Schattenblick → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT


INTERVIEW/032: Krieg um die Köpfe - Frieden schaffen ohne Waffen ...    Mechthild Klingenburg-Vogel im Gespräch (SB)


Der Dritte Weltkrieg hat längst begonnen

Interview am 7. März 2015 an der Freien Universität Berlin


Mechthild Klingenburg-Vogel ist Fachärztin und Psychoanalytikerin in eigener Praxis sowie Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin am John-Rittmeister-Institut für Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychosomatik in Kiel. Sie kann auf mehr als 30 Jahre Engagement im Rahmen der Ärztevereinigung zur Verhinderung des Atomkriegs - Ärztinnen und Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) zurückblicken. Auf dem diesjährigen Kongreß der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) hielt sie einen Vortrag zum Thema "Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg?"

Daß Frieden herrscht, könne man nicht behaupten, da doch überall auf der Welt Stellvertreterkriege, Nachfolgekriege der kolonialen Weltunordnung, Kriege um Ressourcen toben und Deutschland am Waffenexport profitiert, so die Referentin. Für die Menschen in den Ländern des Südens ist der Dritte Weltkrieg längst im Gange, wenn alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger stirbt. Je weiter die Schere zwischen Arm und Reich auseinanderklafft, um so mehr nehmen Mortalität, Morbidität, Rassismus und Gewalt zu. Der Vorkrieg beginne spätestens mit dem Beharren auf dem hiesigen Lebensstil und Ressourcenverbrauch, der mangelnden Identifizierung mit Menschen in anderen Ländern und Kulturen, der Abschottung der Grenzen und der fehlenden Fürsorge für nachfolgende Generationen.

Die Gefahr eines Atomkriegs ist heute so bedrohlich wie 1984 auf dem Höhepunkt atomarer Ost-West-Konfrontation. Dennoch geht kein Aufschrei des Protests durch Europa, die Dämonisierung des Gegners durch die Medien zerstört jede Empathie und Fähigkeit zum Perspektivwechsel. An der Heimatfront wird ein Informationskrieg geführt, lange bevor der erste Schuß fällt, wird die Sprache korrumpiert und militarisiert. Nachrichten werden einseitig dargestellt, unterschlagen oder es werden bewußt falsche Behauptungen verbreitet. Propaganda braucht keine Beweise, man muß falsche Behauptungen nur oft genug wiederholen, damit sie geglaubt werden. Die Ukraine-Krise ist von einem massiven Rückfall in Kalte-Kriegs-Rhetorik begleitet, in der alte Feindbilder vom unberechenbaren Russen Hochkonjunktur haben. Dabei wird die eigene Aggression der Osterweiterung der NATO auf Rußland projiziert, dem man gefährliche Expansionsbestrebungen unterstellt.

Feindbilddenken gründet auf Dehumanisierung des Anderen, wobei der Feind in seinem Führer personifiziert wird. Politiker, die zuvor beste Freunde waren, mutierten zu Diktatoren, wenn sie sich dem Einfluß der USA zu entziehen versuchen, und müssen aus westlicher Sicht mit militärischen Mitteln gestürzt werden. Deutsche Journalisten werden intellektuell korrumpiert und in transatlantische Elitenetzwerke eingebunden. Durch Privatisierung der Macht werden wichtige Teile der politischen Willensbildung aus dem öffentlichen Raum ausgelagert und der demokratischen Kontrolle entzogen. Der Legitimation eines gerechten Krieges dient die Darstellung der eigenen Aggression als Selbstverteidigung oder die Beteuerung, daß einem der Krieg von der gegnerischen Seite aufgezwungen wurde oder aus Bündnisverpflichtungen folge.

Sind beide Seiten Täter und Opfer, führt dies zu einer endlosen gegenseitigen Schuldzuweisung, wobei die Realität von der mächtigeren Seite umgedeutet und die eigene Urheberschaft geleugnet wird. Die Situation erscheint alternativlos, und Menschenrechte, Völkerrechte und Genfer Konventionen wie auch die UNO und der Internationale Strafgerichtshof, die eine moralische dritte Instanz repräsentieren könnten, bleiben wirkungslos.

