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BERICHT/035: Migrationswissenschaftliche Fragen - Doppelte Bürde ... (SB)


Bitterernste Rollenspiele

Flüchtlinge in der Situation von Prüflingen, Unterhaltern und politischen Akteuren

Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) "Migration und Rassismus. Politik der Menschenfeindlichkeit" vom 3. bis 6. März 2016 in Berlin


Schon an der Schule hatte Hakim große Angst vor Prüfungen. Nun ist er nach langer Flucht in Deutschland angekommen und steht vor der alles entscheidenden Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Darf er dauerhaft bleiben, wird ihm Schutz gewährt, erhält er eine Ausreiseaufforderung oder droht ihm gar die Abschiebung? So sehr er und andere den Anhörungstermin herbeisehen, so sehr fürchtet er ihn jetzt. Er kann bisher nur wenig Deutsch, wird sich auf einen Dolmetscher verlassen müssen, dessen Übersetzung, Interpretation und Nuancierung. Gegenüber wird ihm bei der laut BAMF zwei bis fünfstündigen Anhörung [1], dem Kern jedes Asylverfahrens, ein sogenannter Entscheider sitzen. Der hat einen Gesprächsleitfaden, kann aber auch zusätzliche Fragen aus der Situation heraus stellen. So wurde es Hakim von einem Flüchtlingshelfer erklärt. Dieser hat ihm auch versichert, dass der Entscheider über viele Informationen sein Herkunftsland Irak betreffend verfügt aus Quellen wie der deutschen Botschaft und UN-Organisationen. "Das ist Deine Chance!", hat er gesagt, während Hakim vor allem Angst empfand. Wird man ihm glauben? Was ist Glaubhaftigkeit aus der Perspektive des Entscheiders?

Aus Sicht der Sozialpsychologin Monique Kaulertz eine problematische Situation. "Wir wissen, dass manche Holocaust-Opfer nie über ihre Erlebnisse im KZ reden konnten oder wollten. Erzählen verlangt eine bestimmte Atmosphäre, Zeit, Vertrauen und Sicherheit. Aber genau die haben Geflüchtete in dieser Situation nicht." In der Anhörung werde von ihnen die Beschreibung ihrer Fluchtgründe und ihres Fluchtweges verlangt, eine möglichst genaue Abfolge von Ereignissen mit vielen Details. Oft erfolgt die Anhörung erst viele Monate oder sogar Jahre nach der Flucht. Zudem kennen die befragten Personen die Anforderungen an ihre Erzählungen oft gar nicht. Darum seien viele in dieser Situation möglicherweise gar nicht in der Lage, eine entsprechende Darlegung der Fluchtgründe zu generieren.

Hinzu kommt nach den Worten von Monique Kaulertz das Problem der Bewertung dessen, was Menschen in der Anhörung erzählen. "Menschen sprechen über ihre persönlichen Erfahrungen und darüber, was sie in der jeweiligen Situation empfunden haben. Das stellt der Entscheider einer ganz anderen Art von Wissen - z.B. aus Berichten des Auswärtigen Amtes über die Lage im Herkunftsland - gegenüber." Allein diese Gegenüberstellung müsse man kritisch bewerten, denn sie stellt eine Hierarchisierung von Wissensbeständen her, die der alltagsweltlichen Erfahrung und den Ängsten der Betroffenen entgegensteht. Die Interventionsmöglichkeiten in der Anhörungssituation sind eher gering. Die Psychologin weiß von Fällen, in denen die Rückübersetzungen der Angaben der Asylbewerber ganze zehn Minuten dauerten. Oft trauen sich Antragssteller nicht, in dieser Situation ihre Aussagen zu korrigieren oder zu ergänzen.

Die Entscheider sollen zwischen Wahrheit und Lüge, richtig und falsch unterscheiden können - so die Theorie. "Ich bestreite das und ziehe die Legitimität der Bewertung nach den üblicherweise verwendeten Kriterien in Zweifel. Diese entsprechen teilweise nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft oder werden auf fragwürdige Weise an die Erzählung herangetragen", so Kaulertz. "Geschichten sollen in sich geschlossen, temporär gut geordnet und detailgenau sein. Die Fähigkeit, nach Krieg, Vertreibung oder Flucht eine diesen Kriterien genügende Erzählung abzuliefern, ist von Mensch zu Mensch verschieden; selbst die Erinnerungsfähigkeit ist das. Detailarmut als unwahr anzusehen, hält sie für kühn. Von Traumatisierten z.B. könne man das in vielen Fällen nicht erwarten. Aber auch andere hätten Probleme, das kritische Ereignis, das letztlich zur Flucht führte, exakt zu beschreiben oder scheuten sich, auf Knopfdruck Erlebnisse in der Heimat oder auf der Flucht zu schildern - sei es aus Scham oder anderen Gründen.

