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BERICHT/023: Quo vadis Sozialarbeit? - Kopflast (SB)


Vorwärts zu den Wurzeln sozialer Emanzipation

Workshop des Bundeskongresses Soziale Arbeit am 14. September 2012



Konsultiert man die jüngste Definition Sozialer Arbeit des Internationalen Berufsverbands IFSW (International Federation of Social Workers), dann wird man mit einem hohen ethischen Anspruch konfrontiert: "Die Profession der Sozialen Arbeit bewirkt sozialen Wandel, löst Probleme in menschlichen Beziehungen und [widmet sich] der Ermächtigung und Befreiung von Menschen, um mehr Wohlbefinden zu erzeugen" (1). Sie beruft sich darauf, aus "humanitären und demokratischen Idealen erwachsen zu sein", und ist an Werten orientiert, die "auf Respekt für die Gleichheit, den Wert und die Würde aller Menschen" basieren. Auch in den weiteren Zeilen dieser im Juli 2000 verabschiedeten Definition des Berufsstandes bleibt das zentrale Problem des idealistischen karitativen Anliegens unerwähnt. Sozialarbeiter sind ebensowenig "Change agents" (1) wie andere Berufe auf dem Feld sozialer Widerspruchsregulation, sie unterliegen selbst dem Tauschwert, der alle gesellschaftlichen Verhältnisse reguliert, sie sind selbst vom Warencharakter sozialer Beziehungen betroffen.

Indem sie in ihrem Beruf daran beteiligt sind, die Schäden und die Verluste zu beheben, die der kapitalistische Normalbetrieb Menschen zufügt, die ihm nichts als Kosten- und Nutzenfaktoren im Rahmen betriebswirtschaftlicher Kalkulationen sind, leiden sie je nach persönlicher Motivlage mehr oder weniger an der Ambivalenz aus gesellschaftlicher Destruktivität und individueller Rettung. Wenn nicht einmal die rasante Produktivkraftentwicklung der letzten 200 Jahre in der Lage ist, das Gros der Menschen aus materieller Not und geistiger Unmündigkeit zu befreien, sondern immer deutlicher wird, daß die kapitalistische Reichtumsproduktion die sozialen Probleme nur noch vergrößert, dann kann auch der Euphemismus der sozialen Marktwirtschaft nicht die Hoffnung auf einen Sozialstaat nähren, der die sozialen Kosten anwachsender Produktivität begliche.

Es gilt die Devise "Gewinne privatisieren, Kosten sozialisieren". Die soziale Legitimation der neoliberalen Doktrin, für die Bedürftigen werde immer genug vom Tisch der Satten abfallen, war stets unverhohlener Ausdruck sozialdarwinistischer Verächtlichkeit und erfüllt seinen Anspruch in der Krise immer weniger. Die in die Klemme des der Mehrwertabschöpfung geschuldeten Mißverhältnisses aus Produktion und Konsumption geratene Marktwirtschaft bedient sich des Mangels an Lebensressourcen allerdings auch, um die Menschen beherrschbar und durch fremdbestimmte Arbeit verwertbar machen zu können. In diesem Kontext sind die mit den Praktikerinnen im Feld der Sozialen Arbeit befaßten Wissenschaften an der herrschenden Widerspruchsregulation aus höherer Warte beteiligt, indem sie den Baukasten der eingesetzten Methoden verwalten und neue Instrumente sozialer Befriedung entwickeln. Sie befinden sich zwar in größerer Distanz zu den Bruchlinien und Reibungsverlusten gesellschaftlicher Widerspruchslagen, können aus dieser aber auch Einfluß geltend machen, der sich schlicht über die Autorität ihrer fachlichen Expertise vermittelt.

