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INTERVIEW/008: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aber zusammen (SB)


Kooperation wider die Konkurrenzgesellschaft



Gespräch mit Timm Kunstreich am 13. September 2012 in Hamburg

Prof. Dr. Timm Kunstreich studierte Soziologie, Sozialgeschichte, Erziehungswissenschaft und politische Ökonomie. Er war seit 1975 als Studentenberater an der Fachhochschule Hamburg tätig und wechselte 1984 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie an die Universität Hamburg. Zwei Jahre später übernahm er die Leitung der sozialpädagogischen Ausbildung und Fortbildung beim Amt für Jugend der Hansestadt Hamburg. Seit 1978 war er zudem Dozent an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie. 1992 wurde Kunstreich zum Professor im Kirchendienst berufen und gab seine Tätigkeit beim Amt für Jugend auf. Im Jahre 2009 wurde er emeritiert.

Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Geschichte und Gegenwart der professionellen Sozialen Arbeit. Kunstreich polarisiert dabei nicht selten mit seinen wissenschaftlichen Thesen, die im Gegensatz zum Mainstream der Sozialarbeitswissenschaft stehen. Er war im Sozialistischen Büro tätig und ist Mitbegründer und Autor der sozialistischen Fachzeitschrift Widersprüche, deren Redaktion er angehört. Gemeinsam mit Prof. Dr. Marion Panitsch-Wiebe von der HAW Hamburg war Prof. Kunstreich Organisator des 8. Bundeskongresses Soziale Arbeit, der vom 13. bis 15. September in Hamburg stattfand. Im Anschluß an die Pressekonferenz vor dem Kongreß beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Timm Kunstreich im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Timm Kunstreich
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Sie haben auf der Pressekonferenz eine Gesellschaft der Konkurrenz im ökonomischen Bereich problematisiert und ihr die Möglichkeit einer konkurrenzfreien Gesellschaft gegenübergestellt. Warum ist das aus Ihrer Sicht auch für die Soziale Arbeit so wichtig?

Timm Kunstreich: Das ist eine sehr grundlegende Frage. Eine Gesellschaft, die auf Konkurrenz basiert, produziert immer Gewinner und Verlierer. Eine Gesellschaft, die hingegen auf Kooperation basiert, existierte historisch gesehen, wenn wir die Menschheitsgeschichte betrachten, in einem sehr viel längeren Teil dieser Geschichte. Menschen kooperierten in kleinen Verbänden, um zu überleben. Natürlich gab es auch dabei interne Hierarchien, doch geht es hier um das Prinzip der Konkurrenz, die etwas ganz anderes ist als Wettbewerb. Wenn man das auf den sozialen Bereich überträgt - und das wird ja unter dem Begriff neues Steuerungsmodell nach wie vor gemacht - wirbt man nicht wie in der freien Marktwirtschaft um Kunden. Es verhält sich vielmehr so, daß der Staat als großer Kunde die Träger darum konkurrieren läßt, wer die Arbeit am billigsten macht, und diese Umkehrung der Konkurrenzsituation führt zu völlig unsinnigen Ergebnissen. Man produziert dann möglichst jene Produkte, die am meisten Geld bringen. Und welche sind das? Das sind diejenigen, die ohnehin schon vorgeschrieben sind.

SB: Das schlägt dann auch auf die Menschen durch, die eigentlich von der Sozialen Arbeit betreut werden sollen?

TK: Genau. Die fallen immer stärker zurück. Eine Einrichtung wie beispielsweise die Hilfe zur Erziehung sucht dann diejenigen Fälle aus, bei denen sie erfolgreich ist. Das heißt, es werden immer wieder Fälle produziert, in denen man sagt, ach, der ist uns zu schwierig oder mit dem können wir nicht arbeiten, der ist psychotisch, Drogenabhängige nehmen wir sowieso nicht, usw. Das sind solche Ausgrenzungsmechanismen, die in einer stark auf Konkurrenz basierenden Steuerung der Sozialen Arbeit praktisch mit einer Ökonomisierung gleichzusetzen sind.

SB: Wir erleben gegenwärtig Formen von Sozialrassismus und Ausgrenzung immer größerer Teile der Bevölkerung. Was für eine Gesellschaft droht uns angesichts dieser Entwicklung? Welche Menschen werden da hervorgebracht?

TK: Ich vergleiche das häufig mit dem Ende der 1920er Jahre. Damals war die Sozialhygiene eine dominierende wissenschaftliche Ideologie. Wir erleben heute so etwas wie eine Neosozialhygiene, daß nämlich alle Nützlichkeitskriterien ökonomisch konnotiert werden, aber insofern auch einen Unterschied, als der Rassismus nicht mehr an der Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit festgemacht, sondern in die Verantwortung des einzelnen gelegt wird. Du bist verantwortungslos, wenn du dich nicht sozial so verhältst, daß du in dieser Gesellschaft gut funktionierst. Diese Form von Rassismus ist viel gefährlicher, weil sie nach innen geht und Selektionen hervorruft, bei denen der einzelne sich selber schuldig fühlt und sagt, ich schaffe das nicht, ich kann es ja nicht. Das ist die perfekte Herrschaft.

SB: Oftmals klingt die Auffassung an, wenn man nur die richtigen Argumente gegenüber der Ökonomie oder dem Staat hätte, müßte man sie doch überzeugen können, daß eine gute Soziale Arbeit auf lange Sicht effektiver ist. Ist das wirklich schlüssig oder stößt man dabei womöglich in Bereiche vor, in denen man auf unterschiedliche Interessen trifft, die miteinander unvereinbar sind?

