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INTERVIEW/007: Quo vadis Sozialarbeit? - Ohne Netz mit doppeltem Boden (SB)


Partei für die Armen ergreifen, Soziale Arbeit repolitisieren

Interview mit Christoph Butterwegge am 13. September in Hamburg



Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Er hat sich insbesondere einen Namen als Armutsforscher gemacht, so mit dem Buch "Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird". Im November 2012 wird das von ihm zusammen mit Gerd Bosbach und Matthias W. Birkwald herausgegebene Buch "Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung" erscheinen. Am Rande des 8. Bundeskongresses Soziale Arbeit, zu dessen Eröffnung Butterwegge ein Impulsreferat [1] hielt, hatte der Schattenblick Gelegenheit, ihm einige Fragen zu stellen.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Christoph Butterwegge
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Es geht bei diesem Kongreß um Soziale Arbeit. Da spielt auch das Verhältnis von Ökonomie und Sozialem hinein. Wie würden Sie dieses Verhältnis im gesellschaftspolitischen Kontext gewichten?

Christoph Butterwegge: Das Soziale ist in die Wohlfahrtsstaatsentwicklung und auch in die politischen Diskurse über Gerechtigkeit eingebunden. Seit geraumer Zeit wird es immer mehr dem Ökonomischen untergeordnet. Dies verstößt gegen das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes und ist eigentlich ein Fall für den Verfassungsschutz. Denn in den Artikeln 20 und 28 des Grundgesetzes steht, daß die Bundesrepublik Deutschland ein "sozialer Bundesstaat" beziehungsweise ein "sozialer Rechtsstaat" sei. In der Sprache der Juristen heißt das so viel wie "sie soll es sein", aber daran halten sich die etablierten Parteien und die verantwortlichen Politiker schon lange nicht mehr. Es steht dort ausdrücklich nicht, daß die Bundesrepublik nur dann ein sozialer Rechtsstaat sei, wenn es dem Wirtschaftsstandort Deutschland nützt.

Heute wird der Wohlfahrtsstaat der Bundesrepublik, wie wir ihn kannten, mehr und mehr zum nationalen Wettbewerbsstaat umfunktioniert. Das heißt, der betriebswirtschaftliche Tunnelblick herrscht bis weit in den Sozialbereich hinein vor. Schaut man sich die Entwicklung der Wohlfahrtsverbände an, stellt man erschreckt fest, daß selbst in kirchlichen Einrichtungen hauptsächlich ökonomische Effizienz gefragt ist, Qualitätsmanagement Einzug hält und neue Managementkonzepte eine wichtige Rolle spielen. Mit der Intention des Grundgesetzes und seinem Sozialstaatsgebot ist das aus meiner Sicht unvereinbar.

Die Soziale Arbeit muß sich stärker auf ihre Tradition besinnen, Leitwerte wie Solidarität und soziales Verantwortungsbewußtsein in den Mittelpunkt rücken und wieder ein politisches Mandat wahrnehmen. Aus der Perspektive meines Hauptforschungsgegenstandes heißt das, viel stärker, als es in den letzten Jahren getan wurde, Partei für die Armen zu ergreifen. Denn auch die Soziale Arbeit hat sich als Profession parallel zum Wohlfahrtsstaat in eine Richtung entwickelt, die modernistische, wenn nicht neoliberale Züge aufweist. Es wird dringend nötig, eine grundlegende Kurskorrektur vorzunehmen. Und deshalb bin ich so dankbar über diesen Kongreß, weil der Finger in die Wunde gelegt und darauf abgezielt wird, die von mir kritisierte Fehlentwicklung zumindest in Frage zu stellen, wenn nicht gar rückgängig zu machen.

SB: Wenn die Soziale Arbeit selbst wesentlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Reproduktion ist, wie kann sie dann Partei ergreifen für eine politische Position, die konträr zur Ökonomisierung verliefe?