Unter den zahlreichen Workshops, an denen die Besucherinnen und Besucher des 8. Bundeskongresses Soziale Arbeit in Hamburg teilnehmen konnten, stach das Angebot eines Kreises kritischer Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler von der Evangelischen Hochschule Darmstadt (EFHD) mit dem Anspruch hervor, "Zur Notwendigkeit einer kritischen Positionierung in den Forschungspraktiken und der Theoriebildung Sozialer Arbeit" zu sprechen. Roland Anhorn, Kerstin Rathgeb, Elke Schimpf und Johannes Stehr stießen eine Diskussion an, die Forschung wie Praxis mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen der eigenen Arbeit konfrontiert:

"Um die gesellschaftlichen Widersprüche als Konfliktverhältnisse fassen zu können, ist in der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Situation sowohl die Theorie Sozialer Arbeit als auch die Forschung in der Sozialen Arbeit herausgefordert, begriffliche Werkzeuge wie auch Forschungsperspektiven und -zugänge zu entwickeln, die die eigene Position und das eigene - professionelle - Handeln daraufhin befragen, inwieweit und wodurch Soziale Arbeit an der Herstellung 'neoliberaler Ordnung' beteiligt ist und welche Widersprüche und Konflikte auch Möglichkeiten für Emanzipation und Partizipation bieten." [2]
Folie der ReferentInnen - Foto: 2012 by Schattenblick

Legitimationsbedarf herausgefordert
Foto: 2012 by Schattenblick

Einleitend nennt die Diplompädagogin und Soziologin Prof. Dr. Kerstin Rathgeb zwei wesentliche Herausforderungen für eine gesellschaftlich vermittelte und damit auch herrschaftskritische Forschung zur Sozialen Arbeit. Zum einen sei sie ihrerseits in ungleiche Verhältnisse und Konfliktlagen verstrickt, zum andern wirke sich das auch auf die Art und Weise aus, wie in den spezifischen Konfliktenlagen Wissen produziert und Begriffe konstruiert würden. Dabei könne Kritik nur entwickelt werden, wenn sie nicht an Verwertungswissen gebunden sei, sprich selbst in die Zwänge und Notwendigkeiten verstrickt ist, die in kritischen Augenschein zu nehmen wären. Dies sei nicht zuletzt Ergebnis der finanziellen Bemittelung, an der die hegemoniale Forschung ausgerichtet sei.

Diese könne man anhand zweier Theoriestränge darstellen. Das fundamentale Postulat einer ordnungsorientierten Wissensperspektive bestehe, frei nach der staatstheoretischen Schrift "Leviathan" von Thomas Hobbes, darin, daß der Mensch der Zähmung, der Veredelung bedarf, um aus dem Naturzustand ungezügelter Wildheit herauszutreten. Dementsprechend würden alle Handlungen gegen die im Gesellschaftsvertrag verankerte Ordnung als Bedrohung wahrgenommen und sanktioniert. Dem vertikalen Charakter einer gesellschaftlichen Organisation, in der der Mensch sein Selbstbestimmungsrecht dem größeren Ganzen zur gesetzlichen und moralischen Zügelung unterwirft, um den Krieg aller gegen alle zu beenden, gegenüber favorisiert die konsenstheoretische Perspektive eine horizontale Betrachtungsweise der Gesellschaft. In diesem Konzept ist der Mensch in arbeitsteilige Kooperationsverhältnisse integriert und akzeptiert die bestehenden Strukturen und Funktionen als natürliche Ordnung, die den Gewaltprimat auf Grundlage eines Normen- und Wertekonsenses reguliert. Diese Gesellschaftsordnung ist ebenfalls nicht hierarchiefrei, baut jedoch darauf auf, daß die verbindlichen Normen und Werte aufgrund ihrer sozial integrativen Funktion allgemeine Akzeptanz finden, also dem einzelnen nicht a priori aufgeherrscht werden müssen.

Genauer betrachtet sind die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen nicht prinzipieller Art, sondern beziehen sich auf den mehr oder weniger repressiven Charakter der Durchsetzung herrschender Ordnung. Konsensverweigerung werde auf Seiten der Handelnden als egoistisch und auf Seiten der Vermittelnden als Versagen in Erziehung und Bildung empfunden, so daß soziale Probleme als Störung der Guten Ordnung in Erscheinung treten. Ihre Erforschung diene der Wiederherstellung dieser Ordnung, die als Ensemble widerstreitender Interessen nicht in den Blick der grundsätzlichen Frage genommen wird, worauf diese Konfliktlagen etwa in Hinsicht auf materielle Ungleichheiten beruhen. Statt dessen bilden sich diese Konflikte vor dem Hintergrund des dadurch in seiner Gültigkeit positivistisch verabsolutierten Wertekonsenses zu Normbrüchen und Pathologien aus, die in eine selbstevidente Stigmatisierung der als Störfaktoren ausgemachten subordinierten Gruppen als gefährlichen Klassen oder sozialer Sprengstoff münden.