TK: Die Nobelpreisträgerin für Ökonomie 2009, Elinor Ostrom, die die Commons, also die gemeinschaftlichen Güter untersucht hat, kommt ganz eindeutig zu dem Ergebnis, daß die Stärkung gemeinschaftlicher Einrichtungen und Güter durchaus über Kooperation gestiftet werden kann. Wenn man das zum dominierenden Prinzip macht, würde Wettbewerb in Form von Konkurrenz als nachgeordneter Mechanismus gelten. Deshalb bin ich sehr dafür, daß es solche Experimente in Form von Genossenschaften gibt, auch eine staatlich finanzierte Rente ohne persönliche Zurechnung wäre machbar - unsere Diskussion um ein Grundeinkommen spiegelt das ja wider.

SB: Wären das Bereiche, die innerhalb der Sozialen Arbeit oder außerhalb von ihr beheimatet sind? Oder gibt es da vielleicht Querverbindungen?

TK: Da gibt es eine Vermischung. Beispielsweise überlegen wir gerade in Hamburg mit Kollegen, ob es für eine Region nicht viel sinnvoller wäre, ein regionales Budget einzurichten, aus dem alles finanziert wird. Das wäre dann sowohl ein ökonomischer als auch ein sozialarbeiterischer Aspekt. Solche regionalen Budgets kann man sich im Bildungsbereich, im ökonomischen Bereich, im Ausbildungsbereich vorstellen. Es würde nicht mehr kosten, sondern die vorhandenen Mittel anders verteilen. Wir können uns gut vorstellen, daß es da sinnvolle Grenzüberschreitungen gibt.

SB: Könnten Sie sich vorstellen, daß selbst ökonomisch sinnvolle Entwürfe dieser Art vielleicht aus anderen Gründen verhindert werden? Möglicherweise kommen dabei Interessen zum Tragen, die mit solchen Formen der Gemeinschaftlichkeit auf Kriegsfuß stehen, weil diese mit Emanzipation verbunden sein könnte?

TK: Das ist das, was wir früher Klassenkampf nannten. Das ist der entscheidende Punkt. Es wird darum gehen, solche Gedanken erst einmal zu popularisieren, dann die sozialen Träger dafür zu finden. Doch selbst wenn es eine große Mehrheit dafür gäbe - das sehen wir in den USA, wo es eine solche Mehrheit für eine allgemeine Krankenversicherung gibt, die trotzdem nicht durchgesetzt wird - sind ganz ähnlich auch hier in Deutschland beträchtliche Widerstände zu erwarten. Das ist eine harte Auseinandersetzung, und ich bin sehr skeptisch, was die künftige Entwicklung betrifft.

SB: Sie haben den Klassenbegriff angesprochen, der, wie Sie sagten, heutzutage kaum noch verwendet wird. Hat er noch eine Berechtigung oder müßte er neu formuliert werden?

TK: Er kommt zunehmend wieder auf, weil die Realität danach drängt. Das wird sicher nicht das alte Bild der Arbeiterklasse und Kapitalisten sein, aber daß es Klassen gibt, ist in den Sozialwissenschaften im Grunde immer unstrittig gewesen. Spätestens seit den Ideen von Bourdieu und anderen, denen zufolge Klassen nicht ökonomistisch von außen bestimmt werden, sondern sich durch das Verhalten der Menschen zueinander wesentlich durchsetzen, ist der Klassenbegriff in den Sozialwissenschaften unbestritten. Ob er wieder politisch zur Geltung kommt, ist jedoch eine andere Frage.

SB: Sie waren lange Jahre am Rauhen Haus tätig. Wenn sie zurückdenken, wie die Generation von Studierenden etwa vor 20 Jahren im Vergleich zu der heutigen war, kann man da eine Veränderung feststellen, eine Rückentwicklung oder eine Weiterentwicklung?

TK: Das frage ich mich manchmal auch! (lacht) Das ist nämlich nicht so einfach zu beantworten. Da muß ich sehr vorsichtig sein, gerade als älterer Mensch das Frühere zu schönen. Mein Eindruck ist, daß auf der einen Seite die Ansprüche an Soziale Arbeit stärker professionell handwerklich geworden sind, während der gesellschaftskritische, gesellschaftsverändernde Aspekt zurückgetreten ist. Umfragen bei Studienanfängern belegen, daß das eindeutig der Fall ist. Das würde ich gar nicht negativ bewerten, sondern das ist sozusagen ein professionelles Selbstverständnis, das ich eher positiv schätze. Eine Profession, die sich selber überflüssig machen will - aber bei vollem Lohnausgleich - ist natürlich ein Witz. Das muß positiv besetzt werden. Auf der anderen Seite herrscht natürlich auch zunehmend eine Gewöhnung an diese Form von Konkurrenzgesellschaft vor, in der es normal ist, jemanden auszugrenzen indem man sagt, du hast doch deine Chance gehabt! Du hast sie nicht genutzt, jetzt mußt du bestraft werden! Punitive oder konfrontative Ansätze werden zunehmend beliebter, und das ist eine Auseinandersetzung, die wir natürlich mit den Studierenden führen.

SB: Herr Kunstreich, vielen Dank für dieses Gespräch.

Plakat der Pressekonferenz - Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

8. Oktober 2012