolle und Herrschaftssicherung aus ist es viel geschickter, sie in dem Glauben zu lassen, sie hätten eine Wahl. Die haben sie auch, aber, wie gesagt, es handelt sich um die Wahl des Arbeitspferdes, ob es lieber Getreide oder Gras frißt, um bei Kräften zu bleiben und fremdnützige Leistung zu erbringen. Pflegekräfte, die sich weigern, ihrem Arbeitgeber "aus der Hand zu fressen", um in diesem Bild zu bleiben, würden ruckzuck auf die Straße gesetzt. Dort befindet sich ein Heer von Ersatzarbeitskräften in gesellschaftlich organisierter Warteposition, um gegebenenfalls störrische Zeitgenossen zu ersetzen und ansonsten durch ihre bloße Existenz einen permanenten Leistungsdruck auf die Lohnarbeiter auszuüben.

Prof. Manzei beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

'Entfremdung, Enteignung ... wir können uns da nicht mehr affirmativ drauf beziehen, als hätte es die Subjektkritik der letzten dreißig, vierzig, fünfzig Jahre nicht gegeben. Das können wir nicht mehr - aber wir können es auch nicht lassen.' Foto: © 2012 by Schattenblick

Manzei, die sich auf die Kritische Theorie von Adorno, Horkheimer und Marcuse sowie Poststrukturalisten wie Foucault beruft, erklärte, daß sich die heutige Forschergeneration nicht mehr auf die Normen, von denen einst aus Kritik geübt worden sei - Stichworte seien Entfremdung oder auch Enteignung -, berufen könne, als hätte es die letzten dreißig, vierzig oder fünfzig Jahre keine Subjektkritik und keine Herrschaftskritik gegeben oder als sei der Klassenbegriff nicht dekonstruiert worden. Auf diese Normen könne man sich nicht mehr beziehen, aber man könne sie auch nicht unbeachtet lassen. So warf die Referentin schlußendlich die Frage auf, wie man sich auf einen Begriff wie Selbstbestimmung beziehen könne, ohne dem "vorauseilenden Gehorsamsdiskurs" anheimzufallen.

Hierzu ist zu sagen, daß sich Anspruch und Wirklichkeit nicht in Deckung bringen lassen, wenn die Anhänger der Kritischen Theorie behaupten, den Klassenwiderspruch dekonstruiert zu haben, gesellschaftliche Widersprüche aber für jedermann erkennbar geblieben sind und sich beispielsweise in Unterschieden von Einkommen und gesellschaftlichem Einfluß manifestieren. Jene Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit könnte man auch so verstehen, daß in den letzten dreißig, vierzig, fünfzig Jahren der vermeintlichen Dekonstruktion eher der theoretische Zugang zur Auflösung des gesellschaftlichen Widerspruchs denn der Widerspruch selbst dekonstruiert wurde.

Manzei versteht unter Dialektik, daß "Zwang und Freiheit" nicht mehr gegensätzlich sind, sondern zusammengedacht werden können. Damit postuliert die Referentin einen Gegensatz, um ihn anschließend wieder zusammenführen zu können. Unklar bleibt bei diesem Manöver, inwiefern Dialektik von Synthese unterschieden wird. Jedenfalls besteht das Ergebnis darin, daß gesellschaftliche Widersprüche harmonisiert werden: Der Zwang wird mit dem Freiheitsversprechen dotiert und bleibt als unhinterfragte Matrix der vorherrschenden Produktions- und Reproduktionsverhältnisse bestehen.

Sozialwissenschaft könnte sich auf diese Weise als hegemoniale Begleitforschung mit dem Resultat, daß die hierarchisch organisierte Gesellschaft stabilisiert wird, erweisen. Darin würde der Erforschung des Sozialen nur so lange Berechtigung zugestanden, wie niemand an den Grundfesten der Vergesellschaftung rüttelt. Zum Hofstaat der einstigen Könige zählten weise Ratgeber ebenso wie Narren. Vertreter beider Berufsgruppen durften es mit ihrer Kritik bzw. ihrem Spott am Herrscher nicht zu weit treiben, sonst fielen sie in Ungnade. In der heutigen, stark ausdifferenzierten, vielschichtigen Gesellschaft sind die vorherrschenden Kräfte nicht mehr so leicht zu identifizieren, aber es gibt sie selbstverständlich, und in Ungnade fallen können Menschen ebenfalls. Berufsverbot wäre ein Beispiel für politische "Ungnade" - die gesellschaftliche Ächtung mißliebiger Personen und Gruppen greift indes noch viel weiter.