CB: Das ist natürlich ein Spagat, aber für mich schließen sich die Professionalisierung der Sozialen Arbeit und eine Repolitisierung, wie ich sie fordere, keineswegs aus. Daß es sich um ein Spannungsverhältnis handelt, gebe ich allerdings gern zu. Natürlich ist es schwer, sich in einer Gesellschaft bzw. in einem Wohlfahrtsstaat zu bewegen, der immer weniger jenes Verständnis des Sozialen aufweist, das die Soziale Arbeit als Profession ausgezeichnet hat. Aber letztlich kommt es auf die Akteure an, also auf jene, die als SozialarbeiterInnen oder als SozialpädagogInnen tätig sind und die Aufgabe haben, den Funktionserfordernissen des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems gerecht zu werden, aber zugleich für diejenigen Partei ergreifen sollen, mit denen sie arbeiten. Das ist bestimmt nicht einfach, besonders dann nicht, wenn man in der Alltagspraxis mit vielen Problemen beschäftigt ist und die Not der davon Betroffenen hautnah miterlebt. Trotzdem muß das der Anspruch sein.

SB: Die Arbeit genießt in der gesellschaftlichen Orientierung einen sehr hohen Stellenwert. Dennoch wird unter Arbeit fast immer Lohn- bzw. Erwerbsarbeit verstanden, aber gleichzeitig ist immer weniger Erwerbsarbeit für alle Menschen vorhanden, und so entsteht ein soziales Feld der Ausgrenzung. Wie läßt sich das miteinander vereinbaren, zumal politisch offenbar kein Handlungsbedarf besteht?

CB: Das ist nur vorstellbar in Gestalt von Gegenmacht. Diejenigen, die in der Sozialen Arbeit tätig sind, müssen sich mit Menschen aus Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, Kirchen und Parteien, die ähnliche Ziele verfolgen, vernetzen. So muß erkämpft werden, daß das Soziale wieder den Stellenwert erlangt, den es einmal hatte. Wenn man die Hände in den Schoß legt, passiert gar nichts. Erfolge sind nur möglich, wenn sich möglichst viele BürgerInnen gegen Mißstände und erhebliche Widerstände engagieren. Daher lautet mein Lebensmotto, um es mit Bertolt Brecht zu formulieren: "Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren." Es kommt eben darauf an, daß man in diese Richtung zu gehen versucht.

Ich bin seit über zehn Jahren nicht mehr im Bereich der Sozialen Arbeit, sondern jetzt an einer Fakultät tätig, die hauptsächlich Lehrer und Lehrerinnen ausbildet, aber für die Schule stellt sich das Problem in ganz ähnlicher Weise. Die Schule soll Menschen heranbilden, die für den Wirtschaftsstandort Deutschland nützlich und produktiv sind. Vom Lehrer und von der Lehrerin wird erwartet, daß sie in diesem Sinne funktionieren. Obwohl sie von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und anderen Lobbyeinrichtungen der Wirtschaft kostenlos mit entsprechenden Unterrichtsmaterialien versorgt werden, müssen sie der Beeinflussung widerstehen und ihrer politischen Instrumentalisierung entgegentreten. Auch im Bereich der Sozialen Arbeit, wo eine sehr lange Tradition in diese Richtung existiert, erwarte ich Protest und Widerstand.

SB: Gilt es nicht auch, den Begriff der Arbeit als solchen einer Überprüfung auszusetzen vor dem Hintergrund einer nicht mehr genügend vorhandenen Erwerbsarbeit?

