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BERICHT/051: Beteiligungsmodul Psychologie - Wenn ich ans Feuilleton denke ... (SB)


Titelseite des Programmflyers -Quelle: Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP)

Quelle: Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP)

Auf dem Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) 2019 in Berlin sprach der Schriftsteller und Dramatiker Prof. Michael Schneider über "Die Medien-Intellektuellen und den Kreuzzug gegen Aufklärung und konkrete Utopie". Im folgenden veröffentlicht der Schattenblick mit freundlicher Genehmigung von Prof. Schneider einen Auszug aus diesem Vortrag:

Quotendiktatur und anonyme Zensur
Michael Schneider: "Es liegt Mehltau auf der Gesellschaft"

Der Schlachtruf des Neoliberalismus Alle Macht den Märkten! bedeutet auch für die Multimedia-Industrie Markterweiterung um jeden Preis. Infolgedessen wird heute die Programmpolitik der großen Multimedia-Konzerne gnadenlos dem Diktat der Quote unterworfen. Durch das Privateigentum an den Medien und die Patronage der großen Werbekunden erfolgt eine generelle Anpassung der Programmausrichtung an die Bedürfnisse der großen Firmen. Das zentrale Operationsziel eines Massenmediums liegt daher in der Erhöhung der Zahl seiner Hörer, Leser oder Zuschauer, nicht in einem breiten Angebot hochwertiger Unterhaltung und Information. So ist denn auch einer jüngst veröffentlichten Studie zufolge der Anteil der Nachrichtensendungen bei den privaten Kanälen auf 0,5 Prozent des Gesamtprogramms gesunken - zugunsten von Sport, Gewalt, Krimis und Sex.

Mit der Herausbildung der weltumspannenden Medienkonzerne im "global village" hat sich der Kampf um Marktanteile derart verschärft, dass auch die öffentlich-rechtlichen Sender immer mehr unter Druck geraten sind und die Quote zu ihrem obersten Leitprinzip erhoben haben, auch wenn ihre Programmchefs dieses factum brutum noch so sehr zu bemänteln suchen. Die Diktatur der Quote hat letzten Endes eine viel nachhaltigere und wirksamere Zensur (und Selbstzensur) im Gefolge, als jede staatliche Zensurbehörde sie durchzusetzen vermag. Denn sie vollzieht sich anonym, vermittelt nur über den Druck und die "natürliche Auslese" des Marktes. Darum ist sie auch schwerer fassbar und angreifbar als die klassische Zensur einer staatlichen Aufsichtsbehörde. An deren Stelle ist heute die anonyme Zensur des Marktes getreten, die sich als Schere im Kopf der meisten Medienmacher reproduziert. Die Medien als vierte Gewalt im Staat nehmen denn auch immer weniger ihre kritische und aufklärerische Kontrollfunktion wahr, die ihnen das Grundgesetz zuweist. Unter dem Diktat der Einschaltquote und der Auflagensteigerung degenerieren sie vielmehr zu Agenturen einer globalen Unterhaltungs- Zerstreuungs- und Verdummungsindustrie und werden immer mehr zum Sprachrohr der Regierungspolitik.

Am Beispiel des Golfkrieges von 1991 konnte man sehen, wie die US-Propagandalügen und die Bilder der vom Pentagon zensierten Kriegsberichterstattung, die per CNN um den Globus gingen, die Weltöffentlichkeit manipulierten, bis auch der letzte deutsche TV-Moderator und Nachrichtensprecher und das letzte deutsche Käseblatt die Propagandalügen des Pentagon wiederkäute. Im Falle des Golfkrieges von 2003 allerdings konnte - dank der allzu offenkundigen Lügen der Bush-Regierung und der vielen Patzer der US-Propagandaabteilungen, vor allem aber dank der massiven Mobilisierung und Aufklärung einer weltweiten Friedensbewegung - dieser globale mediale Konsens nicht wieder hergestellt werden. Ein Hoffnungszeichen für die Zukunft!

Umso durchschlagender war die multimediale Gleichschaltung im Falle des NATO-Krieges gegen das serbische Rest-Jugoslawien, der ebenfalls ohne Kriegserklärung und völkerrechtliche Grundlage geführt wurde. Der Konsens, wonach es sich hierbei um einen "gerechten Krieg" zur Verhinderung einer "humanitären Katastrophe" handle, wurde in den freien Demokratien des Westens so flächendeckend und effizient durchgesetzt, wie man es sonst nur von totalitären Regimen kennt. Dieser Konsens erstreckte sich über das gesamte Rechts-, Liberal- und Pseudolinks-Spektrum und reichte von Springers Imperium über Augsteins Nachrichtenmagazin bis zur Süddeutschen Zeitung, der ZEIT und der taz. Und hätten zwei mutige Redakteure des kritischen ARD-Magazins Monitor nicht vor Ort nachrecherchiert, hätte die deutsche Öffentlichkeit wohl nie erfahren, dass es sich bei etlichen "Dokumenten" und "Beweisstücken", mittels derer Rudolf Scharping seinerzeit bei Pressekonferenzen der deutschen Öffentlichkeit zu suggerieren suchte, im Kosovo gehe es darum, ein "zweites Auschwitz" zu verhindern, um manipulierte Propagandamaterialien der albanischen UCK und ihr nahestehender Geheimdienste handelte.