Diese Form des sozialpathologischen Denkens führt dazu, daß der zentrale gesellschaftliche Konflikt um Teilhabe am vorhandenen Reichtum in Kategorien der sozialen Deklassierung aufgeht. "Bildungsferne Schicht" oder "sozial schwach" machen keinen politischen Handlungsbedarf im Sinne der Veränderung herrschender Verhältnisse geltend, sondern siedeln die sozialen Probleme in ihrem Zustandekommen letztlich unerklärt bleibenden Defiziten der Erziehung, der Sozialisation oder der Wertevermittlung an. So wird den subordinierten Gruppen eine gemeinsame Subkultur zugewiesen, die für die Reproduktion der Defizite selbst verantwortlich gemacht wird, führt die Referentin abschließend aus.

Folie der ReferentInnen - Foto: 2012 by Schattenblick

Krisenmanagement durch Teilen und Herrschen
Foto: 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Roland Anhorn, der Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Gesundheitswesen erforscht, stellt das Konzept sozialer Ausschließung in zwei zum Teil kontroverse Forschungsansätze, die von Kerstin Rathgeb vorgestellte ordnungs- und konsenstheoretische Perspektive und eine befreiungs- und konflikttheoretische Perspektive. Als maßgebliches Kriterium des ordnungs- und konsenstheoretischen Ansatzes gelte nicht mehr die Frage, wer oben und wer unten, sondern wer drinnen und wer draußen ist - man denke an US-Präsident Bill Clinton, der seine drastischen Sozialkürzungen Mitte der 90er Jahre damit begründete, daß es keine "under-class" mehr gebe, sondern nurmehr eine "outer-class". Mit dem propagierten Innen-Außen-Verhältnis werde ein Bild der Gesellschaft propagiert, als deren zentrale Strukturierung die horizontale Spaltung zwischen der integrierten Mehrheit und der ausgeschlossenen Minderheit gelte. Während das damit konstituierte Innere der Gesellschaft im postulierten Konsens als geordnet, funktional und homogen erscheine, gelte das Außen als Ort und Quelle der Unordnung, der Störung, der Desintegration, Dysfunktion und Pathologie. Von den dort verorteten Randzonen und Problemgruppen gehe letztlich eine Bedrohung des geordneten Zentrums der Gesellschaft aus, was in einer positivistisch verfestigten Abspaltung des Außens resultiert.

Dementsprechend gerät soziale Ausschließung zum Skandalisierungskonzept. Wohnungslose, Migrantinnen, Hartz IV-Empfänger und junge Männer - im Jargon reaktionärer Soziologie als "tickende Zeitbomben" oder gar "Superraubtiere", wie der ehemalige Direktor des White House Office of Faith-Based and Community Initiative John J. Dilulio, Jr., schon in den 90er Jahren straffällige Jugendliche nannte - werden zur Verkörperung von Ordnungsproblemen. Diese Dichotomisierung der Gesellschaft hat, wie der Referent ausführt, für die Forschung nachhaltige Konsequenzen: der forschende Blick richtet sich auf die Gruppen der Ausgeschlossenen, um in ihren Lebenslagen, Verhaltensformen, Biografien, Lebensstilen und frühkindlichen Entwicklungen die Ursachen von Gewaltkriminalität, Eigentumsdelikten, Ausländerfeindlichkeit, Drogenkonsum als auch Armut dingfest zu machen.

Anhorn hält es für ein prinzipielles Problem auch fortschrittlicher Analysen, in denen von strukturellen Bedingungen ausgegangen wird, die sozialen Probleme letztlich bei den jeweiligen Gruppen und ihren Kompetenzdefiziten zu verorten. Letztlich münde dies in eine Personalisierung der Konflikte, die dementsprechend am Symptom und nicht der Ursache orientierte Lösungsmöglichkeiten produziere. Was der Referent in diesem Fall auf die Forschung an der Sozialen Arbeit bezieht, ist ein beliebte Interpretationsmuster neoliberaler Politik. Sie bedient sich einer Bezichtigungslogik, die von gesellschaftlichen Antagonismen betroffenen Menschen die Schuld an ihrer Misere auflastet, um das etwa auch im Zwangscharakter der Logik des "Förderns und Forderns" wirksam werdende Disziplinierungsinstrumentarium einer krisenadäquaten Form der schwarzen Pädagogik zu legitimieren.

