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BERICHT/014: Quo vadis Sozialarbeit? - Fürsorge und Menschenrecht (SB)


Der Angriff auf den Sozialstaat trifft auch den Berufsstand der Sozialen Arbeit

Impulsreferat des Armutsforschers Christoph Butterwegge auf dem Bundeskongress Soziale Arbeit 2012

Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Christoph Butterwegge
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Armut in Deutschland, einem der reichsten Industriestaaten der Welt? Wenn überhaupt, so könnte man meinen, wird es sich dabei nur um ein randständiges Problem bzw. ein Problem Randständiger handeln. Ein solch fehlgeleiteter, aber im Interesse herrschender Eliten liegender Eindruck wird nicht selten in den großen Medien kolportiert. So hieß es beispielsweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung [1]:

Die Deutschen insgesamt werden immer reicher. Das private Nettovermögen hat sich von Anfang 1992 bis Anfang 2012 mehr als verdoppelt, berichtet die "Süddeutsche Zeitung" unter Berufung auf den Entwurf des Arbeitsministeriums für den vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: und zwar von knapp 4,6 Billionen auf rund zehn Billionen Euro. Zugleich sei das Nettovermögen des Staates um 800 Milliarden Euro zurückgegangen. (...)
Den vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte gehört demnach mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens. Der Anteil des obersten Zehntels sei dabei "im Zeitverlauf immer weiter gestiegen". 1998 belief er sich laut den amtlichen Zahlen auf 45 Prozent, 2008 befand sich in den Händen dieser Gruppe der reichsten Haushalte bereits mehr als 53 Prozent des Nettogesamtvermögens. Die untere Hälfte der Haushalte verfüge über nur gut ein Prozent des gesamten Nettovermögens, heißt es in dem Bericht weiter.

Derartigen Vorabveröffentlichungen über den alljährlich erstellten Regierungsbericht über Armut und Reichtum im Lande ist allerdings nicht zu entnehmen, wie es sich denn leben läßt am unteren Rand einer so "reichen" Gesellschaft wie der bundesdeutschen, aber auch in deren Bauch, sprich einer Mittelschicht, die mehr und mehr von Armut und einer Mangelversorgung betroffen ist, von der sie sich lange Zeit freigehalten wähnte. Armut in ihrem tatsächlichen Ausmaß zu konstatieren und dabei nicht auszulassen oder auch nur klein- oder schönzureden, unter welchen Belastungen und Entbehrungen Alltagsbewältigung und Lebensgestaltung in vielen Familien, bei Alleinerziehenden und -stehenden heute bewerkstelligt werden müssen, ist ein Thema, mit dem sich keine Bundes- noch Landesregierung bei ihrem Wahlvolk beliebt machen kann. Jüngstes Beispiel für das Bestreben, die oftmals als "verdeckt" oder "versteckt" bezeichnete Armut zu ignorieren oder als eine in eher ferner Zukunft möglicherweise eintretende Entwicklung zu apostrophieren, ist Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, die vor einem "steigenden Altersarmutsrisiko" bis 2030 infolge der Absenkung des Rentenniveaus von 51 auf 43 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns warnte und dazu erklärte, viele Menschen realisierten nicht, "daß sie zwingend eine zusätzliche Altersvorsorge brauchen, um der Armutsfalle im Rentenalter zu entkommen" [2].

Blick aufs gutgefüllte Audimax mit Podium und Begrüßungstafel 'Herzlich Willkommen' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Großes Interesse am Thema Soziale Arbeit im Hamburger Audimax
Foto: © 2012 by Schattenblick

