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BERICHT/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Adressat verzogen (SB)


Proteste gegen Hamburger Sozialkürzungen auf dem Bundeskongress Soziale Arbeit


Protestierende mit Transparenten im Audimax - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hamburger Sozialarbeitende im Protest
Foto: © 2012 by Schattenblick

Eine junge Frau wird Mutter. Wenngleich sie selbst noch gar nicht weiß, was sie mit ihrem Leben eigentlich anfangen will, nimmt sie das Kind an und freut sich darauf, auch ohne festen Lebenspartner von nun an für zwei zu sorgen. Und doch steht sie vor großen Problemen, die die für sie vollkommen unerwartete Situation mit sich bringt, zumal sie ohnehin in finanziellen Nöten steckt. Doch was tun? Zum Jugendamt gehen? Die junge Frau zögert, denn sie hat Angst, daß ihr der Kleine, wenn sie erst einmal offenlegt, wie groß ihre Schwierigkeiten wirklich sind, weggenommen wird. Was immer sie der Behörde erzählt, kann sie hinterher nicht wieder rückgängig machen.

Dieses fiktive Szenario charakterisiert das Dilemma der sozialen Arbeit im Spagat zwischen konkreter Unterstützung und Beratung für Menschen in schwierigen Lebenslagen auf der einen und der Ausführung staatlicher Kontrollfunktionen und exekutiver Interventionsmaßnahmen auf der anderen Seite. Dieses Dilemma oder vielmehr Trilemma, da in der Sozialen Arbeit nicht nur zwei, sondern drei Komponenten in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, ist dieser noch jungen Wissenschaftsdisziplin, die die traditionellen Fachrichtungen Sozialpädagogik und Sozialarbeit sowie die dazugehörigen Berufsgruppen in sich vereint, immanent, nehmen doch Sozialarbeitende wie auch Sozialarbeitswissenschaftler für sich ein dreifaches Mandat, nämlich das der sogenannten "Klienten", den staatlichen Auftrag sowie den Kodex der eigenen Profession, in Anspruch.

Auf dem Bundeskongress Soziale Arbeit, der vom 13. bis 15. September 2012 in Hamburg stattfand, war dieses für Berufsstand und Wissenschaft zentrale und das Selbstverständnis sozial arbeitender Menschen berührende Thema in Veranstaltungen, Workshops und Gesprächen in vielfältiger Weise präsent. Es wurde aber auch von außen in die Veranstaltung hineingetragen durch den von vielen Kongreßbeteiligten geteilten Protest Hamburger Sozialarbeitender gegen die in der Hansestadt beschlossenen Kürzungen im Bereich der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Das Spannungsfeld zwischen staatlichen Kontrollfunktionen und solidarischer Unterstützung, verstanden als Hilfe zur Selbsthilfe, tritt in der Offenen Sozialarbeit seit jeher besonders deutlich zu Tage, wird hier doch der Versuch unternommen, sich in diesem Zielvorgabenkonflikt weitgehend auf die Seite der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu stellen. Daß das Dilemma nicht wirklich aufhebbar ist, solange die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die ein derartiges Krisenbewältigungsmanagement erst begründet haben, nicht verändert werden, kann den Akteuren dieser von freien Trägern organisierten Sozialarbeit nicht angelastet werden.

Die Kürzungen seien nötig, um die Steigerung des Etats der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) an die Schuldenbremse anzupassen, hatte Behördensprecher Oliver Klessmann seinerzeit erklärt [1]. Längst regen sich Proteste gegen die bevorstehenden Sozialkürzungen. Der Hamburger Senat wurde aufgefordert, die Entscheidungen in vollem Umfang zurückzunehmen und stattdessen für eine nachhaltige und verbindliche Absicherung gerade auch der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu sorgen. Allein, die Mahnungen und Warnungen stießen bislang auf taube (Senats-) Ohren, woran auch die Stellungnahme des Hamburger Landesverbandes des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit e.V. offensichtlich nichts zu ändern vermochte. Dieser hatte am 28. März 2012 erklärt, daß die Stadt Hamburg zwar so tue, "als ob es ihr Anliegen wäre, sozialräumliche Angebote auszuweiten", doch die Realität sähe so aus, daß "immer wieder kulturelle Zentren oder Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit geschlossen werden, da die Finanzierung bzw. Unterstützung seitens der Stadt eingestellt wird." [2]

Senator Scheele am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Detlef Scheele, Senator der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration
Foto: © 2012 by Schattenblick

Es liegt auf der Hand, daß der "Hamburger" Konflikt stellvertretend steht für die in der gesamten Bundesrepublik feststellbare Entwicklung, das Soziale zurückzuschrauben zugunsten einer nach neoliberalen Gesichtspunkten ausgerichteten Forderungs- und Förderungspolitik, die allein den gesellschaftlichen Verwertungs- und Verfügungsinteressen zweckdienlich ist. Detlef Scheele, Senator der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, nutzte auf der Eröffnungsveranstaltung des Kongresses die Gelegenheit, die in die Kritik geratene Hamburger Kürzungspolitik vor sachkundigem Publikum darzustellen und zu begründen. Seine Argumentation unterschied sich im Kern durch nichts von den Versuchen der Regierungen krisengeplagter Länder wie Griechenland oder Spanien, durch eine mit leeren Kassen, hohen Schulden und Zinszahlungspflichten scheinbegründete Sachzwangslogik den Raubbau an Sozialstaat, sozialen Leistungen und Hilfen zu rechtfertigen.

