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INTERVIEW/006: Quo vadis Sozialarbeit? - Zeitgemäß human? (SB)


"Wie ein Meißel aus Seife"

Gespräch mit Prof. Dr. Hans Thiersch auf dem 8. Bundeskongress Soziale Arbeit am 14. September 2012



Man kann - mit Respekt - Hans Thiersch als ein Urgestein der deutschen Sozialpädagogik bezeichnen. Geboren 1935 in Recklinghausen, ist er seit über 50 Jahren für die Profession unterwegs. Sein Begriff der 'Lebensweltorientierung' hat einen Paradigmenwechsel in Wissenschaft und Ausbildung künftiger Sozialarbeiter und Sozialpädagogen herbeigeführt und über den 8. Jugendbericht der Bundesregierung [1] 1990 Eingang in die Politik gefunden.

Noch heute mischt sich der 77jährige, emeritierte Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik der Universität Tübingen gerne ein, hält Vorlesungen, engagiert sich im "Bündnis Kinder- und Jugendhilfe für Profession und Parteilichkeit" oder auf dem 8. Bundeskongress Soziale Arbeit in Hamburg, der mit über 1000 Teilnehmern aus dem gesamten deutschsprachigen Raum einen enormen Informations- und Auseinandersetzungsbedarf dokumentierte.

Daß die Hauptredner auf diesem Kongress, neben Prof. Hans Thiersch die Sozialpädagogin Prof. Dr. Mechthild Seithe, der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Christoph Butterwegge und der Pädagoge Prof. Dr. Michael Winkler, alle der Generation 60plus angehörten, läßt fragen, ob sich entweder seit dem Aufbruch der Sozialen Arbeit in den 1970er Jahren nichts wesentlich Neues getan hat oder ob die Angehörigen dieser noch recht jungen Wissenschaft sich angesichts eines immer hemmungsloseren kapitalistischen Raubsystems, das vor allem zu Lasten derer geht, die am unteren Ende der Gesellschaft stehen, auf Werte und Forderungen besinnen, die nach wie vor ihrer Einlösung harren.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Hans Thiersch bei seiner Abschlußrede
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In seiner Abschlußrede plädierte Hans Thiersch für ein 'Projekt sozialer Gerechtigkeit', das aus Objekten fürsorgerischer Verwaltung Subjekte eigener, auch abweichender Lebensentwürfe macht. Dabei müsse, gerade angesichts einer Entgrenzung der Gesellschaft, in der traditionelle Strukturen sich auflösen, einer Unterwerfung der Sozialen Arbeit unter betriebswirtschaftliche Konzepte sowie ihrer Tendenz zu Privatisierung und Reduktion auf Kontrolle und Disziplinierung "in einer Gesellschaft, die Geld hat, aber an den falschen Stellen" das, was als soziale Gerechtigkeit gelten soll, immer wieder neu ausgehandelt werden.

Hilfe zur Selbsthilfe dürfe nicht zur zynischen Rede werden, der Fokus nicht allein auf frühkindlicher Bildung und Erziehung liegen nach der Maßgabe "die müssen ihre Chance bekommen, die anderen hatten sie schon." Niemals dürfe der Mensch zum Zweck genommen werden. Weil Menschen Menschen sind, hätten sie ein Recht auf Anerkennung und Teilhabe. Gerechtigkeit bedeute Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und den Respekt davor.

In diese gesellschaftliche Auseinandersetzung müsse Soziale Arbeit sich einmischen, auf die Einhaltung verfassungsmäßig garantierter Rechte insistieren und da, wo dies zu wenig geschieht, aufklären - das sei ihr eigentliches Geschäft. Sie dürfe sich nicht auf die Rolle des Zulieferers reduzieren lassen, auf die Förderung der Tüchtigen, die alle diejenigen, die nicht mithalten können, in einer "Extraklasse als Zusatzversorgung abhängt". Thiersch wandte sich gegen die Revitalisierung einer Moral, die den Einzelnen als Regisseur seines Lebens in die alleinige Verantwortung nimmt. Soziale Arbeit dürfe sich nicht ihre Konzepte aus der Hand nehmen lassen, sich nicht auf einen Abtausch zwischen Institutionen beschränken, sondern müsse in einem politisch lebendigen Gemeinwesen Parteilichkeit als ihr spezifisches Mandat wahrnehmen, sensibel für die Vielfältigkeit von 'Kollateralschäden', Belastungen und Überforderungen einer neoliberalen Entwicklung gesellschaftlichen Reichtums "ohne die Bevölkerung, die man nicht braucht."