Für die Bewältigung kollektiver Traumata ist es heilsam, wenn es zur öffentlichen Auseinandersetzung mit der eigene Täterschaft in der Gesellschaft kommt. Werden konkrete wie symbolische Gesten vollzogen, ist durch Schuldanerkenntnis und Verantwortungsübernahme Versöhnung möglich, so die Refentin. Der Kniefall Willy Brandts 1970 am Mahnmal des Aufstands im Warschauer Ghetto war eine symbolische Übernahme von Verantwortung, Anerkennung von Schuld und Bitte um Vergebung. Auch in den Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in Südafrika wurde dies intendiert. Hingegen können unverarbeitete kollektive Traumatisierungen funktionalisiert werden, indem die damit verbundene Angst vor einer Wiederholung des Traumas geschürt wird, um bestimmte politische Absichten durchzusetzen. Insbesondere in Zeiten sozialer Verunsicherung bietet sich die nationale Identität als eine Art Korsett, um durch Rachephantasien die Ohnmachtserfahrung zu negieren und das Trauma gewissermaßen auszustoßen, indem es anderen zugefügt wird.

Der Vorkrieg des Zweiten Weltkriegs begann mit dem Ersten Weltkrieg. Bei der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Versailles erklärte der englische Premierminister Lloyd George 1919, er habe gerade die Kriegserklärung für den nächsten Krieg binnen 20 Jahren unterschrieben. Wenn man einem Volk Bedingungen auferlege, die es umöglich erfüllen kann, zwinge man es entweder dazu, die Verträge zu brechen, oder Krieg zu führen. Ungerechtigkeit und Anmaßung in der Stunde des Triumphs zur Schau getragen, werden niemals vergessen und vergeben.

In der Bundesrepublik fordert das kollektive Schuldtrauma Auschwitz ein unbedingtes "Nie wieder!". Dieses wurde jedoch 1999 mißbräuchlich instrumentalisiert, um im Kosovokrieg die Bereitschaft für eine erstmalige deutsche Beteiligung an einem Kriegseinsatz der NATO, noch dazu ohne UN-Mandat, zu rechtfertigen. Auschwitz als Symbol für schreckliche Schuld wurde Teil der deutschen Großgruppenidentität. Angesichts der erst spät diskutierten Verbrechen der Wehrmacht im Osten fällt auf, daß es zu keiner vergleichbaren Anerkennung von Schuld gegenüber der Sowjetunion kam. 17 Millionen Zivilisten und die Hälfte der 5,7 Millionen russischen Kriegsgefangenen starben an Hunger und Kälte, was intendiert war.

Die unterlassene Schuldanerkenntnis manifestiert sich in der latenten Angst vor russischer Rache und in der Reaktivierung dieser Feindbilder. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Mitverantwortung für die Nazi-Zeit wurde 1945 durch rasche Identifikation mit dem freien, starken Westen abgewehrt und die deutschen Opfer dagegengehalten. Im Bündnis mit dem Westen wurde die Sowjetunion neuer alter Feind, der durch den Zusammenbruch 1990 wirtschaftlich besiegt werden konnte. Mit der Wiedervereinigung schienen die Verbrechen im Dritten Reich ungeschehen gemacht zu sein, so daß einer offensiven und expansiven Identität nichts mehr im Weg stand.