Im befreiungs- und konflikttheoretisch informierten Verständnis von sozialer Ausschließung hingegen gehe es stets um die Analyse der Gesellschaft in ihren Grundstrukturen und -mechanismen, ohne die sich kein angemessenes Verständnis der Lebensbedingungen von Ausgeschlossenen gewinnen lasse. Die Problematisierung von Strukturen und Prozessen, von Institutionen und Politiken, die in den Kernbereichen der Gesellschaft systematisch soziale Ungleichheit und Ausschließung erzeugen, müßten im Mittelpunkt eines kritischen Verständnisses sozialer Ausschließung stehen, fordert Ronald Anhorn. Zwar sei das Wissen über die Ausgeschlossenen für die Soziale Arbeit dennoch nutzbar, man müsse aber die Strukturen und Dynamiken der Gesellschaft als Ganzes zugrundelegen, um ihnen auf emanzipatorische Weise gerecht zu werden.

Werde nicht über den gesellschaftstheoretischen Zusammenhang dieser zwei Perspektiven aufgeklärt, dann verlege sich die Forschung lediglich auf die Anwendung von Techniken und Methoden. Dies habe zur Folge, daß letztlich Wissen erzeugt wird, das Ungleichheit und Ausschließung legitimiert, reproduziert und, wie zu ergänzen wäre, auf eine Weise politisch adressiert, die repressive Formen der Unterwerfung des Menschen unter des neoliberale Spardiktat und seine Zurichtung zu universaler, allein dem Zweck der betriebswirtschaftlichen Kostensenkung gewidmeten Verwertung durch Arbeit legitimiert.

Folie der ReferentInnen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Klassenantagonismus im Blick
Foto: 2012 by Schattenblick

Der Soziologe Prof. Dr. Johannes Stehr will ein Instrumentarium vorstellen, mit dem man Forschung kritisch-analytisch in Blick nehmen kann. Ausgehend davon, die Forschung in Soziale Arbeit als von grundlegenden Widersprüchen durchzogenes Konfliktfeld zu beschreiben, unterscheidet er zwei mögliche Entwicklungen. In dem einen Fall werde Soziale Arbeit als Ordnungsmacht mit disziplinierender und ausschließender Funktion konstituiert, im anderen gehe es darum, die emanzipatorische Perspektive bei den Adressaten zu fördern. Schon weil die Forschung selbst in ihrem Verhältnis zur Praxis, zur Wissenschaft und auch zur Politik spezifische Konfliktkonstellationen erzeugt, die die Gesamtheit der sozialen Konstellationen, der Situationen und Interaktionen darstellen, die über Forschungsprozesse erzeugt werden, sei es notwendig, sie kritisch in den Blick zu nehmen.

Die zentrale Frage, welche Macht- und Herrschaftsverhältnisse durch die jeweilige Art und Weise des Forschens erzeugt, bestätigt, reproduziert oder bezweifelt werden, mache es unabdinglich, die Forschung nicht auf Methodenfragen oder ethische Forderungen zu reduzieren. Die Herausforderung bestehe darin, die jeweilige Positionierung von Forschung herauszuarbeiten und offenzulegen, in welchen Konfliktkonstellationen, zu welchem Zweck und mit Hilfe welcher Strategien sich Forschung mit anderen Akteuren dieses Feldes verbinde. Es gehe primär darum herauszuarbeiten, welche Verpflichtungen die Forschung gegenüber den Auftraggebern und den Erforschten eingehe, erst dann sei die Auswahl der jeweiligen Methode und des Gegenstandes der Forschung relevant.

Folie der ReferentInnen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Berufsständische Eigendynamik
Foto: 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Elke Schimpf, die zu Theorien und Handlungsansätzen der Sozialen Arbeit forscht, stellt anhand eines Beispiels die Probleme der Forschung in besagten Konfliktkonstellationen dar. Die in den 80er Jahren entwickelte Praxisforschung, in der es darum gehe, die Praxis der Sozialen Arbeit zu reflektieren, zu evaluieren und neue Handlungsmodelle zu entwickeln, erhebe im Unterschied zu der Aktionsforschung, die sie ablöste, keinen explizit gesellschaftskritischen Anspruch mehr. Konstitutiv für die Praxisforschung seien sogenannte Arbeitsbündnisse mit der institutionellen Praxis, die die Referentin im Widerspruch zwischen gesellschaftskritischem Anspruch und einer verkürzten Praxis verortet.