Der Schattenblick hatte die Gelegenheit, Herrn Thiersch am Rande des Kongresses zu Konzepten und Entwicklungen und zur Relevanz einer Sozialen Arbeit zu befragen, die sich weder dem Diktat fortschreitender Ökonomisierung unterwirft, noch hinter emanzipativen Begrifflichkeiten bloß versteckt.

Prof. Dr. Hans Thiersch - Foto: © 2012 by Schattenblick

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Schattenblick (SB): Zu Anfang würde ich gerne noch einmal in die Vergangenheit steigen. Sie haben in den 1970er Jahren den Begriff der 'Lebensweltorientierung' in die Debatte der Sozialen Arbeit gebracht und damit einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Was heißt Lebensweltorientierung?

Hans Thiersch (HT): Da sprechen Sie ein großes Wort gelassen aus (lacht). Das auszubuchstabieren, ist sozusagen der Inhalt meiner Lebensarbeit. Lebensweltorientierung meint im Prinzip, daß der Ausgang aller Sozialen Arbeit die Frage danach sein muß, wie die Menschen in ihren Lebensverhältnissen zu Rande kommen oder nicht. Das heißt, daß man den Menschen nicht einfach als Subjekt oder Träger von Eigenschaften oder Kompetenzen sieht, sondern als jemanden, der sich mit den Verhältnissen, in die er hineingeboren wird, auseinandersetzen muß und der in der Auseinandersetzung mit dieser Lebenswelt seine Identität findet. Es ist ein interaktionistisches Paradigma. Für die Soziale Arbeit hat das die Pointe, nicht nur psychologisierend nach dem Einzelnen, sondern nach den Verhältnissen zu gucken, also den Menschen in seiner Familie, in Freundschaften, in Arbeitsgruppen, in sozialen Zusammenhängen, in seinem Stadtteil zu sehen. Was man heute Regionalisierung der Sozialen Arbeit nennt, lokale Arbeit oder Gemeinwesenarbeit, ist alles in der Lebensweltorientierung mit gemeint. Das ist das Erste.

Das Zweite ist, daß man den Menschen in seiner Lebenswelt sieht als einen, der guckt, wie er seine Verhältnisse bewältigt. Mein Freund Lothar Böhnisch [2] hat in der Weiterführung dazu den Begriff der Lebensbewältigung entwickelt. Das bedeutet, daß wir da, wo Menschen mit der Bewältigung ihrer Angelegenheiten nicht mehr zu Rande kommen, eingreifen. Es geht primär nicht um Therapie und auch nicht nur um materielle Probleme, sondern darum, wie ich im Alltag zu Rande komme. Wie ich zum Beispiel Arbeitslosigkeit mit mir selber ausmache, wie ich in dieser Situation mit meinen Freunden umgehe, mich vor meinen Kindern verhalte, wie ich das Alleinerziehen händele oder wenn jemand in einer Familie trinkt oder depressiv ist. Für die Soziale Arbeit hat das Konsequenzen. Man muß von den Deutungsmustern der Menschen und dem Repertoire, das sie haben, ausgehen und nicht von professionellen Vorstellungen, die man ihnen überstülpt. Soziale Arbeit im ganz wörtlichen Sinn ist eine, die versucht, in den Lebensverhältnissen zu arbeiten, gleichzeitig aber, im Namen von Gerechtigkeit die Lebensverhältnisse nicht nur hinzunehmen, nicht nur Kumpel in diesen Verhältnissen zu sein, sondern sie zu verbessern. Ich habe deshalb von der Spanne zwischen dem Alltag und dem gelingenderen Alltag gesprochen. Soziale Arbeit - so das Konzept - versucht, auch mit den Ressourcen, den Potentialen, den Möglichkeiten von Freundschaft, Verwandtschaft etc. so zu arbeiten, daß Veränderungen möglich sind und Optionen eingelöst werden können, in denen Menschen dann vielleicht geschickter oder glücklicher mit ihrem Leben sind. Wir müssen mit den Ressourcen der Lebenswelt arbeiten, müssen aber auch respektieren, daß die Leute einen Stolz haben, daß sie versuchen, Fehler zu verstecken, daß sie ein Stigma managen. Das heißt, wir müssen sie wirklich ernst nehmen, so wie sie sich selbst sehen und verstehen, und das ist ungeheuer schwer. Denn die Sozialarbeit hat natürlich Vorstellungen, wie Menschen leben sollten und geht immer wieder mit mittelschichts- oder geschlechtsspezifisch-klischierten Vorstellungen da heran, lässt sich nicht wirklich ein auf diese Verhältnisse. Insofern ist Lebensweltorientierung institutionenkritisch.

