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BERICHT/040: Überraschung inbegriffen - nichtssagend vielversprechend ... (SB)


Angela Merkels Sprache
Eine Verpackungskünstlerin beschreibt die Welt

Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) vom 9. bis 12. März 2017 in Berlin: "Gesellschaftliche Spaltungen - Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit"


Merkel wird von vielen Bürger/innen wohlwollend als "Mutti der Nation" beschrieben, von andern wird sie pejorativ "Gutmensch" genannt. Ihr markanter Satz "Wir schaffen das" wäre ihr wahrscheinlich längst zum Verhängnis geworden, wenn das Flüchtlingsproblem für die Bundesrepublik nicht vorläufig - scheinbar - gelöst worden wäre bzw. nicht an die Grenze anderer Länder hätte verschoben werden können. Andererseits steht Merkel für eine Bundesrepublik, die unter ihrer Führung mehr exportiert hat als je zuvor (Waren, Waffen und Kapital), und für eine Bundeswehr, die noch nie an so vielen Orten der Welt stationiert war. Wie schafft diese ebenso bescheiden wie sachlich auftretende Kanzlerin es, die Bürger/innen wie selbstverständlich wiederum auf eine expansive Politik Deutschlands einzustellen sowie im Inneren anwachsende soziale Ungleichheiten zu ignorieren?

Beim Kongress "Gesellschaftliche Spaltungen - Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit" der Neuen Gesellschaft für Psychologie in Berlin wurde zur Beantwortung dieser Frage ihr mediales Verhalten sprachpsychologisch analysiert und die Frage diskutiert, ob das verbale Verhalten der Kanzlerin allenfalls als Manipulation zu verstehen ist und in welcher Beziehung dies vielleicht eher nicht der Fall ist. Ein Ziel der Untersuchung war die Bestimmung der kleinsten Einheit ihres verbalen Verhaltens.

Ein erstes Beispiel lieferte sie in ihrer Neujahrsansprache für das Jahr 2017. Die Kanzlerin sprach trotz des zurückliegenden Jahres voller "schwerer Prüfungen" von ihrer "Zuversicht". Die schwerste aller Prüfungen sei der "islamische Terrorismus" gewesen. Diese Mörder seien voller Hass, "aber wie wir leben und leben wollen, dass bestimmen nicht sie. Wir sind frei, mitmenschlich, offen".

Den Ursachen der Bedrohung wird nicht weiter nachgegangen; stattdessen wird ein schöner Satz über die eigene Freiheit, Mitmenschlichkeit und Offenheit angefügt. Dieses Verhaltensmuster wiederholt sich in allen Interviews und Reden mehrmals. So versprach Merkel in der Neujahrsansprache für das Jahr 2016, dass Deutschland im Kampf gegen den Terror des IS einen wichtigen Beitrag leisten werde, um übergangslos hinzuzufügen: "Unsere Soldatinnen und Soldaten stehen mit Leib und Leben für unsere Werte, unsere Sicherheit und unsere Freiheit ein. Dafür danke ich ihnen von Herzen".

Die Bundeskanzlerin intendiert eine weltmarktkonforme Politik, die als solche indes kaum je Eingang in ihre Präsentation findet. Merkel verfügt wie kaum eine zweite Politikerin über die Fähigkeit auszuweichen und auszulassen, sei dies durch ein passives Verschweigen wichtiger Sachverhalte oder sei es durch aktives Verschweigen im Sinne des Ungeschehenmachens eigener Entscheidungen und Verhaltensweisen, worunter Psychoanalytiker/innen verstehen, dieselben so zu präsentieren, dass eine dem Verschwiegenen entgegengesetzte Bedeutung zum Vorschein kommt. Was tabuisiert bleibt, wird offenbar ausschließlich im Namen einer verantwortungsvollen und humanen Politik gemacht. Indessen kommt das, was am Unausgesprochenen unmenschlich ist, andernorts zum Vorschein. Es wird auf missliebige Politiker anderer Länder (z.B. Putin), "islamistische Terroristen" oder auf "kriminelle Schlepper" projiziert.

An vielen Stellen von Merkels medialen Präsentationen werden die Fluchtursachen primär mit den "Schleppern" in Verbindung gebracht, die zu Zeiten der DDR noch "Fluchthelfer" hießen. Die Bürger/innen können so nicht erkennen, durch wen die wahren Fluchtursachen produziert werden. Auf die Bekämpfung der Fluchtursachen angesprochen, gibt Merkel den Leser/innen in einem umfangreichen Interview für eine große Boulevardzeitung zu verstehen, dass es mit der EU-Türkei-Vereinbarung gelungen sei, das Schlepperwesen einzudämmen und Menschenleben zu retten, was das wichtigste Ziel sei. Die Bekämpfung der Fluchtursachen sei indes nicht allein Aufgabe von Europa, "sondern eine humanitäre Verantwortung der ganzen Welt" (BILD, 3.9.16, S. 3).