So schildert sie an einem praktischen Beispiel für ein Arbeitsbündnis, daß der Kontakt der Forschenden zu den Adressaten der Sozialen Arbeit nur zu bestimmten Anlässen aufgenommen wurde und diese auch nicht in den Auswertungsprozeß der empirischen Untersuchung einbezogen wurden. Das Verhältnis zwischen Forschenden und Adressaten werde in der Praxisforschung erstaunlich wenig thematisiert, zudem kämen Konflikte eher nicht in den Blick. Statt dessen würden allgemeine Forderungen wie etwa ein offenes Klima herzustellen, eine produktive Balance zu halten oder den Diskurs kooperativ zu organisieren, erhoben, was die Referentin dahingehend auslegte, daß eigentlich zur Ordnung aufgerufen werde.

Als entscheidende Fragen, die in diesem Bereich zu stellen wären, führte die Referentin auf: Wie kommen Diskurse zustande, mit welchen Personen und Selbstverständlichkeiten werden sie geführt? Auf welcher Hierarchieebene lassen sich die Forschenden in der Institutionellen Praxis verpflichten? Wer wird überhaupt als Verhandlungspartner akzeptiert? Prekäre Arbeitsbedingungen und ungenügende Voraussetzungen zur Aus- und Weiterbildung wie fehlende Ressourcen für den praktischen Diskurs würden nicht problematisiert. Letztlich werde die Institutionelle Praxis zum entscheidenden Kriterium für die Beurteilung der wissenschaftlichen Tätigkeit, die Theoriebildung werde ihr nachgeordnet. Der hier stark gekürzt wiedergegebene Vortrag von Elke Schimpf mündete in die These:

"Die Vereinnahmung der Forschenden für die Interessen der Institutionellen Praxis und die mächtigen Bündnisse mit den Professionellen verhindern einen eigenen Zugang zu den Adressaten, wodurch deren Lebensverhältnisse und Konflikte mit den Institutionen nicht aus einer lebensweltlichen Perspektive thematisiert und für eine Gesellschaftskritik genutzt werden können."
Folie der ReferentInnen - Foto: 2012 by Schattenblick

Kein Bündnis, das nicht zu Lasten Dritter geht
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Johannes Stehr widmet sich abschließend dem Beispiel der rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung, die mit dem vorrangig eingesetzten Mittel der Biografieforschung den Anspruch verfolgt, über das bloße Forschen hinaus Handlungsmethoden für die Praxis zu entwickeln. Dies hält der Referent aus mehreren Gründen für problematisch. So bringe der biografischen Fallbezug eine Anfälligkeit für die therapeutisierende Perspektive in Forschung wie Praxis mit sich, zudem werde versucht, die Deutungshoheit auf diesen Feldern zu sichern, schließlich würden aufgrund von Auswahlkriterien, nach denen die Befragten ausgesucht werden, Ausschließungsverhältnisse vorgeführt und praktiziert.

Stehr geht insbesondere auf die Problematik des narrativen Interviews ein. In dessen Durchführung macht er Parallelen zum therapeutischen Setting und zur experimentellen Versuchsanordnung aus, durch die die Befragten in die Position von Versuchspersonen gebracht und mit den verschiedensten Zumutungen konfrontiert werden, die auf Hierarchien und Asymmetrien in der Forschungssituation verweisen. Das große Interesse an der Ausarbeitung einer narrativ-biografischen Diagnostik in der Praxis könne Forschungsverhältnisse erzeugen, in denen das Expertenverhältnis verstärkt werde. Damit sei Forschung kein egalitärer Prozeß mehr, sie entferne sich immer mehr von Alltagsforschung und werde zu einem speziellen Handlungsmodus für gut ausgebildete Forscher. In einigen rekonstruktiven Studien werde gar von heilender Wirkung der Erzählungen selbst ausgegangen, so daß die Forschung wie eine Therapie interpretiert werde.