Aber sie geht, im Gegensatz zu manchem, was in der radikalen Kritik formuliert worden ist, davon aus, daß wir die Ressourcen des Sozialstaats nutzen müssen. Wir brauchen eine Professionalität, die nicht, wie die Medizin zum Beispiel, ihre Besonderheit vor sich herträgt, die eine eigene Sprache hat und das betont, sondern eine Profession, die versucht, sich auf die Lebenswelt einzulassen und die Menschen in ihren Möglichkeiten zu unterstützen. Franz Hamburger [3], der ja hier auch auf dem Kongress war, hat, wie ich finde, den sehr schönen Begriff des Transzendierens gebraucht und gesagt: teilhaben an der Lebenswelt und sie transzendieren im Namen von Optionen!

Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Hans Thiersch im Gespräch mit SB-Redakteurin
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SB: Sie haben damit meine nächste Frage eigentlich schon beantwortet, nämlich die, welchen Stellenwert die Lebensweltorientierung in der heutigen Debatte hat. So, wie ich Sie verstehe, scheint sie mir sehr aktuell zu sein. Wie wird das von der Profession aus gesehen?

HT: Das ist etwas schwierig zu beantworten. Soweit ich das sehe, ist Lebensweltorientierung ein weithin akzeptiertes Paradigma, vor allen Dingen auch in den Konsequenzen. Das heißt, daß die Institutionen so eingerichtet werden müssen, daß sie in der Lebenswelt ankommen. Im 8. Jugendbericht der Bundesregierung ist der Begriff offiziell in sogenannte Strukturmaximen gefaßt geworden: Alltagsnähe, sozialräumliche Nähe, Prävention, Partizipation, Integration und Einmischung. Von da aus hat sich die Jugendhilfe verändert. Vor 1960 gab es Heimerziehung, inzwischen gibt es Beratung, vollstationäre und teilzeitstationäre Angebote, Netzwerke der Unterstützung. Vor allem gibt es Familienhilfe, Straßensozialarbeit, Arbeit mit Obdachlosen unter pädagogischen und nicht nur karitativen Vorzeichen. Das heißt, es hat sich ein ganz vielfältiges System von relativ unterschiedlich sensiblen Institutionen etabliert, die den Menschen in ihren Lebensverhältnissen nachgehen, den wilden Buben auf der Straße, den ausgerissenen Mädchen, den Familien, die nicht zu Rande kommen, indem jede Woche jemand für drei Stunden kommt und hilft, das Familienleben zu stabilisieren. Andersherum ist Heimerziehung für uns heute nicht mehr eine Anstalt wie früher, sondern es sind Wohnmöglichkeiten, die wie eine Lebenswelt mit Elternarbeit und einer Eingliederung in die Community und so weiter gestaltet werden.

SB: Kritiker sagen, der Begriff Lebensweltorientierung sei zu unscharf und zu wenig praktikabel. Manchen gilt er sogar als "schäbiges Selbsthilfeangebot". Was antworten Sie auf diese Kritik?