Das kollektive Trauma des Holocaust ist für Juden und Deutsche zu einem wesentlichen Aspekt des eigenen Selbstverständnisses geworden. Für Juden ist der Holocaust mit existentiell katastrophischen Erfahrungen verbunden, so daß alles, was als potentielle Gefahr erlebt wird, wieder in die Position des wehrlosen Opfers gebracht zu werden, massivste Ängste auslöst und zu Gegenmaßnahmen führt, die den Spielraum für Verhandlungen und Einfühlung in die aus diesen Gegenmaßnahmen erfolgenden Traumatisierungen der gegnerischen Großgruppe einschränkt und so die Gefahr perpetuiert, statt sie zu beseitigen. Für Deutsche ist der Holocaust mit soviel Schuld und Schamgefühlen verbunden, daß aus Angst, wieder als antisemitisch gebrandmarkt zu werden, die bedingungslose Solidarität mit der Politik Israels Staatsräson ist, statt gerade aus der eigenen Erfahrung der Täterschaft kritisch vermittelnd Stellung zu beziehen. Für die Völkergemeinschaft bewirkte der Holocaust eine Art moralisches Gedächtnis und eine Menschheitsidentität, die im Völkerrecht verbindliche allgemeine Rechtsnormen eines "Nie wieder!" verankerte.

Der Vorkrieg hat nicht nur längst begonnen, er ist bereits in einen Ausbeutungskrieg gegenüber dem globalen Süden, der Natur, aber auch dem zurückgelassenen Prekariat übergegangen. Abschließend verlieh die Referentin ihrer Hoffnung Ausdruck, daß Aufklärung, Vernunft und Liebe zum Leben wie auch nach anderen Lebensformen suchende junge Menschen stark genug sind, um das Steuer noch herumzureißen und eine unabsehbare Katastrophe zu verhindern. Nur die vielleicht utopische Hoffnung auf eine Art Weltinnenpolitik mit Anerkennung des alleinigen Gewaltmonopols der UNO und dem Primat ziviler Konfliktprävention einschließlich der Durchsetzung weltweiter ökologischer und sozialer Gerechtigkeit könne den Kreislauf von Krieg und Traumatisierung durchbrechen, so die Referentin.

Nach ihrem Vortrag beantwortete Frau Klingenburg-Vogel dem Schattenblick einige Fragen zur Gefahr eines Kriegs gegen Rußland, zur Einschätzung internationaler Institutionen und zum Zusammenhang zwischen dem hiesigen Lebensstandard und der Ausbeutung anderer Weltregionen.


Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Mechthild Klingenburg-Vogel
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie hatten in Ihrem Vortrag unter anderem über die Verzweiflung gesprochen, die eigentlich alle Menschen ergreifen müßte. Wenn ein Großteil der Menschen jedoch merkt, daß es so nicht mehr weitergehen kann und die sozialen Garantien mehr und mehr zunichte werden, besteht dann nicht die Gefahr, daß Eigennutz an die erste Stelle tritt und jeder zusieht, sich Pfründe anzueignen und sich gegen andere abzugrenzen?

Mechthild Klingenburg-Vogel (MKV): Auf einer nicht so extremen Ebene denken viele, gerade jüngere Leute, dann will ich noch ganz viel erleben, denn wer weiß, wie lange das noch geht. Die Sicherung der Pfründe oder, im größeren Zusammenhang gesehen, die Verteidigung von Ressourcen und Nachschubwegen oder das Landgrabbing sind doch kein Zukunftsprojekt. Das passiert schon massivst, deswegen werden längst Kriege geführt.

SB: Aus europäischer Sicht droht zudem ein Krieg mit Rußland. Stehen wir in Europa am Vorabend des nächsten Weltkriegs?

MKV: Daß wir am Vorabend eines Krieges gegen Rußland stehen, mag ich kaum aussprechen, weil ich dieses Szenario für unvorstellbar halte. Nicht, daß es nicht passieren könnte, aber natürlich darf das nicht geschehen, und ich glaube und hoffe, daß sich das Interesse an starken Handelsbeziehungen zu Rußland noch positiv bemerkbar machen wird, damit es nicht zu einem Kriegsausbruch kommt.