Die medial gesteuerte Öffentlichkeit hat auch das Bild und die Rolle der Intellektuellen radikal verändert, wie Régis Debray in seinem Buch "I.F. - Suite et Fin" (deutsch: "Französische Intellektuelle. Fortsetzung und Ende") 2001 dargelegt hat. In groben Zügen zeichnet Debray die Karriere des französischen Intellektuellen vom "ursprünglichen Intellektuellen" zum "endgültigen Intellektuellen nach - eine Diagnose, die sich problemlos auch auf die Karrieren deutscher Intellektueller beziehen ließe. Mit den "ursprünglichen Intellektuellen" verbindet sich nach Debray die Affäre Dreyfus, in der der Begriff des Intellektuellen als Kampfbegriff geprägt worden ist. Bekanntlich setzte sich der Schriftsteller Emile Zola damals gegen die Übermacht der öffentlichen Meinung und fast der gesamten Elite in Wirtschaft, Staat und Militär für den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus ein, der zu Unrecht des Landesverrats bezichtigt und in einem unbeschreiblichen Militärstrafverfahren verurteilt worden war. Zola und viele andere europäische Intellektuelle standen fortan für Aufklärung und Emanzipation, Autonomie und Kritik und bildeten - obschon machtlos - eine mentale Gegenmacht zur sogenannten Realpolitik und zum herrschenden Konsens.

Der "endgültige" Intellektuelle dagegen - so Debray - ist keine Gegenmacht mehr, er steht nicht mehr für eine "dritte Sache", er streitet nicht mehr für Gerechtigkeit oder für eine bessere Gesellschaft, sondern er wechselt seine geistigen und politischen Magazine im Rhythmus der Konjunktur aus, um am Mainstream teilzuhaben. So wird er zum Bestandteil des Betriebs der Mächtigen in den Medien bzw. zum Sprachrohr der Eliten in Politik und Wirtschaft. Er ist zum Medien-Intellektuellen geworden, der sich erstens selbst verkauft und vermarktet, und zweitens das, was der Betrieb verlangt.

Zu den derzeit bekanntesten Medien-Intellektuellen der französischen Szene gehören Bernard-Henri Lévy, André Glucksmann und Philippe Sollers, die sich in vielen Gazetten und Medien mit ihren pfannenfertigen Instant-Meinungen, seichten Hypothesen und Fast-Think- Prognosen tummeln. Leicht lassen sich zu ihnen die zeitgenössischen deutschen Pendants aufzählen. Unübertroffen, ja exemplarisch für den flinken Wechsel von Meinungen und Ansichten im Gezeitenwechsel der politischen Konjunkturen ist der ehemalige Kursbuch-Herausgeber Hans Magnus Enzensberger. Den Ruf als wendigster Intellektueller der BRD hat sich der Essayist und Schriftsteller Enzensberger im Verlauf von Jahrzehnten erworben. Er wurde so zum tonangebenden und höchstbezahlten Kulturkritiker des Landes und folgerichtig zum Sprachrohr des neuen Zynismus - flexibel bis zur Identitätslosigkeit - und zum Lieblingsintellektuellen des liberalen und konservativen Feuilletons, in Sonderheit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, deren Weltbild er früher einmal mit scharfer Zunge zerpflückt hatte. Getreu der CIA-Sprachregelung sah er in Saddam Hussein einen "Wiedergänger Hitlers" und zieh die deutsche Friedensbewegung einer verantwortungslosen Appeasement-Politik. Ins gleiche Horn tutete Wolf Biermann, der sich seither in eisenfressenden Antipazifismus-Bekenntnissen überbietet und dafür auch noch - welche Groteske der Geschichte - mit dem Heinrich-Heine-Preis beehrt wurde.