HT: Es gibt eine Diskussion über 'Lebenswelt' in der Philosophie, die auf Husserl zurückgeht und über Heidegger bis heute zu Bourdieu. Es gibt eine soziologische Diskussion mit Goffman, mit Berger/Luckmann. Es gibt eine philosophische Kritik von Blumenberg. [4] Das heißt, es ist ein Begriff, an den sich eine ganz kräftige, sehr differenzierte und nunmehr ungefähr 100 Jahre dauernde Diskussion knüpft. Man könnte sagen und ich vertrete das auch, daß Lebenswelt und Alltag in einer gewissen Weise Thema des vorigen Jahrhunderts waren. Nach dem Ende der Metaphysik - und so war die Intention bei Heidegger, der wunderbar über den Alltag und seine verschiedenen Dimensionierungen und Schwierigkeiten geschrieben hat - hat der Mensch plötzlich gemerkt, wo er lebt. Und so, wie er sich plötzlich entdeckt hat in der Zeitlichkeit, hat er sich auch in seinem Alltag entdeckt. Lebenswelt hat ja Charakteristika: Sie ist pragmatisch, sie neigt zu Routinisierungen, sie hofft auf Fortsetzung der Verhältnisse und sie fragt danach, wie ein Mensch sich in Raum, Zeit und Verhältnissen selbst plaziert. Vor allen Dingen nimmt sie auch das Kleine ernst, also das, was man sonst immer verachtet hat: daß die Kinder auch gewickelt werden müssen, daß der Tisch gedeckt werden will und daß man irgendwo mit seinem Mann klarkommen muß, wer wann mit den Kindern zum Arzt geht und sich dafür frei nimmt. Die Frage, wie ich mein normales alltägliches Leben organisiere, ist zunehmend zum Thema geworden. Insofern ist die Behauptung, der Begriff sei zu weit gefasst ist, etwas dumm. Man muß im Einzelnen gucken, wie er definiert wird, und da gibt es höchst unterschiedliche Diskussionen, die sehr intensive von Habermas über System und Lebenswelt, die in der Sinusforschung über die verschiedenen Milieus und ihre Lebenswelten und andere. [5]

In der Sozialen Arbeit hat das Konzept Lebensweltorientierung dazu gedient zu sagen: Soziale Arbeit ist nicht um der Institutionen willen da. Sich auf den Rohstoff Wirklichkeit einzulassen - um es mit dem schönen Begriff von Oskar Negt [6] zu sagen - ist ihr eigentliches Thema, auch gegenüber Therapeuten oder Juristen. Das Konzept Lebensweltorientierung lebt davon, daß es für die Praxis ausgelegt wird, daß es Konsequenzen für die Diagnose, für die Organisation der Sozialen Arbeit hat. Darüber wollen wir streiten, aber nicht darüber, ob der Begriff Lebenswelt an sich Unsinn ist. Von Nida-Rümelin [7] gibt es die eine sehr schöne Bemerkung, man könne irrsinnig über Lebensweltorientierung streiten, aber zwischen all den verschiedenen Definitionen gäbe es eine Übereinstimmung: sie wäre der Versuch eines neuen Realismus in der Philosophie und der Sozialwissenschaft. Unter diesem Label sollte man das diskutieren.

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Prof. Dr. Mechthild Seithe im Gespräch mit Hans Thiersch
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SB: Mechthild Seithe hat kürzlich auf die Gefahr hingewiesen, der Ruf möglicher kritischer Ansätze in der Sozialen Arbeit könne weitgehend in den wissenschaftlichen vier Wänden der eigenen Profession verhallen. Wie läßt sich das verhindern und was bringt in diesem Zusammenhang ein solcher Kongress?

HT: Ich denke, der Kongress gibt sich gerade Mühe, es andersherum zu machen und zu reflektieren, wo es Praxisprobleme gibt. Natürlich gibt es eine wissenschaftliche Sprache, die schwer verständlich ist, wissenschaftliche Themen in einer sich differenzierenden Gesellschaft, die speziell verhandelt werden. Aber ich denke, daß die Soziale Arbeit insgesamt eine relativ pragmatische Wissenschaft ist.

SB: Obwohl ja hier auch ganz viel von dem Bruch zwischen Profession und Praxis gesprochen wurde.