Ich bin damals im Rahmen der Nachrüstungsdiskussion sehr aktiv in die Friedensbewegung eingestiegen. Seinerzeit hat sich auch die IPPNW gegründet. Mit der Aufstellung der Kurz- und Mittelstreckenraketen wäre Deutschland im Ernstfall das erste Ziel bei einem russischen Erst- oder Zweitschlag gewesen. Damals habe ich mich gefragt, wie es kommt, daß deutsche Politiker so etwas zulassen können, und ob diese suizidale Haltung nicht vielleicht mit einem unbewußten Schuldgefühl zusammenhängt. Ich will das jetzt nicht zu sehr psychologisieren, aber wie kommen Politiker dazu, Dinge zu tun, die so selbstzerstörerisch sein können oder sind?

Schon damals dachte ich, man müßte den Leuten Möglichkeiten geben, sich gut zu fühlen. Wenn irgendwo eine Katastrophe eintritt, entsteht plötzlich eine große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung, die die Leute auch glücklich macht. Darauf habe ich in meinem Vortrag angespielt, als ich davon sprach, auf eine gute Weise Verantwortung zu übernehmen, indem man sich tatsächlich als ziviler Vermittler, als Konfliktmoderator anbietet und auf diesem Feld tätig wird, auch wenn das ein bißchen utopisch klingt. Vielleicht wäre das eine gute Prävention gegen diese selbstzerstörerische wie auch zerstörerische politische Haltung. Abgesehen davon, daß es natürlich immer auch Interessen wie den sogenannten militärisch-industriellen Komplex gibt, aber daß dem wirklich etwas entgegengesetzt werden könnte.

SB: Müßte in diesem Zusammenhang nicht auch die Frage diskutiert werden, ob Medien und Politiker überhaupt im Interesse der Bevölkerung handeln und inwieweit es einen Konsens zwischen den Menschen und ihren jeweiligen Regierungen bezüglich des permanenten Kriegszustands in der Welt gibt?

MKV: Jeder, der seine Kinder liebt, sein Haus in Frieden bewohnen oder seinen Garten und die Natur genießen will, müßte eigentlich aktiv werden, und ich hoffe, daß tatsächlich 60 bis 70 Prozent der Deutschen, wie Untersuchungsergebnisse nahelegen, gegen den Krieg sind. Ich habe große Angst vor der Fanatisierbarkeit von Bevölkerungen. In Kiel läuft gerade eine eindrucksvolle Ausstellung über den Beitrag vor allem der evangelischen Kirche für die Kriegsbereitschaft zum Ersten Weltkrieg. Es ist unglaublich, was da alles gepredigt wurde. Tatsächlich hege ich Mißtrauen, wie stabil diese Kriegsabwehr bleibt, wenn eine entsprechende Propaganda angewendet wird. Wir haben ja heute in einem der Vorträge gehört, daß inzwischen Hunderte von Public-Relations-Unternehmen dabei sind zu zündeln.

SB: Bei Diskussionen über den Ersten Weltkrieg bekommt man häufig das Gefühl, wie dumm die Menschen damals doch waren, daß sie nicht erkennen konnten, was sich im Rückblick so zwangsläufig verhängnisvoll ausgewirkt hat. Wenn man sich aber anhört, wie heutzutage über Putin und die Notwendigkeit, harte Linie zu zeigen, gesprochen wird, fragt man sich natürlich, ob die Lehre aus der Geschichte völlig verlorengegangen ist. Herrschen heute womöglich die gleichen naiven bis ignoranten Verhältnisse wie vor den beiden Weltkriegen in der Bevölkerung vor?

MKV: Möglicherweise, wobei doch bemerkenswert ist, daß hinsichtlich des Antisemitismus zum Glück eine große Sensibilität in Deutschland eingekehrt ist und man sich damit in weiten Teilen der Bevölkerung auseinandergesetzt hat, daß schon eine große Angsterregtheit aufkommt, wenn nur der Vorwurf "antisemitisch" fällt. Nicht weniger bemerkenswert ist jedoch, daß sich nichts Vergleichbares gegenüber den Greueltaten an den Russen entwickelt hat. Daß jetzt in der Ukraine Außenminister Steinmeier einem faschistischen Führer die Hand gibt und sich vor faschistischen Symbolen fotografieren läßt, finde ich unfaßbar.