CB: Ich hielte das für eine falsche Zielsetzung, weil wir nicht in einer Gesellschaft leben, der die Arbeit ausgeht, sondern in einer, der es an gut entlohnten Arbeitsplätzen mangelt. Meiner Ansicht nach gibt es heute sogar erheblich mehr Arbeit als früher. Man denke nur an die Aufgabe der Frühförderung und den Pflegenotstand. Das Problem besteht also nicht darin, daß uns die Arbeit ausginge. Man muß nur die Bereiche, in die mehr Arbeit zu investieren lohnt, wie etwa den Sozialbereich, das Kulturelle und die Ökologie, stärken und dafür sorgen, daß Staat und Gesellschaft für sie mehr Mittel bereitstellen. Das ist eine Frage der ökonomischen Umverteilung. Am Beispiel der Armutsdiskussion ist vielen Menschen inzwischen bewußt geworden, daß es große Verteilungsschieflagen gibt. Das gilt auch für die Frage, wo sich die Gesellschaft engagiert und Erwerbsmöglichkeiten schafft. Geld ist genug da, es muß nur in die richtigen Taschen gelenkt werden. Arbeitslosigkeit und Armut sind schließlich nicht vom Himmel gefallen, sondern großteils das Produkt einer falschen Politik.

SB: Die Atomisierung der Gesellschaft findet auf breiter Ebene statt. Die Menschen werden in Bedarfsgemeinschaften zu antisolidarischem Verhalten erzogen, durch die Konkurrenz um angemessen bezahlte Arbeit gegeneinander ausgespielt und mit Konzepten der Selbstaktivierung individualisiert. Diese Sozialstrategien erschweren die Ausbildung einer gemeinsamen Kampfkraft, die erst entstehen kann, wenn sich Menschen solidarisch zusammenschließen.

CB: Ja, das ist richtig. Genau deswegen muß Aufklärung erfolgen und muß es Engagierte geben, die auch im Bereich der Sozialen Arbeit für eine kritische Bewußtseinsbildung sorgen. Von selbst wird das nicht passieren, weil die Mechanismen der sozialen Ausgrenzung das gegenseitige Ausspielen unterschiedlicher Gruppen fördern. Das läßt sich nur verhindern, wenn die SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen solche Mechanismen durchschauen und ihnen entgegenwirken. Das erwarte ich einfach von einer kritischen Sozialen Arbeit, die wir heute jedoch weniger haben, als es vor Jahrzehnten der Fall war.

Christoph Butterwegge - Foto: © 2012 by Schattenblick

Für eine politisch kämpferische Soziale Arbeit
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Der Blick in eine von Kapital- und staatsadministrativen Interessen dominierte Zukunft erscheint düster, wenn man etwa an Forderungen denkt, Hartz IV-Empfänger mit Sachleistungen anstatt Geld zu versehen, weil sie angeblich nicht eigenverantwortlich handeln können?

CB: Die jüngsten Urteile des Bundesverfassungsgerichts sowohl zu Hartz IV als auch zum Asylbewerberleistungsgesetz weisen, wiewohl man sie auch nicht überschätzen darf, zum Glück in eine andere Richtung.

SB: Bei Asylbewerbern wurden in gewisser Weise schon Vorformen erprobt, wenn man nur an die Vergabe von Sachleistungen denkt.

CB: Ja, das ist völlig richtig. Nach einer kampagnenartig geführten Asyldiskussion, bei der Flüchtlinge als "Sozialschmarotzer" diffamiert wurden, war dieser Bereich ein politisches Experimentierfeld für Leistungskürzungen und Verschärfungen des Kontrolldrucks. Es gibt freilich auch ermutigende Zeichen. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem erwähnten Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz festgestellt, daß Asylbewerber auch Menschen sind, denen folglich dieselben sozialen Grundrechte zustehen wie Deutschen und deren Würde ebenfalls nicht angetastet werden darf. Das heißt, ihnen stehen ähnliche Leistungen wie den Hartz-IV-Betroffenen zu. Das ist nach 20 Jahren, in denen die extrem niedrigen Sätze des Asylbewerberleistungsgesetzes nicht angehoben wurden, ein großer Erfolg.