HT: Das ist ein uraltes und sicher noch nicht eingelöstes Projekt. Es hängt, glaube ich, auch damit zusammen, daß die Soziale Arbeit dadurch, daß sie sich auf die Lebensverhältnisse und die alltäglichen Bewältigungsmuster einläßt, sehr dicht am Alltag ist. Und Alltag ist ja dadurch charakteristiert, daß man nicht über ihn nachdenkt, sondern daß man etwas tut und daß es funktioniert. Alltag hat also ein pragmatisches Interesse. Diesen Bruch gibt es in jeder anständigen Wissenschaft. Der Philosoph Karl Popper [8] hat gesagt: Das Kriterium in der Wissenschaft ist die Falsifikation, Handeln dagegen will Erfolg haben. Ich kann ja einem Kind nicht helfen, indem ich mal gucke, ob es scheitert, sondern ich muß gucken, daß es was wird. Das heißt, die Logiken sind verschieden und das darf nicht verwischt werden. Wissenschaft gibt keine unmittelbaren Praxisanregungen oder -vorschriften, aber sie analysiert Praxis und sie entwirft natürlich Maximen für ihre Weiterentwicklung. Die beiden müssen sich reiben, sie müssen sich aufeinander beziehen. Das bedeutet, daß ich als Wissenschaftler weiß, daß ich nicht alles übersehe, was Praktiker tun und daß die auch eine eigene Alltagskompetenz haben. Es sind zwei verschiedene Zugangsweisen, die eine eher handlungs- und erledigungs- und die andere eher prüfungsorientiert. Abgekürzt will die Wissenschaft Wahrheit erhärten, und Praxis will Erfolg haben und handeln und irgendwie durchkommen. Das muß aufeinander bezogen werden, damit die Strukturen klar werden, denn der Alltag und die Praxis neigen dazu, sich nicht aufklären zu wollen über die eigenen Bedingungen, weil man so drinsteckt, und die Wissenschaft dazu, nur ihre eigenen Dinge weiter zu verfolgen.

SB: Eine wunderbare Antwort, die ich manchem Teilnehmer gegönnt hätte, aber er kann sie ja nachlesen. In einer Information zum Studiengang Soziale Arbeit heißt es am Ende: "Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen und -innen orientieren sich bei ihrem Studium, bei ihrer Ausbildung und bei ihrer Tätigkeit an den Bedürfnissen der Bürger und Bürgerinnen sowie den Interessen der Gesellschaft und ihrer Institutionen." Ist ein solcher Spreizschritt nicht Augenwischerei und von vornherein zum Scheitern verurteilt?

HT: Da gibt es diesen alten, wunderbaren Satz von dem Psychologen und Theologen Schleiermacher [9], der gesagt hat, Erziehung habe eine doppelte Aufgabe: Sie soll die Menschen tüchtig machen, in die gegebenen Verhältnisse einzutreten und ebenso tüchtig, an ihrer Veränderung mitzuwirken. Ich finde, das ist eine sehr schöne Bestimmung. In unsere Sprache übertragen: Natürlich muß Sozialarbeit sehen, daß Menschen sich in dieser Welt behaupten können, also arbeitsfähig sind, daß sie lesen und schreiben können, daß sie 'lebenstauglich' sind auch in sehr schwierigen Verhältnissen. Sozialarbeit ist ja mit Menschen beschäftigt, die irgendwo hängenbleiben und darin scheitern. Insofern arbeitet sie daran, daß sie Optionen haben und daß diese Optionen auch einlösbar sind. Sie arbeitet nicht am Gelingen, sondern an einem gelingenderen Verhältnis: Kinder können klüger werden, alte Menschen können glücklicher leben, und Soziale Arbeit arbeitet an diesen Verbesserungen.

Soziale Arbeit verteidigt aber auch das Lebensrecht von Leuten, die mit den Verhältnissen nicht zu Rande kommen wollen. Sie läßt sich darauf ein, daß Menschen auf der Straße auch Unterstützung brauchen, zum Arzt gehen zu können, nicht mit dem kaputten Gebiß herumlaufen zu müssen und Angst zu haben, weil sie nicht wissen, was der Arzt mit ihnen anstellt. Da braucht es Räume, wo man Menschen Absonderlichkeiten zugesteht und wo man sagt, das ist eben anders, als ich es mir gedacht habe, aber irgendwie müßt ihr klarkommen.

Prof. Dr. Hans Thiersch im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Es gab ja in der Sozialen Arbeit eine Zeitlang den schönen Begriff des Eigen-Sinns -

HT: - den ich kräftig benutzt habe -,

SB: - der gegen jede Normatierung sozialer Bedürfnisse in dem Sinne, wie Sie das gerade geschildert haben, den Eigenentwurf möglicher abweichender Lebenskonzepte stärken wollte. Läuft dieser Begriff, dessen Wiedereinsetzung von den Kritikern einer auf bloße Vernutzung des Menschen gerichteten Sozialen Arbeit jetzt gefordert wird, nicht Gefahr, die Adressaten als potentielle Delinquenten abzuwerten bzw. eine Spaltung zwischen den nützlichen, weil anpassungswilligen und den eigensinnigen zu befördern?