Auf dem 8. Bundeskongress Soziale Arbeit, der vom 13. bis 15. September in Hamburg unter dem Titel "Politik der Sozialen Arbeit - Politik des Sozialen" stattfand, nahm dieses Thema selbstverständlich einen großen Stellenwert ein, berührt es doch das zentrale Anliegen aller Kongreßbeteiligten, nämlich "das Soziale" gegen seine zunehmende Vereinnahmung durch "die Ökonomie" zu verteidigen, wovon nicht nur die sozialen Verhältnisse in Deutschland, sondern auch die Soziale Arbeit selbst inklusive der in ihr Tätigen unmittelbar betroffen sind. Mit Prof. Dr. Christoph Butterwegge von der Universität Köln konnte für das erste von insgesamt drei Impulsreferaten für die Eröffnungsveranstaltung ein Referent gewonnen werden, der ebenso sachkompetent wie engagiert zum Thema Stellung nahm. Wie sehr er dabei den Anwesenden im gutgefüllten Audimax der Universität Hamburg, bei denen es sich gleichermaßen um Praktizierende wie wissenschaftlich Tätige im weiten Feld der Sozialen Arbeit gehandelt hat, aus dem Herzen gesprochen haben muß, ließ sich schon daran ablesen, daß in vielen weiteren Vorträgen, Workshops, Arbeitsgruppen und Diskussionen auf sein Referat Bezug genommen wurde und oft zu hören war, "wie Butterwegge schon sagte".

Der Referent eröffnete seinen Vortrag zum Thema "Armut als Herausforderung für den Wohltätigkeitsstaat" mit einer grundsätzlichen Stellungnahme zur Lage der Sozialen Arbeit, deren Professionalisierung nicht zwangsläufig mit einer Entpolitisierung einhergehen müsse. Er schrieb dem Berufsstand ins Stammbuch, als Profession nicht abseits stehen zu dürfen, sondern in die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse, in die sie wie auch der Sozialstaat und die sozialpolitischen Diskurse ohnehin eingebunden seien, eingreifen zu müssen. Aus dem Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat werde zunehmend ein "nationaler Wettbewerbsstaat", wie ihn die Politikwissenschaftler Joachim Hirsch und Elmar Altvater bezeichnet hatten. Butterwegge brachte diese Entwicklung mit den Worten, "das Soziale wird immer mehr dem Ökonomischen untergeordnet", auf den Punkt und erinnerte daran, daß das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz in Art. 20 und 28 verankert ist, weshalb die Bundesrepublik verpflichtet sei, sozial Benachteiligten zu helfen, völlig unabhängig davon, ob dies nun dem Wirtschaftsstandort Deutschland nütze oder nicht.

Der Referent während seines Vortrags - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die soziale Frage zugespitzt präsentiert
Foto: © 2012 by Schattenblick

Über ein Jahrhundert hinweg hatte der Sozialstaat die Aufgabe, die Kollateralschäden des kapitalistischen Wirtschaftens zu lindern und zu heilen, was Konkurrenzverhältnisse angerichtet hatten. Nun werde der Sozialstaat selbst in diese Konkurrenz hineingezogen bzw. würden Marktbeziehungen in ihn hineingetragen. Im Zuge der neoliberalen Modernisierung sei so ein Minimalstaat entstanden, in dem soziale Leistungen gekürzt, deren Anspruchsvoraussetzungen verschärft sowie der gegen die Betroffenen in Stellung gebrachte Kontrolldruck intensiviert werden. Entgegen dem grundgesetzlichen Auftrag sind soziale Ausgrenzung und Armut zur gesellschaftlichen Normalität durch eine Regierungspolitik geworden, die darauf abziele, mehr Armut, aber auch mehr Reichtum zu schaffen. Aus dem Bismarckschen Sozialversicherungsstaat werde mehr und mehr "ein Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat", so eine der zentralen Thesen des Referenten.