Sicherlich reicht der Richterspruch nicht aus, wie mich auch die Hartz-IV-Neuregelung nicht befriedigt und erst recht nicht Ursula von der Leyens Bildungs- und Teilhabepaket für die Kinder. Aber man muß sehen, daß damit ein gesellschaftlicher Diskurs um die Frage in Gang gekommen ist, wieso sich eine so reiche Gesellschaft wie die unsere so viele Arme leistet, die auf einem Leistungsniveau gehalten werden, das letztlich nicht ausreicht, um in einer solchen Konsumgesellschaft ein menschenwürdiges Leben zu führen. Das sind, wie ich finde, geradezu Steilvorlagen für die Soziale Arbeit, wenn sie in diese Diskurse eingreift und versucht, den damit verbundenen Prozeß der Bewußtseinsbildung in der Gesellschaft voranzutreiben.

SB: In der Argumentation eines Thilo Sarrazin werden nicht nur ethnisch-religiöse Ressentiments bedient, sondern auch behauptet, daß die von ihm ausgegrenzten Menschen unproduktiv seien. Man könnte bei dieser Form ökonomisierter Stigmatisierung vielleicht auch von Sozialrassismus sprechen. Wo würden Sie diese Position politisch verorten?

CB: Thilo Sarrazin, dessen Position ich als standort- und nationalpopulistisch bezeichnen würde, weist eine große ideologische Nähe zum Neoliberalismus auf. Dieser beeinflusst, seit er die kulturelle Hegemonie errungen hat, in starkem Maße nationalkonservative und rechtsextreme Kreise, die Markt, Leistung und Konkurrenz ebenfalls stärker als bisher in den Vordergrund rücken und die Nützlichkeit der Gesellschaftsmitglieder danach bewerten, ob sie in dem Sinne produktiv sind, daß sie Mehrwert schaffen und den "Wirtschaftsstandort D" sichern helfen. Das war aber schon immer ein wesentliches Beurteilungskriterium für Rassisten, die ja nie den Zuzug von Ausländern generell abgelehnt haben, sondern nur die Anwesenheit solcher Ausländer, die "uns" nicht nützen.

Im sogenannten Dritten oder Großdeutschen Reich haben Millionen von Ausländern als Zwangsarbeiter gelebt. Man hat sie mit dem Ziel benutzt, wirtschaftlich zur Weltmacht aufzusteigen und schließlich durch einen brutalen Eroberungs- und Vernichtungskrieg die Weltherrschaft zu erringen. Dabei wurde das Kriterium angelegt, welche dieser Menschen angeblich minderer Rassen uns nützen und welche sofort in die Gaskammer geschickt werden. Das ökonomistische Moment war also immer schon Bestandteil des konservativen und rassistischen Denkens.

Aber heute hat die Frage, ob sich Menschen gemäß der neoliberalen Standortlogik produktiv erweisen, einen viel höheren Stellenwert bekommen. In den Ausführungen Thilo Sarrazins sowohl über Immigranten zumeist muslimischen Glaubens, die er herabsetzt, wie auch über denjenigen, die man bei uns in der Regel als deutsche Unterschichtangehörige bezeichnet, tritt sein Dünkel klar hervor. Man muß sich kritisch mit seiner Position auseinandersetzen, weil ich glaube, daß sie bis in die Mittelschicht hinein ein relativ hohes Maß an Attraktivität besitzt. Und zwar deswegen, weil es für Mittelschichtangehörige bequem ist, statt sich gegen die Verantwortlichen der Finanzkrise zu wehren, ihren Groll lieber an den sozial Marginalisierten auszulassen. Nach dieser Radfahrer-Methode, wie ich sie nennen möchte, wird nach oben - gegenüber den Herrschenden - gebuckelt und nach unten - gegenüber den sozial Marginalisierten - getreten. Das ist ein Mechanismus, der für eine teilweise von sozialer Abstiegsangst befallene Mittelschicht ungeheuer verlockend ist.