H T.: Alle Begriffe werden natürlich unterschiedlich und auch gegen ihre Intention benutzt. Ich nenne das Enteignungsprozesse. Herr Hüther [10], der, finde ich, ein sehr kluger Neurobiologe ist, reitet neuerdings darauf herum, daß niemand es für möglich gehalten hätte, daß Mongoloide Abitur machen. Aber es gibt die ersten, die das können, wenn man, wie er sagt, entdeckt, wo ihre eigensinnigen Talente sind. Eigensinnigkeit meint ein Plädoyer dafür, daß Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit ernst genommen werden, daß sie ein Recht darauf haben, nicht nach einem Schema betrachtet zu werden, sondern in dem Profil dessen, was sie können und wollen, auch in ihrer eigenen Geschichte, ein Recht auf Ausnahmen, auf Besonderheiten. Das ist nichts anderes als das, was Humboldt [11] in der Bildungstheorie gesagt hat, daß es nämlich darauf ankäme, daß der Mensch seine Individualität ausbilde. Jeder Mensch ist, so habe ich ihn gelesen, ein Kosmos in sich selbst. Das zu entdecken und es nicht tot zu machen in modularisierten Lernerwartungen, in Reglementierungen oder bei uns in der Jugendhilfe in Rollenklischees, das ist die Intention. So gesehen ist es ein Begriff, der versucht, stark zu machen, sensibel zu sein für die jeweils eigenen Wege, die Menschen gehen und sie darin zu unterstützen, weil, ich zitiere jetzt noch einmal Herrn Hüther, wenn die Menschen nicht das Gefühl haben, daß es ihr Eigenes ist, sind sie sowieso "irgendwie neben der Kapp".

Prof. Dr. Hans Thiersch im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

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SB: Soziale Arbeit ist ja von ihrer Entstehungsgeschichte im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert her immer schon mit dem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem verbunden. Gerät eine emanzipative Sozialarbeit nicht irgendwann zwangsläufig und notwendigerweise in einen ernsthaften Konflikt mit dem System?

HT: Wir leben in einer Gesellschaft mit sehr unterschiedlichen Bestrebungen und Interessen. Ich gehe von einem Modell des Sozialphilosophen Heimann [12] in den 20er Jahren aus, wonach unsere Gesellschaft im Konflikt zwischen Wirtschafts- und sozialen Interessen lebt und immer wieder versucht, einen Kompromiß herzustellen. In den 60er Jahren war der relativ glücklich, inzwischen wird er wieder zurückgenommen angesichts einer neuen Dominanz von Kapitalinteressen. Aber ich kann überhaupt nicht sehen, daß es Gründe gibt, daß wir uns aus dieser Spannung entlassen. Aufgabe der Sozialen Arbeit ist es in diesem Falle, sich auf die Seite der Sozialinteressen zu stellen und um diesen Kompromiß zu kämpfen, nämlich darum, daß in einer Gesellschaft, die natürlich prioritär von Kapitalinteressen bestimmt ist, der Ausgleich soweit gesucht wird, daß das, was Demokratisierung bedeutet, nämlich die Beteiligung aller Bürger an der Gesellschaft, möglich ist. Es ist ja nicht wahr, daß wir nur den Kapitalismus haben, wir haben auch die Menschenrechte, die Charta der Kinderrechte, die UNO und wir haben, denke ich, eine reale Geschichte von Emanzipationen.

Max Weber [13] hat vom Kampf der Weltanschauungen gesprochen. Der ist momentan ziemlich massiv. Aber es ist ja doch nicht so, daß das nur Kapitalismus ist. Es gibt die NGO's und es gibt eine Kräftigkeit der ökologischen Bewegung, die man vor 30 Jahren so überhaupt nicht für möglich gehalten hätte. Ich denke, man muß gucken, wie das ausgeht, das kann man überhaupt noch nicht sagen. Vielleicht frißt am Ende der Kapitalismus die soziale Frage ebenso wie die ökologische. Das kann sein, aber es ist überhaupt nicht ausgemacht.

SB: Bei dem zunehmenden Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich wird der Sozialen Arbeit gegenwärtig zur Vermeidung sozialer Konflikte eine Rolle zugewiesen, die einer emanzipativen Sozialarbeit nicht schmecken kann: diejenige des Befriedens, Schuldzuweisens und Hoffnungschürens auf Chancen, wo keine mehr sind und auch keine geplant sind. Betreibt moderne Soziale Arbeit da nicht ein fatales Doppelspiel?