Exemplarisch für die konjunkturbewusste Aufkündigung der Rolle des engagierten, der Aufklärung verpflichteten Intellektuellen ist auch der Fall des Schriftstellers und stets medienpräsenten Zeitkommentators Martin Walser. Seine Haltung des "radikalen" Zweifels und der Aufklärung gab er schon 1979 in dem Essay "Händedruck mit Gespenstern" preis. Seither adaptierte Walser immer häufiger Argumente und Sprache der "konservativen Revolution". Begriffe, wie Aufklärung, Emanzipation, Kritik, Utopie wurden für ihn zu negativen Reizwörtern. Worte wie Nation, Volk, Heimat und Deutschtun dagegen gewannen für ihn an Bedeutung. Indem die Linke alles Nationale "ausgeklammert und rückhaltlos kritisch behandelt" habe, so Walser, habe sie es in den Untergrund gezwungen und so das Treiben der Skinheads und Neonazis erst provoziert.

Dass Ernst Jünger in der BRD zur Gallions- und Referenzfigur der Neuen Rechten wurde, verwundert nicht. Verwunderlich dagegen war allerdings der spektakuläre Schulterschluss von Botho Strauß mit Jüngers gegenaufklärerischem Weltbild in seinem viel diskutierten SPIEGEL-Essay "Anschwellender Bocksgesang" von 1993. Strauß erklärte darin das Zeitalter des "kritischen Bewusstseins" für beendet. An den Pranger stellte er den Freiheits- und Emanzipationsgedanken der Aufklärung und diejenigen, die diese Gedanken nicht auf dem Popaltar der Postmoderne geopfert wissen wollten - allen voran die liberale Linke.

Dieses linke atheistische Spötterheer habe durch seine "Verhöhnung des Eros ..., des Soldaten ... der Kirche, Tradition und Autorität" die "Überlieferung" verdorben und eine Katastrophe angerichtet. An die Stelle dieses "faulen Befreiungszaubers" gehöre daher das Programm einer "Gegenaufkärung". Sie habe zu sein: "Hüter des Unbefragbaren, der Tabus und der Scheu". Denn Wirklichkeit, Geschichte und Gegenwart würden geprägt und bestimmt durch mythische und magische Muster.

Es ist bezeichnend für den deutschen Literaturbetrieb der Nachwende-Zeit, dass dieses, an Jünger und Heidegger erinnernde dunkle und elitäre Geraune sogleich von zahllosen Kommentatoren als "tiefe Einsicht" und "dernier cri" der Erkenntnis geadelt wurde. Wenn Strauß in seinem Anti-Aufklärungsmanifest von "Demokratismus" spricht, fällt er - wie etliche andere "Denker" und Historiker der Neuen Rechten in gefährliche vordemokratische Denkmuster zurück. Platz schaffen für ein neues Nationalgefühl - gebetsmühlenartig propagieren bzw. propagierten das nicht nur Martin Walser und Botho Strauß, sondern auch Arnulf Baring, Hage Schulze, Michael Stürmer, der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer sowie in der Schwundform der Phrase auch der SPIEGEL-Kulturchef Matthias Matussek in seinem Erbauungsbuch "Wir Deutschen". In der Sprache der Politik heißt das: Deutschland müsse entsprechend seiner mit der Einheit gewachsenen Größe und wirtschaftlichen Stärke auch wieder mehr Verantwortung in der Welt übernehmen und seinen, aus altem Schuldgefühl und "negativem Patriotismus" resultierenden militärischen Absentismus, endlich überwinden.

Das Geschäft der Medienintellektuellen - angefangen von der Form der Scheindebatten in Talkshows, über die von zwei, drei Leitmedien intonierten und dann von allen anderen beflissen übernommenen "An- und Aufreißerthemen" bis zu den Umgangsformen der öffentlichen Debattanten - erweist sich Debray zufolge als "kollektiver Autismus". Der Medien-Intellektuelle begreift und definiert sich nur noch durch sein Milieu, das sich seinerseits durch sein Medium - TV-Kanal, Radiosender, Zeitung - definiert. Sein mediales Ich bildet sich nur noch im Milieu von seinesgleichen. Entsprechend verkümmern die intellektuellen Debatten von früher zu kurzatmig-fernsehgerechten Wörterzank, in dem ein paar Dum-Dum-Begriffe hin und her geschossen werden.

Das "Modell Bundesrepublik" wird von diesen Medien-Intellektuellen wie von der Politik als das beste auf Erden präsentiert. Damit wird jeder Sollwert, der über den glorreichen Ist-Zustand der deutschen Gesellschaft hinausweist, erst recht jede "konkrete Utopie" im Bloch'schen Sinne, als "demagogisches Hirngespinst" oder als "Rückfall in den Steinzeit-Kommunismus" denunziert. Das TINA-Syndrom (There Is No Alternative) hat sich wie Mehltau über die ganze Gesellschaft gelegt.

11. März 2019


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