Die Einführung der "aktivierenden Arbeitsmarktpolitik" durch Hartz IV nach dem Motto "Fördern und Fordern" stelle in diesem Zusammenhang eine fundamentale Veränderung dar, weil nun staatliche Leistungen an Gegenleistungen geknüpft werden und die Bedarfsgerechtigkeit, die sich zuvor daran orientiert habe, ob ein Mensch staatlicher Unterstützung bedarf, durch eine Leistungsberechtigung ersetzt worden sei. Um zu verdeutlichen, wie sehr dieser Dammbruch politisch gewollt ist, zitierte Butterwegge den möglichen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, der 2003 in einem Beitrag für "Die Zeit" geschrieben hatte [3]:

Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die - und nur um sie - muss sich Politik kümmern.

Dies sei, so der Referent unter dem Beifall der Zuhörenden, "ein Fall für den Verfassungsschutz". Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in arm und reich mache sich auch in einer Spaltung des Wohlfahrtsstaates bemerkbar. Diejenigen, die es sich leisten können, kauften sich auf dem Wohlfahrtsmarkt soziale Sicherheit, während alle übrigen auf den Wohltätigkeitsstaat, sprich private Wohltätigkeit, angewiesen seien. So werde in den Job-Centern schon heute Hartz-IV- Betroffenen, die mit dem Geld nicht auskommen können, erklärt: "Gehen Sie doch zur Tafel!"

Ein nachdenklicher Referent - Foto: © 2012 by Schattenblick

Streiter wider den Sozialabbau
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Doch Butterwegge zeigte in seinem Kongreßreferat nicht nur auf, daß in Deutschland Armut und Reichtum anwachsen, sondern stellte klar, daß dies funktional und gewollt sei. So bezeichnete er Armut als eine Drohkulisse, weil sie den Menschen unmißverständlich klar mache, was ihnen blühe, wenn sie sich nicht den Anforderungen dieser Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft unterwerfen. Im Extremfall unter den Brücken zu landen, sei ein Disziplinierungsinstrument auch all derjenigen, die (noch) nicht arm sind, weil ihnen die Folgen unangepaßten Verhaltens drastisch vor Augen geführt werden. Butterwegges Fazit lautete insofern folgerichtig, daß Armut und Reichtum etwas Systemstabilisierendes hätten.

Er belegte die Diskrepanz zwischen Armut und Reichtum in der Bundesrepublik Deutschland anhand einiger exemplarischer Fakten. Als "wirklichen Reichtum, den es in unserer Gesellschaft gibt", bezeichnete er das auf 43,2 Milliarden Euro bezifferte Privatvermögen der reichsten Familie des Landes, nämlich der Aldi-Gründer Karl und Theo Albrecht, während die zweitreichste Familie Quandt/Klatten in diesem Frühjahr allein aus ihren BMW-Aktien einen Dividendenerlös von 650 Millionen Euro erzielt hätte. Die Armut, die heute schon - und nicht erst 2030! - in Deutschland besteht, zeige sich unter anderem daran, daß 412.000 Menschen die Grundsicherung im Alter bezögen, was bereits 60 Prozent mehr sind als im Jahre ihrer Einführung (2003). 760.000 Menschen im Rentenalter arbeiteten in sogenannten Minijobs, um ihre dürftigen Bezüge aufzubessern. Der Armutsforscher merkte dazu an, daß die Zahlen über das tatsächlich Ausmaß der (Alters-) Armut vermutlich weitaus höher liegen würden, könnte man all die Menschen mitberücksichtigen, die - aus welchen Gründen auch immer - den Weg zum Sozialamt scheuten.

Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in arm und reich mache sich aber auch in einer sozialräumlichen Polarisierung der Städte bemerkbar, die auseinanderfallen in Luxusquartiere und soziale Brennpunkte, herablassend auch als "Stadtteile mit besonderem Erneuerungs- und Entwicklungsbedarf" bezeichnet, was enorme Auswirkungen in den unterschiedlichsten Bereichen, so etwa in der Drogenproblematik, in der Brutalität auf den Straßen und ganz generell der Kriminalität, aufweise. Der Referent bewertete diese Entwicklung der Spaltung einer ganzen Gesellschaft in "oben" und "unten" als Folge einer US-Amerikanisierung von Sozialstaat und Sozialstruktur, aber auch der politischen Kultur, was damit einhergehe, daß inzwischen bis in die sogenannte Mitte der Gesellschaft hinein Armut als normal gelte. Noch in den 1970er Jahren sei es undenkbar gewesen, daß - wie heute - Armut als Bestrafung für mangelnden Leistungswillen angesehen werde, weil man "faul in der Hängematte des Sozialstaats" gelegen hätte.