HT: Das ist das alte Randgruppenproblem aus den 70er Jahren. Da hat man gesagt: Soziale Arbeit darf nicht sein, weil sie pazifiziert. Von Ernst Bloch [14] stammen die Worte: Soziale Arbeit ist wie ein Meißel aus Seife und sozialpädagogische Diskussionen sind wie die Gespräche von Pfarrers Damen im Hinterzimmer. Aber das stimmt ja nicht, denn das Proletariat - wenn Sie sich die Geschichte der Arbeiterbewegung angucken - waren ja Menschen in Arbeit, die für ihre Rechte gekämpft haben. Das heißt, eine elementare Nicht-Verelendung ist Voraussetzung dafür, daß man sich sozial engagiert. Insofern hat Soziale Arbeit zunächst einmal die Aufgabe, daß Menschen nicht einfach verkommen, denn Leute im Elend kümmern sich weder um sich selbst noch um ihre Kinder. Pestalozzi [15] hat in seiner großartigen Schrift "Nachforschungen über den Gang des Menschengeschlechts" gesagt, das eigentliche Problem der Gesellschaft sei doch, daß es Menschen gäbe, die so weit ausgebeutet und "in ihrer Dienstform entwürdigt" seien, daß sie sich nicht mehr für sich selbst und für ihre Kinder interessierten. "Mir", ich zitiere jetzt fast wörtlich, "ist es schlecht gegangen, ich habe mich sorgen müssen, sollen sie sich auch sorgen. Was scheren mich meine Kinder. Ich hatte Mühe, sollen sie sehen, wie sie durchkommen." Daß diese Gleichgültigkeit, diese Wurschtigkeit im Elend nicht passiert, ist, denke ich, eine Aufgabe der Sozialen Arbeit. Das ist das eine, und das andere ist, daß Soziale Arbeit sich in unserer Gesellschaft versteht im Horizont von sozialer Gerechtigkeit, im Wahrnehmen von Rechten, daß sie die Adressaten als Bürger versteht, die Einspruchsrechte haben und daß sie sich ihrerseits Mühe gibt, ihre Klientel politisch sensibel zu machen.

SB: Das ist die eine Seite. Aber läuft Soziale Arbeit nicht auch Gefahr, den Part der Schuldzuweisung, der Regulierung, der Kontrolle zu übernehmen, all der Dinge, die man nicht will?

HT: Die Sozialarbeit - das war ja auch gestern in den Vorträgen sehr wichtig - gibt es nicht, wohl unterschiedliche Arbeitsarten. Ich vertrete eine bestimmte, eher kritische, die sich da dann verweigert. Natürlich gibt es, gerade in Jobcentern, Verständnisse von Hilfe, die sich mit dem, was eine an Mündigkeit oder, wie Michael Winkler es gestern gesagt hat, an den freien Möglichkeiten eines Menschen interessierte Soziale Arbeit nicht verträgt.

SB: Sie benutzen zur Erläuterung ihres Konzeptes drei schöne, altmodische Begriffe: Liebe, Vertrauen und Neugier. Was bedeuten solche Begriffe in einer Welt, die den Menschen unter Vernutzungsgesichtspunkten als Humankapital wertet?

HT: Daß ich mit dem Humankapital nicht einverstanden bin, sondern daß ich davon ausgehe, daß der Mensch, und zwar jeder Mensch, weil er ein Mensch ist, geachtet werden muß (Liebe), daß er Entwicklungsmöglichkeiten hat, daß etwas aus ihm werden kann und er nicht stehen bleibt, so wie er ist (Vertrauen) und daß ich als Pädagoge ein Interesse an seiner Eigensinnigkeit haben muß, also daran, wie er sich auch vielleicht gegen mich und originell entwickelt (Neugier).

SB: Ich habe noch eine letzte Frage, die ist etwas persönlicherer Natur ist. Frau Seithe hat in ihrer Eröffnungsrede an den Mut der in der Sozialen Arbeit Beschäftigten zum Widerstand plädiert und gesagt, Mut brauche eine bewußte Entscheidung, mutig oder widerständig zu sein. Sind Sie im Laufe Ihres Lebens mutiger geworden?