Die Frage ist, inwiefern es in diese Mittelschicht hineinwirkenden und aufklärend tätigen Menschen gelingt, sie davon zu überzeugen, daß es der falsche Weg ist und sie selbst ein Interesse an Solidarisierungsprozessen hat. Denn natürlich frißt sich die Armut inzwischen bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Viele, die glauben, ungefährdet in der Mittelschicht ihr Dasein zu fristen, werden erkennen müssen, daß ihre Kinder und Kindeskinder in prekären Beschäftigungsverhältnissen groß werden und so in eine Situation hineinwachsen, die ich als Armut bezeichnen würde.

Viele Mittelschichtangehörige sind sich durchaus bewußt, daß es im Grunde besser wäre, Partei für die Armen zu ergreifen und zu verhindern, daß sie selbst zwischen Oben und Unten zerrieben werden. Das wäre der richtige Weg, und da hat auch die Soziale Arbeit ihre Aufgabe, aufklärend zu wirken und die politischen Verhältnisse zu verändern. Wenn die Soziale Arbeit darauf verzichtet, kann sie im Grunde nur eine Art Zuschauerrolle spielen und registrieren, was in der Gesellschaft passiert. Sie wird dann auch hinnehmen müssen, daß man sie selbst möglicherweise wegrationalisiert, indem gesagt wird: Wozu sollen die Armen noch betreut oder beraten werden? Können wir das Geld nicht einsparen und damit den Wirtschaftsstandort noch konkurrenzfähiger machen?

Natürlich wird von den Herrschenden der Standpunkt vertreten, daß sich ein Sozialstaat eigentlich nicht rechnet und die für ihn aufzuwendenden Mittel höher sind als das, was er letztendlich bewirkt. Die Armen und auch die Mittelschicht haben jedoch ein Interesse daran, daß dieser Sozialstaat nicht weiter abgebaut wird. Daher gilt es, verschiedene sozialen Schichten, Gruppen und Organisationen zusammenzuführen. Eine zentrale Aufgabe besteht darin, daß die Soziale Arbeit und die in ihr tätigen Verbände gemeinsam mit Globalisierungkritikern wie ATTAC, den Gewerkschaften und den Kirchen, die sich in den letzten Jahren beim Thema "Armut und soziale Ausgrenzung" sehr zurückhaltend gezeigt haben, für den Umbau des Sozialstaates eintreten, aber nicht etwa im Sinne der "Agenda 2010", sondern dahingehend, daß er den veränderten Arbeits- und Lebensverhältnisse der Menschen gerecht wird, um so einer sich ausbreitenden Armut entgegenwirken zu können.

SB: Befürchten Sie nicht, daß die Möglichkeit einer autoritären und repressiven Gesellschaft am Horizont aufscheint? So wird in Großbritannien gerade eine Sozialhilfereform mit umfangreichen Leistungskürzungen durchgeführt. Behinderte, die teilweise sterbenskrank sind, werden von einer Privatfirma daraufhin überprüft, ob sie noch einen Knopf drücken oder einen Hebel umlegen können. Wenn sie trotz ihrer mißlichen Lage als arbeitsfähig qualifiziert werden, dann laufen ihre Behindertenrenten oder -zuschüsse aus. Dort wie auch in den USA ist die Privatisierung im Sozialbereich sehr weit vorangeschritten. Glauben Sie, daß die ihrerseits stark ökonomisierte Gesellschaft der Bundesrepublik einer solchen Entwicklung etwas entgegenhalten kann?

CB: Wenn sich die Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrisen weiter verschärfen, besteht die Gefahr, daß diejenigen, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung haben, hier wie anderswo zu repressiveren Maßnahmen greifen. Platzverweise, Aufenthaltsverbote und Razzien gegenüber Obdachlosen lassen sich als Vorboten eines rigideren Armutsregimes auch bei uns deuten. Darüber, ob sich diese Tendenz durchsetzt oder eine Rückkehr zu mehr sozialer Verantwortung und Solidarität erfolgt, entscheiden politische Auseinandersetzungen. Auf die künftige Entwicklung der Macht- und Mehrheitsverhältnisse kann man Einfluß nehmen. Das muß auch die Soziale Arbeit tun.