Durch Ungeschehenmachen, Idealisierung und Projektion werden soziale, ökonomische und gesellschaftliche Ungleichheiten nivelliert. So spricht Merkel fast immer im Namen des deutschen Bürgers oder des Menschen schlechthin, dessen Freiheit, Frieden und Sicherheit sie hochhält. Indes nimmt sie soziale Probleme und Ungleichheiten ausschließlich dann wahr, wenn auf dieselben angesprochen, diese ihr gefährlich werden könnten. So weist sie darauf hin, dass niemand wegen der Flüchtlinge zu kurz käme. "Für Neiddebatten gibt es also keinen Anlass" (ebd., S. 3).

Die Kanzlerin ist eine Verpackungskünstlerin. Sie präsentiert ihre Realpolitik im Kontext schöner und manchmal auch guter Sätze. Den Eigenanteil der Bundesrepublik an der Produktion oder Reproduktion fragwürdiger Zustände maskiert sie mit geschickten rhetorischen Manövern, beispielsweise auch durch das Mittel der Empathie: In einem Sommerinterview der ARD zum Konflikt mit Griechenland befragt, bemerkte die Kanzlerin, dass die griechische Regierung inzwischen eingesehen habe, "dass das Land nur auf die Beine kommen kann, wenn auch wirklich Reformen da sind". Merkel weist darauf hin, dass sie "Verlässlichkeit" eingefordert habe, und sie fügt hinzu: "Wo immer wir helfen können, mit Logistik, mit Menschen, mit Ideen, wollen wir den Griechen bei Seite stehen, denn es geht um viel, wenn wir über Griechenland sprechen". - Eine junge Zuschauerin, die sich als Halbgriechin vorstellte, fragte: "Wie sehen Sie das? Drachme oder Euro? Oder geht es Ihnen wirklich um die Menschen in Griechenland?" Merkel antwortete ohne zu zögern: "Mir geht es immer um die Menschen. Mir geht es um die Menschen hier bei uns zu Hause und mir geht es auch um die Menschen in Griechenland. Aber wir müssen auf der anderen Seite uns natürlich auch auf einander verlassen können. Und deshalb sage ich der Zuschauerin, dass ich ihre Sorgen verstehe, dass ich auch weiß, was in Griechenland viele zu erleiden haben." Im Kontext dieser Sätze sprach Merkel mehrmals von der Notwendigkeit einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit in der EU u.a. durch Strukturreformen, scheinbar ohne sich bewusst zu sein, wie sehr in der Vergangenheit solche Reformen der Bundesrepublik zum wirtschaftlichen Ungleichgewicht innnerhalb der EU beigetragen haben (ARD-Sommerinterview, 16.8.2012).

Bei Bekanntgabe ihrer erneuten Kandidatur stellt die Kanzlerin sich als "alternativlos" im Sinne ihres für sie selbstverständlichen Weiter-so dar, obwohl sie sich mit ihrem globalen Wachstumskurs nun gezwungen sieht, entgegen dem Merkantilismus auch den Protektionismus zu berücksichtigen. Nach Merkels Meinung braucht das Land in diesen unruhigen Zeiten weiterhin jemanden mit ihren Fähigkeiten und ihrer Erfahrung: "Wir werden es mit Anfechtungen von allen Seiten zu tun haben", von rechts und von links, von innen und von außen. Anfechtungen auf unsere Werte, auf unsere Art zu leben" (ZDF-Nachrichten vom 20.11.16).

Merkel fragt nicht nach den Ursachen dieser Anfechtungen. Sie bevorzugt die Verklärung der Begriffe. Beispielsweise vertauscht sie den Begriff "Neoliberalismus" in vielen ihrer medialen Präsentationen durch ihr "überwältigendes Grundbekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft" oder ihre "expansive Politik" durch "Übernahme von Verantwortung in der Welt". Merkels Merkmal ist die Maskierung der Macht.

Ihr Verhalten bestimmt sich pragmatisch durch die jeweiligen Machtkonstellationen in der Welt, in Europa und in der BRD. Es basiert auf sogenannten Sachzwängen im Sinne von Margret Thatchers TINA-Formel: "THERE IS NO ALTERNATIVE". Politiker/innen, die dieser Formel nicht genügen, werden von der Funktionärin der Wirtschaft- und Finanzwelt als Populisten bezeichent. Von Wählerbeschimpfungen hält sie nichts. Nach einem Aufruf gegen die Eskalation der Sprache, die nur den Populisten weiterhelfen würde, fügt sie an: "Wenn wir anfangen, dabei mitzumachen, dass Fakten beiseitegewischt oder ignoriert werden können, dann sind verantwortbare und konstruktive Antworten in der Sache nicht mehr möglich" (Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag, 7.9.16).

Es lässt sich detailgenau nachweisen, dass Versprechungen und politisch relevante Aussagen der häufiger kurzfristig als längerfristig kalkulierenden Kanzlerin später der Realität kaum je standhalten oder noch viel häufiger: überhaupt nicht überprüfbar sind, weil sie zwar schön, aber meistens allgemein und nichtssagend sind.

Prof. Dr. Mark Galliker

14. März 2017


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