HT: Das würde ich nicht beanspruchen, aber vielleicht etwas rücksichtsloser gegen kleinliche Interessen, aber auch gegenüber einem Mainstream. Daß in der Sozialarbeit vieles schwierig ist, daß wir uns aber nicht nur in Klagen ergehen dürfen, sondern uns einsetzen müssen, weil wir Ideale haben, weil wir ein Ziel haben, das sage ich inzwischen deutlicher. Ernst Bloch hatte den Satz, den fand ich immer wunderbar: "Wir sind in das Gelingen verliebt und nicht in das Scheitern." Das auch Leuten gegenüber zu sagen, die im Scheitern fast untergehen, daß wir gucken müssen, wie es weitergeht und wo Positionen und Optionen sind.

SB: Herr Professor Thiersch, wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.

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Erleichterung am Ende eines Kongressmarathons:
v. lks. die Mitorganisatoren Prof. Dr. Marion Panitsch-Wiebe, Prof. Dr. Timm Kunstreich und der Abschlußredner Prof. Dr. Hans Thiersch
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Anmerkungen:
[1] Der Jugendbericht, eigentlich "Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland" wird von der Bundesregierung pro Legislaturperiode ähnlich dem Familienbericht herausgegeben.
[2] Lothar Böhnisch (Jahrgang 1944) ist emeritierter Professor für Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter an der Technischen Universität Dresden. Das Konzept "Lebensbewältigung" bestimmt viele seiner Arbeiten.
[3] Franz Hamburger (Jahrgang 1946) ist emeritierter Professor für Sozialpädagogik an der Universität Mainz; Arbeitsschwerpunkte u.a.: Jugendhilfe, Migration und Minderheiten.
[4] Edmund Husserl (1859 - 1938), Philosoph und Mathematiker, gilt als Begründer der Phänomenologie. Die Lebenswelt ist für Husserl die vortheoretische und noch unhinterfragte Welt, in der wir leben, denken, wirken und schaffen.
Martin Heidegger (1889 - 1976), deutscher Philosoph in der Tradition der Phänomenologie; Hauptwerk: "Sein und Zeit".
Pierre Bourdieu (1930 - 2002) war ein französischer Soziologe.
Erving Goffman (1922 - 1982) US-amerikanischer Soziologe, befaßte sich mit Problemen sozialen, insbesondere sozial abweichenden Verhaltens.
Peter Berger, US-amerikanischer Soziologe (* 1929 in Wien) und Thomas Luckmann (* 1927), deutscher Soziologe; beide beschäftigten sich mit der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit und den Strukturen der Lebenswelt.
[5] Jürgen Habermas (Jahrgang 1929), deutscher Soziologe und Philosoph, Arbeiten zur Anthropologie, Sozialphilosophie, Kommunikationstheorie, Fortentwickler der Kritischen Theorie.
Sinusforschung befaßt sich mit Modellen, die Menschen nach ihren Lebensauffassungen und Lebensweisen in verschiedenen Milieus gruppiert.
[6] Oskar Negt (Jahrgang 1934), deutscher Sozialphilosoph, gilt als einer der führenden Denker der Kritischen Theorie.
[7] Julian Nida-Rümelin (Jahrgang 1954), Professor für Philosophie an der Universität München und ehem. Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder.
[8] Karl Popper (1902 - 1994) war ein österreichisch-britischer Philosoph, der mit seinen Arbeiten zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, zur Sozial- und Geschichtsphilosophie sowie zur politischen Philosophie den kritischen Rationalismus begründete.
[9] Friedrich Schleiermacher (1768 - 1834), protestantischer Theologe, Philosoph und Pädagoge.
[10] Gerald Hüther (Jahrgang 1951), deutscher Neurobiologe, Hirnforscher und Autor.
[11] Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835), deutscher Gelehrter, Staatsmann und Bildungsreformer.
[12] Eduard Heimann (1889-1967), deutscher Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Verfasser u.a.von "Soziale Theorie des Kapitalismus" (1929).
[13] Max Weber (1864 - 1920), deutscher Soziologe, Jurist, National- und Sozialökonom. Er gilt als einer der Klassiker der Soziologie sowie der gesamten Kultur- und Sozialwissenschaften.
[14] Ernst Bloch (1885 - 1977), deutscher Philosoph und Marxist; Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung".
[15] Johann Heinrich Pestalozzi (1746 - 1827), Schweizer Pädagoge, Philosoph, Schul- und Sozialreformer.

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Enormer Informations- und Auseinandersetzungsbedarf in der gefüllten Aula der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW)
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5. Oktober 2012