In den meisten Untersuchungen würden die Erzählungen der Befragten nicht als solche belassen, statt dessen werde eine Sequenzierung von Lebensgeschichten produziert, die mit tatsächlichen Sachverhalten konfrontiert würden. Zu diesem Zweck müßten die Interviewten offizielle institutionelle Protokolle wie Zensuren oder Zeugnisse in die Befragung einbringen. Ursprünglich sollte die Qualitativen Forschung alltagsnah gehalten werden, doch hier werde die Alltagsnähe fast vollständig zugunsten eines expertokratischen Interpretationsprozesses aufgegeben, so die Kritik des Referenten.

Letztlich finde die rekonstruktive Sozialforschung auf der Basis hegemonialer Problemdiskurse statt. Gewaltkriminalität, Delinquenz, Schwäche und Defizite aller Art würden in die Interpretation hineingenommen, so daß der Prozeß ein traditionell ätiologisches Modell zum Ergebnis habe, das die Suche nach den Ursachen von Abweichungen aller Art in der Biografie des einzelnen Befragten verortet. Im Ergebnis dominierten Individualisierung oder auch Familialisierung, anstatt daß die jeweilige Problemkonstellation kritisch in den Blick genommen würde. Damit verstärke die biografische Methode hegemoniale Problem- und Ursachenperspektiven. Dies mit der intensiven Erforschung der individuellen Entwicklung kombiniert scheint für die Befragten nicht unproblematisch zu sein, berichtet der Referent doch davon, daß bei einigen Untersuchungen der regelmäßige Besuch einer Therapie zur Voraussetzung gemacht wurde. Man ging davon aus, daß der Forschungsprozeß Verletzungen zufügen könne, die sonst nicht gut bearbeitet werden könnten.

In seiner abschließenden These kritisiert Johannes Stehr die rekonstruktive Sozialarbeitsforschung dahingehend, daß sie Bündnisse mit den Professionellen in der Institutionellen Praxis etabliere. Beide Seiten eint das Interesse an biografischen Einzelfallkonstruktionen, die der Forschung als anbietende Akteurin wie der professionellen Praxis als abnehmende Akteurin über qualifiziertes Methodenwissen Statusvorteile verschaffe. Mit der Tendenz zur Therapeutisierung werde letztlich eine verstehende wie auch gesellschaftskritische Perspektive konterkariert. Die Konfliktsituationen der Adressaten im Kontext institutionell produzierter Ungleichheit und gesellschaftlicher Ausschließung blieben verdeckt oder gerieten doch wieder zur Normalitätsabweichung.

Es gehe einer kritischen Sozialarbeitsforschung darum, den Gegenstand, die Kategorien der Forschung und vor allem die Forschungssituation selbst zu reflektieren, denn auch die kritischste Fragestellung könne zu affirmativen Ergebnissen führen. Selbst wenn die Forschung von einer strukturellen Kausalität der Probleme ausgehe, könne sie in die Individualisierung kippen, so daß die Betroffenen selbst für ihre Probleme verantwortlich gemacht würden. Demgegenüber sei zu fragen, auf welche Weise Forschung für die Adressaten und nicht nur für die Profession einen Gebrauchswert entfalte.

Folie der ReferentInnen - Foto: 2012 by Schattenblick

Winkelzüge der Affirmation durchschauen
Foto: 2012 by Schattenblick

In der anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, wer eigentlich den Gebrauchswert bestimmt. Sie machte deutlich, daß die Ergebnisse der Forschung verschiedensten Zwecken zugeführt werden können, die die Forschenden nicht immer gutheißen. So meinte ein Zuhörer, daß man sich um die Frage, wem die Forschung nutze und wem sie schade, nicht herumdrücken könne. Er selbst forsche nicht für gesellschaftliche Interessenvertretungen, bei denen er den Eindruck habe, daß sie seinen Adressaten kontraproduktiv gegenüberständen.

Demgegenüber wurde der Einwand erhoben, daß es Aufgabe von Wissenschaft und Forschung sei, Erkenntnis zu produzieren, und dabei solle es bleiben. Er habe als Forscher keinen Einfluß darauf, ob seine Ergebnisse für die Nutzer einen Gebrauchswert hätten, meinte dieser Wissenschaftler. Diesen zu schaffen sei eine Frage der Praxis und der Politik, nicht der Wissenschaft.