Prof. Butterwegge am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Für mehr Engagement der Sozialen Arbeit
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Am Ende seines Vortrages stellte Butterwegge seinen Zuhörern die rhetorische Frage, ob sie es denn nicht - wie er - als ein Paradox empfinden würden, daß zwar die Armut als normal gelte, nicht jedoch die Armen, denen vorgeworfen werde, irgendwie selbst schuld zu sein, und die nach Kräften gegeneinander ausgespielt werden. Abschließend zog der Referent noch einmal den Bogen zur Sozialen Arbeit, die seiner Meinung nach in diesem Spannungsfeld eine wichtige Aufgabe hätte, nämlich aufzuklären, Bewußtsein zu erzeugen und Partei zu ergreifen. Täte sie dies nicht, so seine Warnung und Prophezeiung, werde sie "wie die Armen mehr und mehr an den Rand der Gesellschaft gedrückt", weil dann die Frage, "ob sie sich rechnet", auch über ihr Schicksal entscheide. Diese beunruhigende Analyse mündete in einen beschwörenden Appell an das Sozialstaatsprinzip, das Butterwegge zufolge wie auch die der Unantastbarkeit der Würde des Menschen gewidmete Fundamentalnorm des Grundgesetzes maßgeblich sein müsse. Es ist schon bedauerlich, daß Dinge, derer wir uns als sozialstaatliche Errungenschaften sicher wähnten, plötzlich wieder an die Spitze notwendiger Forderungen treten.

Der letzte, an die Soziale Arbeit direkt gerichtete Appell des Referenten, die vorherrschende Entwicklung sehr viel lauter und stärker als bisher sowie im Zusammenschluß mit Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und globalisierungskritischen Organisationen wie Attac in Frage zu stellen und rückgängig zu machen, wurde mit langanhaltendem Applaus der im Audimax anwesenden Angehörigen dieser Berufs- oder auch Berufungsgruppe quittiert. Wer mag da noch einwenden, daß es mit der Beschwörung des Sozialstaats möglicherweise nicht getan ist? Hätte dieses im Grundgesetz von 1949 verankerte Prinzip die soziale Bindekraft und Wirkmächtigkeit, die sich viele Menschen gerade heute von ihm erhoffen, wäre die faktische Aushöhlung des Sozialstaats mit all ihren heute schon feststellbaren Folgen, die längst auch die helfenden, an der Armut partizipierenden und ihre administrative Abwicklung mitvollziehenden Berufsgruppen erfaßt haben, nicht möglich gewesen.

Fußnoten:
[1] Armuts- und Reichtumsbericht. Die Deutschen werden immer reicher. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.09.2012
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/armuts-und-reichtumsbericht-die-deutschen-werden-immer-reicher-11894107.html

[2] Brandbrief. Von der Leyen - "Altersarmut droht schon bei 2500 brutto", Welt online, 02.09.2012,
http://www.welt.de/wirtschaft/article108923109/Von-der-Leyen-Altersarmut-droht-schon-bei-2500-brutto.html

[3] Gerechtigkeit - Etwas mehr Dynamik, bitte. Beitrag von Peer Steinbrück in Die Zeit Nr. 47, 13.11.2003,
http://www.zeit.de/2003/47/Steinbr_9fck/komplettansicht

Im Foyer des Audimax - Transparent mit der Aufschrift '8. Bundeskongress Soziale Arbeit 2012' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gespannte Erwartung am Eröffnungstag des Kongresses
Foto: © 2012 by Schattenblick

27. September 2012