Für Rana gibt es noch keinen Anhörungstermin. Aber am LaGeSo in Berlin hat ein TV-Journalist sie auf Englisch angesprochen und gefragt, ob sie ihm am nächsten Tag ein paar Fragen beantworten würde. Man könnte das beim oder nach einem gemeinsamen Essen machen; auch mit Dolmetscher, wenn sie wolle. Sie hat zugestimmt. "Das war ein Fehler, weil ich mir in dem Moment nicht bewusst war, was das Erzählen mit mir machen wird, wie mies es mir dabei gehen wird. Und dann wollte er auch immer mehr Details, an die ich mich nicht mal erinnern wollte, viel weniger darüber sprechen. Ich hätte ihm gern meine Meinung zu den Fluchtursachen gesagt und auch zu den Debatten in der EU, die ich, so gut ich kann, verfolge. Aber daran war er nicht interessiert."

Flüchtlinge wie Rana empfinden sich nach den Erfahrungen von Monique Kaulertz in solchen Beiträgen für Medien manchmal wie Unterhalter. Statt eines TV-Krimis läuft da eben mal ein Beitrag über eine dramatische Flucht. Es besteht die Gefahr, dass Flüchtlinge so in der Opferrolle bleiben und über die Schilderung der persönlichen Fluchtgeschichte hinaus niemand Interesse an ihrer Meinung oder gar Kritik hat. Wenngleich die Wissenschaftlerin es begrüßt, dass Flüchtlinge in den Medien zu Wort kommen und nicht nur über sie geredet wird, so werfen diese Art von Erfahrungsberichten für sie zugleich viele Fragen auf: "Wer hat eigentlich etwas davon? Werden damit nicht eher Bedürfnisse unserer eigenen Gesellschaft befriedigt, Bedürfnisse wie sie vielleicht auch Neugierige haben, die sich um einen Unfallort scharen? Was passiert danach? Welche Konsequenzen haben die Erzählungen? Zuschauer, Leser oder Hörer ziehen sich in ihr behütetes Heim zurück. Empathie tritt oft nicht ein, und erst recht findet keine Diskussion über die Fluchtursachen, über Flüchtlingspolitik und über die zunehmend feindselige Stimmung im Land mit den Betroffenen statt."

Ganz anders erlebt Kaulertz Flüchtlinge und Migranten in den politischen Selbstorganisationen. "In diesen selbstorganisierten Räumen sind sie die politischen Akteure und nicht nur Objekte von Politik; sie stellen Handlungsfähigkeit her." Im Kreis von Menschen, die Ähnliches erlebt haben wie man selbst, seien auch völlig andere Gespräche möglich, brauche es manche Details nicht, weil die anderen wissen, wovon man redet. "Hier kann Rassismus thematisiert werden, und man muss sich nicht rechtfertigen, wenn man das Wort benutzt."

In der Öffentlichkeit werden diese Selbstorganisationen wenig wahrgenommen, zu einigen anderen, eher auf Akuthilfe ausgerichteten Strukturen ist das Verhältnis zum Teil sogar problematisch. Politiker nehmen Protestaktionen zum Teil als erpresserisch wahr und reagieren sehr empfindlich, wenn Flüchtlingen mit dem Slogan "Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört" auch ein Ende militärischer Interventionen und neokolonialer Wirtschaftspolitik fordern. "Manche der Beteiligten waren bereits in ihrer Heimat politisch aktiv, dort allerdings nicht unter demokratischen Bedingungen, wie sie sie hier erwarten. Fehlende Demokratie gehörte zu den Fluchtgründen genauso wie das nicht existierende Recht auf freie Meinungsäußerung, die Möglichkeit, gesellschaftliche Verhältnisse in Frage zu stellen." Viele Menschen auf deutscher Seite sind nur bereit, bestimmte Elemente des Protests zu hören, andere lehnen sie ab. In der postkolonialen Theorie nennt man das 'selektives Hören' bzw. 'strategische Taubheit'. Proteste werden oft nicht hinterfragt mit dem Ziel sie zu verstehen."

Dieses und weitere Themen werden bei dem vom 3.-6. März 2016 in Berlin stattfindenden interdisziplinären Kongress "Migration und Rassismus. Politik der Menschenfeindlichkeit" eine Rolle spielen. Die Veranstalter - die Neue Gesellschaft für Psychologie und der AStA der FU Berlin - wollen damit auf Defizite in der Flüchtlingspolitik und in den medialen Diskursen hinweisen und einen wissenschaftlichen Beitrag zum Thema leisten.


Anmerkung:
[1] Im Bundestag war 2015 auf Anfrage der Linken von durchschnittlich 80 Minuten die Rede.

26. Februar 2016


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