Dies sah ein weiterer Diskussionsteilnehmer anders. Für ihn bestehe der größte Gebrauchswert einer Forschung darin, daß man wegkomme von vorherrschenden hegemonialen institutionellen Deutungen, um statt dessen Alternativen aufzuzeigen und in den politischen Diskurs einzubringen.

Ronald Anhorn präzisierte die Position seines Arbeitskreises, daß nicht die unmittelbare Forschungssituation für ihren Ansatz bedeutsam sei, sondern die Generierung eines Wissens, das in anderen Kontexten wie etwa dem Strafvollzug oder der Psychiatrie einen Gebrauchswert habe. Mit seinen Ergebnissen hegemoniale Deutungen herauszufordern und ein anderes Wissen zur Verfügung zu stellen, das natürlich nicht auf individueller Ebene verbleiben dürfe, wenn es politisch wirksam werden wolle, sei die Absicht seiner Kritik.

Kerstin Rathgeb ergänzte, daß es ihrer Ansicht nach darum gehe, sich auf unterschiedliche Lesarten einzulassen und den Rahmen zu berücksichtigen, der von Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnissen durchdrungen ist. Wenn man das mitdenke, dann lasse man andere Dinge zu. Ansonsten befinde der vorgegebene Reflexionsrahmen darüber, nach welchen Kriterien die Adressaten etwa als bildungsfern eingestuft würden und Hilfe bekämen. Vor allem müsse Kritik nicht unmittelbar praktisch nutzbar sein, verwahrte sich Rathgeb gegen den Anspruch, daß man immer konstruktiv argumentieren müsse. Manche Dinge ließen sich erst einmal nur negativ formulieren, da man in Widersprüche verwickelt und Dilemmata ausgesetzt sei. Dies zum Thema machen und sich immer wieder einzubringen sei zwar eine Sisyphusarbeit, aber die Bedingung kritischen Forschens.

Als weiterer kontrovers verhandelter Punkt erwies sich die Wortmeldung eines Zuhörers, der die inhaltliche Festlegung auf konflikt- und befreiungstheoretische Zusammenhänge als normativ kritisierte. Seiner Ansicht nach reiche es aus, über die Bedingungen und Erkenntniszusammenhänge der eigenen Forschung aufzuklären, so daß er keinen qualitativen Fortschritt in dem, was die Referentinnen und Referenten vorgestellt hätten, erkennen könne.

Diesen Einwand konterte eine Zuhörerin mit der Frage, ob denn Forschung jemals ein egalitärer Prozeß sein könne. Man müsse reflektieren, daß die Forschung indiskret sei, daß sie die Beforschten zum Objekt macht und tendenziell verdinglicht.


Renaissance fundamentaler Wissenschaftskritik?

Wissenschaftliche Erkenntnis an ihrer Nützlichkeit aufzuzäumen ignoriert die Zwanghaftigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, einer Verwertungslogik zu frönen, die für zahlreiche Menschen nichts als Verluste produziert und dennoch von einem positiven Wertbegriff ausgeht. Die konstitutive Anlage des Wissenschaftsbetriebs, seine Tauglichkeit für die Optimierung herrschender Verhältnisse unter Beweis zu stellen, entzieht sich ohne die Negation positivistischer Ergebnisse der notwendigen Kritik. Die in den Vorträgen deutlich werdende Tendenz, daß eher die jeweils eingesetzte Methodik erkenntnisleitend ist und nicht die unbestechliche Frage nach den Ursachen drängender Widersprüche, gibt also allen Anlaß, fundamentale Wissenschaftskritik zu üben.

Dies gilt gerade für eine Soziale Arbeit, der die gesellschaftskritische Frage, wie man die zu bearbeitenden Mißstände nicht nur regulativ befrieden, sondern unumkehrbar überwinden könnte, systematisch ausgetrieben wird. So verhindert der empirische Blick auf die Interpretation erwirtschafteter Daten jegliche Forschung, die nicht nur das Gegebene positivistisch bestätigt, sondern die Frage nach dem Fortschritt des Menschen von ihrer Bindung an die angeblichen Sachzwänge des Machbaren und Erreichbaren befreit. Die Degeneration des Begriffs "Wissen" auf einen quantitativen Datenfundus ist ein bezeichnendes Merkmal des regressiven Verlaufs, den der Anspruch auf humanistische Aufklärung unter dem Regime einer zweck- und nutzenbezogenen Bildungspolitik genommen hat. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat einmal recht deutlich ausgesprochen, wie wenig der Anspruch auf umfassendes Informiertsein und "lebenslanges Lernen" damit zu tun hat, zu geistiger Unabhängigkeit und Eigenständigkeit zu gelangen:

