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BERICHT/029: Krieg um die Köpfe - auf die Füße stellen ... (SB)


Psychologie zwischen Herrschaftswissenschaft und Gesellschaftskritik

Kongreß vom 5. bis 8. März 2015 an der Freien Universität Berlin


Im Stande seiner Vergesellschaftung leidet der Mensch zwangsläufig an der unüberbrückbaren Widerspruchslage, als die sich die politische, ökonomische und soziale Ausübung von Herrschaft manifestiert. Fremdbestimmten Interessen unterworfen, erfährt er die existentielle Unwägbarkeit einer Lebensweise, die sich auf die Verwertung seiner Arbeitskraft reduziert, sofern diese nicht sogar für überflüssig erachtet wird. So ist ihm längst alles genommen worden, ehe man ihm einen Bruchteil dessen ohne jede Bestandsgarantie zum Zweck der Reproduktion wiedergewährt. Als Bürger eines Nationalstaats, der in supranationale Strukturen eingebunden ist, werden ihm Rechte zugestanden, die sich als Zwangskorsett erweisen, wann immer er sie in aller Konsequenz zu beanspruchen trachtet. Wenngleich er sich als Subjekt postuliert, unterwirft ihn das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse einem Regime, das ihn zum Objekt degradiert. Entfremdet im Arbeitsprozeß oder ins soziale Abseits ausgegrenzt, durch Leistungsdruck ausgepreßt oder sozialrassistisch stigmatisiert, tritt ihm der andere Mensch als Konkurrent gegenüber, ist er sich selber fremd, wo er eine ihm eigene Identität zu reklamieren versucht.

Eine Psychologie, die in Theorie und Praxis ohne eine kritische Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse auszukommen meint, kann folglich nur das leisten, was ihr im Kontext sozialtechnologischer Strategien als Funktion der Befriedung und Wiederherstellung von Arbeitskraft zugedacht ist. Dabei nimmt sie in der Hierarchie der akademischen Disziplinen und Aufgaben im Reparaturbetrieb eine nachrangige Stellung ein, da man sich ihrer vorübergehend bedient, wo offenkundigere Zwangsmittel einer Ergänzung bedürfen, aber auf sie verzichten kann, sobald eine höhere Stufe administrativer Repression greift.

Ihre mindere Bedeutung im Arsenal herrschaftsrelevanter Instrumente hat die Psychologie um so mehr angespornt, sich quantitativen Methoden der Statistik und behavioristischen Herangehensweisen zu verschreiben, als ließe sich darüber ihre Relevanz für die Beseitigung auftretender Störungen im Verwertungsbetrieb erwirtschaften und belegen. Demgegenüber formierte sich seit den späten 1960er Jahren im Kontext der außerparlamentarischen Opposition wachsender Widerstand in der Studentenschaft und dem akademischen Mittelbau, der aus der Kritik der politischen Ökonomie die Forderung an die Psychologie ableitete, einen emanzipatorischen Beitrag zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu leisten.

Eine der zentralen Kontroversen der damaligen Diskussionen entzündete sich an der Frage, ob eine psychologische Praxis durchzusetzen sei, die ihre Klientel zu einer radikalen Streitbarkeit ermächtigen könnte, oder die Psychologie nicht vielmehr als Herrschaftswissenschaft grundsätzlich zu verwerfen sei. Mehr oder minder einig war man sich innerhalb der vielfältigen und breit gefächerten kritischen Fraktion, daß der quantitativ und positivistisch ausgerichtete Mainstream der Psychologie abzulehnen sei und durch eine qualitative, weil aus der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Zwängen erwachsenden Forschung und Berufsausübung zu ersetzen sei.