Professionalisierung und Repolitisierung der Sozialen Arbeit sind keine Gegensätze, lassen sich vielmehr miteinander zu verbinden. Tendenzen zum Überwachungs- und Polizeistaat, die es in mehreren Ländern gibt, muß man entgegentreten. Ob das Erfolg hat, kann nur ein Prophet voraussagen. Aber wenn sich die Soziale Arbeit nicht in diese Kämpfe einmischt, die es bei Occupy wie beim Protest von Jugendlichen gegen Kürzungsmaßnahmen an der Puerta del Sol in Madrid gibt, wird sie an Bedeutung verlieren. Dann ist ihre Position in der Gesellschaft noch gefährdeter, als das gegenwärtig der Fall ist. Es kann nicht im Interesse der Profession sein, sich aus solchen gesellschaftspolitischen Kontroversen herauszuhalten.

SB: Sie sind im Frühjahr als möglicher Präsidentschaftskandidat der LINKEN im Gespräch gewesen. Fühlen Sie sich dieser Partei politisch zugehörig?

CB: Ich gehöre weder der LINKEN noch einer anderen Partei an. Aber als ich gefragt wurde, ob ich gegen Joachim Gauck, dessen Wahl zum Bundespräsidenten angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung ohnehin feststand, antreten wollte, war die entscheidende Frage für mich, ob ich dadurch "meine" Themen, also Probleme wie Armut und die soziale Spaltung der Gesellschaft, besser in die Öffentlichkeit tragen könnte. Auch war es mir wichtig, einen anderen Freiheitsbegriff in die Debatte zu bringen als den von Joachim Gauck vertretenen, aus meiner Sicht formaljuristisch verengten. Zwar kann ich nachvollziehen, daß etwa die Reisefreiheit für ehemalige DDR-Bürger einen besonders hohen Rang hat, aber was nützt mir Reisefreiheit auf dem Papier, wenn ich nicht das nötige Geld habe, um zu verreisen?

Ich würde als Bundespräsident sehr viel stärker, als Joachim Gauck das tut, die materielle Fundierung solcher Werte wie Freiheit betonen und statt dessen die soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt rücken. Aus meiner Sicht ist ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit die Voraussetzung dafür, daß es Freiheit überhaupt gibt. Sofern ganz wenigen Reichen und Superreichen in einer Gesellschaft fast alles gehört und Millionen anderen so gut wie nichts, haben die Letzteren von Freiheit nur so viel, wie ihnen der Bundespräsident darüber in Sonntagsreden erzählt. Denn sie bleibt formal und kann im Alltag nicht erlebt werden. Öffentlich vernehmbar hervorheben zu können, daß Freiheit immer die Freiheit der sozial schlechter oder gar der sozial am schlechtesten Gestellten ist, erschien mir deshalb als eine Riesenchance, die mit der Kandidatur für das Bundespräsidentenamt verbunden gewesen wäre. Hoffentlich noch rechtzeitig davon zurückgetreten bin ich, weil es unsinnig gewesen wäre, zunächst gegen die von großen Teilen der Ost-LINKEN verehrte Antifaschistin Beate Klarsfeld in eine Kampfkandidatur auf der Ebene des Parteivorstandes einzutreten, um dann letztlich doch nur ein Zählkandidat für Joachim Gauck zu sein.

SB: Herr Butterwegge, vielen Dank für das lange Gespräch.

Fußnote:

[1] https://www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0014.html

Kongreßbesucher vor Audimax - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kongreßauftakt im Audimax der Universität Hamburg
Foto: © 2012 by Schattenblick

7. Oktober 2012