Als Senator Scheele erklärte, der Hamburger Senat wolle die volle Handlungsfähigkeit in der Haushaltsgestaltung wiedererlangen, um die Gelder für die Menschen und nicht für die Anleger ausgeben zu können, wurde er durch Pfiffe und Zwischenrufe unterbrochen. Nachdem er sich hilfesuchend an die Mitorganisatorin des Kongresses, Prof. Dr. Marion Panitzsch-Wiebe von der HAW Hamburg, gewandt hatte, schloß diese sich der Kritik an den Sozialkürzungen an, plädierte jedoch ganz im Sinne des Anspruchs des Kongresses, alle Beteiligten und Betroffenen sollten zu Wort kommen, dafür, den Senator ausreden zu lassen. Daraufhin legte dieser dar, daß der Senat einen deutlichen Schwerpunkt auf Chancengleichheit und -gerechtigkeit gelegt habe.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Timm Kunstreich, Prof. Dr. Marion Panitzsch-Wiebe, Senator Detlef Scheele (v.l.n.r.)
Foto: © 2012 by Schattenblick

Was sich dahinter verbirgt, wurde alsbald deutlich, da der Politiker klarstellte, daß seiner Meinung nach so früh wie möglich interveniert werden müsse, "wenn Kinder in ein großes Unglück hineingeboren" werden. Erklärungen dieser Art offenbaren die politische Kapitulation vor den sozialen Aufgaben, da nicht die Armut oder eine sonstige mißliche Lage betroffener Familien als Ansatzpunkt sozialpolitischer Maßnahmen angesehen, sondern die Eltern in bezichtigender und stigmatisierender Weise als Quell frühkindlicher Entwicklungsdefizite identifiziert werden. "Wir kennen die Familien", so Hamburgs Sozialsenator.

Um eine Rundum-Überwachung der insofern vorgeblich durch die eigenen Eltern "bedrohten" Kinder und ihrer zur sozialen Randständigkeit verurteilten Familien zu gewährleisten, soll in Hamburg schon in den Geburtskliniken von Ärzten und Schwestern auf alleinstehende Mütter geachtet werden, die mit ihren Kindern absehbar nicht zurechtkämen. Nach den Vorstellungen der Sozialbehörde sollen Familienhebammen und -teams ein Jahr lang an ihnen "dranbleiben" und auch gleich eine Verbindung zur Jugendhilfe herstellen, damit rechtzeitig interveniert werden könne. Zum Hilfesystem des Staates solle auch gehören, daß schon die Allerkleinsten - Senator Scheele sprach hier von "Kindern aus solchen Familien" - in die Kinderkrippe kämen. Zum 1. August dieses Jahres hat Hamburg einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz schon ab 2 Jahren - ein Jahr früher als im Bund - geschaffen. Nicht ohne Stolz kündigte der Sozialsenator an, daß ab dem kommenden Jahr in der Hansestadt für 50 Prozent aller 1-2jährigen sowie für 75 Prozent der 2-3jährigen Krippenplätze zur Verfügung stehen werden.

Ganz offensichtlich stehen diesen Neuerungen keine finanziellen Schwierigkeiten entgegen, dabei ächzt Hamburg, wie zu hören war, als es um die umstrittenen Kürzungen im Bereich der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ging, unter Schuldenberg und Zinslast. Durch Krippenplätze und umfassende Angebote in Kindertagesstätten soll eine "frühkindliche Bildung" realisiert werden zu dem Zweck, den monokausal den Elternhäusern zugeschriebenen Defiziten entgegenzuwirken. Für die Eltern scheint sich ein solcher Einsatz nicht mehr zu lohnen. Stellvertretend für den Hamburger Senat beschwor Scheele zur Letztbegründung der umstrittenen Sozialpolitik ein "schreckliches System", das in Deutschland so prägend sei wie in kaum einem anderen europäischen Land, nämlich, daß die Herkunft über die Chancen der Kinder entscheide. Dies zu durchbrechen, sei die Aufgabe gut ausgestatteter Krippen und Kitas.

Unerwähnt blieb dabei, daß Maßnahmen zur Verbesserung der Gleichheit etwaiger "Chancen" eine soziale Realität festschreiben und fortsetzen, in der Menschen gegeneinander um die wenigen Sonnenplätze im Leben konkurrieren zu müssen glauben, wodurch sie zum großen Nutzen herrschender Verhältnisse gegeneinander ausgespielt werden können in einem ewigen "Hauen und Stechen", in das nun schon auch die Allerkleinsten einbezogen werden sollen.

Dem Schattenblick bot sich die Gelegenheit, in Gesprächen mit einigen der Hamburger Sozialarbeitenden [3] in Erfahrung zu bringen, was sie zu ihrer Protestaktion veranlaßt hatte.

Protestierende mit Transparent 'Abschied vom Sozialstaat' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Sozialstaat - ein leeres Versprechen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Fußnoten:
[1] Sparen im Sozial-Etat. Erziehungshilfe leicht gemacht. Von Kaija Kutter, taz, 16.02.2012,
http://www.taz.de/!87907/

[2] Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V., Landesverband Hamburg, 28. März 2012,
http://dbsh-hamburg.de/2012/03/stellungnahme-zur-aktuellen-jugendpolitik-in-der-stadt-hamburg/

[3] Siehe Schattenblick → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:
INTERVIEW/005: Quo vadis Sozialarbeit? - Sparen, kürzen und ersticken ... (SB) www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0015.html

3. Oktober 2012