Zu den populärsten marxistischen Hochschullehrern der Psychologie gehörte neben Klaus Holzkamp in West-Berlin seinerzeit Peter Brückner [1], der 1967 in Hannover einen Lehrstuhl bekam und durch sein Engagement für die Belange der Studentenbewegung weithin Bekanntheit erlangte. Wenngleich er es ablehnte, sich als Psychologe im Sinne des herrschenden Selbstverständnisses dieser Wissenschaft zu verstehen, lehrte er gleichwohl Psychologie, für deren politisches Mandat im Sinne einer "eingreifenden" Wissenschaft er sich stark machte. Seine universitäre Lehrtätigkeit wurde zweimal durch Suspendierungen unterbrochen, während denen er die Diskussion an anderen Orten fortsetzte.

Brückner wurde 1972 für zwei Semester vom Dienst suspendiert, weil er angeblich der steckbrieflich gesuchten Ulrike Meinhof Unterschlupf gewährt hatte, was jedoch nicht nachgewiesen werden konnte. Die zweite Suspendierung wurde 1977 verhängt, als er zusammen mit 47 anderen Hochschullehrern das studentische Flugblatt "Buback - ein Nachruf" unverkürzt der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht hatte. Damit habe er nicht die Lehre ausgeübt, sondern sich am politischen Meinungskampf beteiligt, warf man ihm vor. Er selbst berief sich hingegen auf die Pflicht des Gelehrten, auch als mündiger Bürger tätig zu sein. Der sich als "Mescalero" bezeichnende Unterzeichner des Flugblatts kam in seinen Ausführungen nach einem anfänglichen Gefühl "klammheimlicher Freude" zu dem Schluß, daß individueller wie kollektiver Terror abzulehnen sei. Diverse Zeitungen zitierten jedoch Passagen, die aus dem Zusammenhang gerissen waren und den Artikel in sein Gegenteil verkehrten. Es kam zu Anzeigen, Strafanträgen und Durchsuchungen in mehreren Universitätsstädten. Als die 48 Hochschullehrer den "Nachruf" ihrerseits veröffentlichten, um seinen Inhalt angemessen wiederzugeben, setzte erst recht eine Hetzkampagne ein. Es wurden Disziplinarverfahren und staatsanwaltliche Ermittlungen angedroht oder eingeleitet.

In einem Klima, das als "deutscher Herbst" in die Geschichte einging, gaben sich 177 Hochschullehrer dazu her, in einer Erklärung den 48 Herausgebern der Dokumentation in den Rücken zu fallen. Peter Brückner, der sich nicht wie gefordert distanzierte, wurde als einziger vom Dienst suspendiert und erst 1981 juristisch rehabilitiert. Sein langjähriger Kampf und die Verfolgung mögen dazu beigetragen haben, daß er im April 1982, kurz vor seinem 60. Geburtstag, früh verstarb. Da er bis zuletzt keine seiner Äußerungen und Handlungen zurückgenommen hatte, wurde er zu einer Symbolfigur des "aufrechten Gangs". Zugleich lehrte die ihm versagte Solidarität im Kollegenkreis, in dem sich damals nicht wenige als Linke verstanden, daß nicht allein staatliche Repression, sondern in erheblichem Maße die Rückkehr weiter Teile der vermeintlich eigenen Reihen auf die für sicher erachtete Seite der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Niedergang der Linken in der Bundesrepublik führte.


Plakat der Konferenz 'Krieg um die Köpfe' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick


Gegen den Kriegsdiskurs der "Verantwortungsübernahme"

Die 1991 gegründete Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP) [2] als eine Vereinigung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Psychologie und deren Nachbarprofessionen sowie in diesen Feldern tätigen Praktikerinnen und Praktikern sieht sich in der weithin verlorengegangenen Tradition jenes wissenschafts- und gesellschaftskritischen Verständnisses: Um mit Peter Brückner zu sprechen, gehören Psychologie und Gesellschaftskritik zusammen. Nachdem Versuche gescheitert waren, gesellschaftstheoretischen und sozialpsychologischen Paradigmen in der damaligen Standesvertretung der universitären Psychologie wieder zur Repräsentanz zu verhelfen, bot sich ein Schulterschluß der verbliebenen Fraktionen an, die die Frage des Sozialen aus der Versenkung holen wollten, in die sie aus Gründen berufständischer Opportunität verbannt worden war. Es sollte ein Gegengewicht zur zunehmend naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychologie geschaffen werden, das sich durch human-, geistes- und kulturwissenschaftliche Ansätze auszeichnet. Zugleich strebt die NGfP eine tendenzielle Überwindung der Arbeitsteilung der Wissenschaften zugunsten einer Wiederbelebung der interdisziplinären Diskussion an.