"In gewisser Weise ist Information das Gegenteil von Wissen. Worüber ich informiert bin, das brauche ich nicht zu begreifen. Und wenn ich ganz informiert bin, in Form gebracht, bin ich im Grunde tot. Insofern dienen die aufs bloße Informiertsein gerichteten Forderungen einer technikgläubigen Bildungspolitik letzten Endes der Vorbereitung eines neuen Sklavenstandes der Menschheit." [3]

So bildet sich die Haltlosigkeit des finanzökonomischen Primats, Kapital unter allen Umständen verwertbar zu machen, selbst wenn dies die Zukunft der Menschheit in Frage stellende Schäden zeitigt, in der Positionslosigkeit einer Wissenschaft ab, die ein rein instrumentelles Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit hat und damit zum ausführenden Organ der sie bedingenden Interessen wird. Sich der abstrakten Bestimmtheit der eigenen Vergesellschaftung zu ermächtigen ist etwas ganz anderes, als die Ideologie eines Empowerment fordert, wenn sie gesellschaftliche Teilhabe uneingedenk der Frage propagiert, wie sehr sich der einzelne dafür verbiegen und unterwerfen muß. So können Partizipation und Integration nicht ad hoc als erstrebenswerte Ziele verstanden werden, wenn gar nicht erst gefragt wird, was geteilt, also auch fragmentiert und atomisiert, respektive in welche herrschaftsförmigen Verhältnisse eingepaßt werden soll.

Den Menschen zuzurichten auf die Verhältnisse, die ihn verfügen und bedingen, ist eine Crux einer Sozialen Arbeit und der sie leitenden Wissenschaften, der durch das Artikulieren ethischer Ansprüche nicht zu entkommen ist. Ethik fügt sich vielmehr, wie sich insbesondere am Beispiel der bioethischen Legitimation medizinischer Methoden und Forschungen studieren läßt, die nicht im Interesse der davon Betroffenen sein können, in die Notwendigkeiten und Forderungen ein, die dem technischen Fortschritt, der institutionellen Logik, partikulären Interessen oder gesellschaftlichen Zwängen insbesondere der ungenügenden Alimentation sozialer Gerechtigkeit entspringen.

Wie in einer Gesellschaft auf nicht normative Weise geforscht werden kann, die nicht dazu bereit ist, ihre Ausgangsbedingungen ergebnisoffen zu diskutieren, ganz zu schweigen davon, sie einer demokratischen Willensbildung zu überantworten, die nicht durch administrative und ideologische Einschränkungen als auch antagonistische Klassenverhältnisse weitreichend vorformuliert sind, bleibt daher eine offene Frage. Objektivität zu beanspruchen inmitten von sozialen Verhältnissen, die von Angst und Ohnmacht geprägt sind, erscheint da als bloße Ausflucht gegenüber der Verantwortung, die akademischen Funktionseliten aufgrund ihres gesellschaftlichen Einflusses zukommt. Beispiele für die Korrumpierbarkeit von Wissenschaft durch machtpolitische Interessen und materielle Vorteilsnahme gibt es zuhauf, wogegen die Vorbilder einer Standhaftigkeit gegenüber der Forderung, sich zum legitimierenden oder ausführenden Organ menschenfeindlicher Zwecke zu machen, dünn gesät sind. Sich der Frage zu stellen, inwiefern die eigene Arbeit an der Entwicklung derjenigen Probleme teilhat, die ihrem Anspruch nach zu bewältigen sind, sollte daher die Mindestanforderung für eine emanzipatorische Soziale Arbeit und Sozialarbeitsforschung sein.

Fußnoten:
[1] http://ifsw.org/policies/definition-of-social-work/

[2] http://www.bundeskongress-soziale-arbeit.de/images/buko/positionierung.php

[3] Hans-Georg Gadamer in der SZ vom 24.11.1999; entnommen aus: Evelyn Hanzig-Bätzing, Werner Bätzing: Entgrenzte Welten. Zürich, 2005; S. 152

11. Dezember 2012