Die Untersuchung Prof. Manzeis führt plastisch vor Augen, wie der sogenannte wissenschaftlich-technologische Fortschritt in Form der Informations- und Kommunikationstechnologien den Umgang der Ärzte und Pflegekräfte mit den Patienten stark verändert. Im gesamten Ablauf der medizinischen Behandlung tauchen diese anscheinend vor allem als eines auf, als Störfaktor, dem mit internationalen (und deswegen weniger leicht zu hinterfragenden) Standards sprichwörtlich zu Leibe gerückt wird. Wo Ärzte häufiger auf Monitore blicken als auf Patienten, schauen diese in die Röhre. Daß sie mitunter nicht wegen, sondern trotz dieser Entwicklung geheilt entlassen werden, hat vielleicht damit zu tun, daß lange Behandlungszeiten für Krankenhäuser ökonomisch nachteilig sind.

Indes bricht die von der Referentin beschriebene technologische Innovation der Krankenhauspraxis nicht plötzlich in das Gesundheitswesen ein, und bis zu dem Zeitpunkt wäre die Welt noch in Ordnung gewesen. Die digitale Patientenakte und ihre wahrscheinliche Einbettung in das System e-Card bildet den vorläufigen Höhepunkt biopolitischer und -medizinischer Maßnahmen zur vollständigen Verfügbarmachung des Menschen. Denkt man an die "Bedürfnisse" der Transplantationsmedizin, so wird schnell klar, daß der Anspruch vermeintlich höherer Instanzen von Staat und Gesellschaft weit über das Abpressen von Leistungen in fremdbestimmten Arbeitsverhältnissen hinausgeht. Es ist die Physis, das nackte Leben, das die Begehrlichkeiten weckt - und es ist der technische Fortschritt, der hierfür immer tiefere Zugriffsoptionen erfindet und den Machthabern in die Hände gibt. Die digitale Patientenakte leistet der Standardisierung der Behandlung und dem standardisierten Ergebnis Vorschub. Am Ende könnte ein Mensch dabei herauskommen, der die Normierungen unumstößlich verinnerlicht hat, so daß sie ihm gleichsam als Folge evolutionären Wandels sprichwörtlich in den Leib geschrieben sind. Ein solcher Mensch hätte womöglich nicht mal mehr den Begriff für etwas, das Alexandra Manzei als nicht dem "absoluten Zwang", der "Durchökonomisierung bis ins Letzte" Unterworfenes bezeichnet.


Fußnoten:

[1]‍ ‍Die Frühjahrstagung der Sektion "Wissenschafts- und Technikforschung" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), des Arbeitskreises "Politik, Wissenschaft und Technik" der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) und der Arbeitsgruppe Arbeit-Gender-Technik der TU Hamburg-Harburg (TUHH) fand am 23./24. März 2012 an der TUHH unter dem Titel "(Un-)Sicherheit, (Bio-)Macht und (Cyber-)Kämpfe: Kritische Theorieperspektiven auf Technologien als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung" statt.

[2]‍ ‍Ausführliche Informationen und kritische Einschätzungen zur elektronischen Gesundheitskarte (e-Card) :

BERICHT/010: Das System e-Card - Optimierter Zugriff auf die Ressource Mensch (SB)
Medizinqualität statt e-Card Bürokratie - zu Risiken und Nebenwirkungen der "Elektronischen Gesundheitskarte"
http://schattenblick.com/infopool/medizin/report/m0rb0010.html

INTERVIEW/010: Das System e-Card - Wolfgang Linder kritisiert mangelnden Datenschutz (SB)
Interview mit Wolfgang Linder, ehemaliger Datenschutzreferent der Stadt Bremen, am 18. April 2012 in Berlin
http://schattenblick.com/infopool/medizin/report/m0ri0010.html

INTERVIEW/011: Das System e-Card - Kathrin Vogler, Bundestagsabgeordnete Partei Die Linke (SB)
Gegen den Ausverkauf des Gesundheitswesens, für Patientenautonomie
http://schattenblick.com/infopool/medizin/report/m0ri0011.html

[3] http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-nutzen-und-kosten-im-gesundheitswesen.pdf

8.‍ ‍Mai 2012