In diesem Sinne veranstaltet die NGfP wissenschaftliche Konferenzen nicht zuletzt mit dem Anspruch, deren Ertrag auch der Zivilgesellschaft zur Verfügung zu stellen. Unter dem Thema "Krieg um die Köpfe - Der Diskurs der 'Verantwortungsübernahme'" fand der diesjährige Kongreß vom 5. bis 8. März an der Freien Universität Berlin statt. Aus den beiden Blickwinkeln des individuellen Leids auf der einen und der gesellschaftlichen Realität, die den Menschen angetan wird, auf der anderen Seite verfolgten die Veranstalterinnen und Veranstalter den Ansatz, unter Gewährleistung einer der Thematik angemessenen Breite der vertretenen Positionen eine klare Linie der Kritik am Kriegskurs herauszuarbeiten. So waren neben den Referentinnen und Referenten der Tagung aus dem Bereich der Psychologie und Psychotherapie auch soziologische, politologische, theologische, sprachwissenschaftliche und medienkritische Zugänge vertreten, die ein vielfältiges Spektrum repräsentierten.

Um einer ausschließlichen Individualisierung der Problematik etwas entgegenzusetzen, gingen die Anwesenden unter dem Primat eines geschichtlichen und ökonomischen Blicks der Frage nach, wie der Bevölkerung der Krieg um Rohstoffe, Absatzmärkte und billige Arbeitskräfte nahegelegt wird. Dabei ist der neoliberale Diskurs der Verantwortungsübernahme auch hierzulande die wesentliche Vorbereitung und Rechtfertigung von Angriffskriegen unter Beteiligung der Bundeswehr. Wenn es heißt, Deutschland müsse mehr Verantwortung übernehmen und dabei gegebenenfalls zu den Waffen greifen, geschieht dies aus einer Position der Stärke der NATO-Mächte, die unter ökonomischem und militärischem Druck expandieren und die Schuldfrage schon vor dem nächsten Krieg zu Lasten des Feindes klären. Die Fragestellung der Konferenz, worauf dieser bellizistische Diskurs fußt, wo er ansetzt und welcher Mechanismen er sich bedient, ist mithin nicht zuletzt eine psychologische, sofern die Herangehensweise und Positionierung dieser Disziplin im Sinne der von der NGfP vertretenen Paradigmen eine gesellschaftskritische ist.

Daß demgegenüber die Mehrzahl der psychologischen Praktikerinnen und Praktiker keine Probleme damit zu haben scheint, eingebettet in militärische Strukturen ihrer Tätigkeit nachzugehen, belegt unter anderem die Vereinbarung der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) mit der Bundeswehr zur Behandlung von Soldaten außerhalb der kassenärztlichen Versorgung, die sich in die rechtlichen Vorgaben zur truppenärztlichen Versorgung einpaßt. Dies schließt unter anderem die Behandlung auf dem Kasernengelände und die Akzeptanz einer besonderen militärischen Schweigepflicht ein. Auf dem letztjährigen Symposium der NGfP mit dem Thema "Krieg und Frieden" wurde eine Stellungnahme gegen diese Form Zivil-Militärischer Zusammenarbeit beschlossen, wobei der offene Brief an den Präsidenten der BPtK zahlreiche Mitunterzeichner fand.


Fußnoten:

[1] http://web.fu-berlin.de/postmoderne-psych/texte/peter_brueckner.htm

[2] http://www.ngfp.de/

14. März 2015


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