SB: Nach dem in Abwesenheit von Rainer Rupp verlesenen Vortrag wurde darauf insistiert, daß es in der Westukraine sehr wohl traumatisierte Opfer gegeben habe. Dabei ging es ihm gar nicht darum, die Opfer insgesamt zu leugnen oder zu bestreiten. Im Grunde wollte er lediglich herausarbeiten, daß die Opferzahlen nicht zuletzt von den westlichen Alliierten instrumentalisiert und mißbraucht wurden.

MKV: Ja, wobei er sich meines Erachtens ein bißchen differenzierter hätte ausdrücken müssen. Ich habe selbst Flüchtlinge behandelt, denen schreckliche Greueltaten von Menschen zugefügt wurden, die kurz vorher noch Nachbarn und Vereinskameraden waren. Daß eine solche Fanatisierung möglich ist, daß der Nachbar gegen den Nachbarn plötzlich zum Mörder wird, ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist, daß Geschichten total übertrieben oder gar erfunden werden. Das Schlimme daran ist, daß es keinen investigativen Journalismus mehr in ausreichendem Maße gibt, so daß solche Behauptungen einfach kolportiert werden. Selbst wenn sie hinterher berichtigt werden, kommt es nicht mehr wirklich an. Das ist das Bemerkenswerte und zugleich Beunruhigende.

SB: Sie erwähnten auch die kollektive Versöhnung am Beispiel Südafrikas mit der Wahrheitskommission. Inwieweit ist aus Ihrer Sicht eine Versöhnung möglich, wenn die herrschenden Verhältnisse im Sinne der Verteilung von Armut und Reichtum bestehen bleiben und Südafrika sogar als Muster für andere Konflikte herangezogen wird?

MKV: Ich weiß natürlich, daß viele Kritiker einwenden, die Opfer, die sich an die Versöhnungskommission wandten, hätten die versprochenen Entschädigungen nicht bekommen. Natürlich herrschen in Südafrika weiterhin eine hohe Gewalttätigkeit und große gesellschaftliche Unterschiede, aber wir wissen nicht, wie es jetzt wäre, wenn es die Wahrheits- und Versöhnungskommission nicht gegeben hätte. Für mich war es wirklich ein Kulturfortschritt, als die Anhörungen über die Rundfunkanstalten übertragen wurde. Die Leute standen auf den Marktplätzen und haben zugehört. So etwas hätte ich mir nach 1945 in Deutschland gewünscht. Richtig ist jedoch auch, daß sich vor allem schwarze Polizisten schuldig bekannt haben. Das war die Voraussetzung dafür, um sich an die Versöhnungskommission zu wenden und Amnestie zu bekommen. Damit war der Klassenunterschied wieder mit drin.

SB: Sie haben sich wohlwollend über den Einsatz internationaler Institutionen ausgesprochen, mit der Hoffnung darauf, daß sie in Konflikten als dritte Macht Kontrolle ausüben. Darauf kam in der Diskussion der Einwand, daß diese Institutionen nicht selten von den führenden Mächten in Besitz genommen werden.

MKV: Ja, vom UN-Sicherheitsrat gilt das zweifelsohne, weil die USA dort ein Veto-Recht besitzen. Ich weiß natürlich, daß die Neutralität internationaler Institutionen utopisch ist, aber dennoch glaube ich, daß es anders nicht geht. Wenn man eine potentiell wirklich unvorstellbare Katastrophe nicht in Betracht ziehen will, muß man versuchen, solche Gremien zu schaffen und zu stärken.

SB: Sie haben auch hervorgehoben, daß der eigene Lebensstil oder bestimmte Konsumerwartungen zum Beispiel der Menschen hier in Deutschland keine Rolle spielen sollten, wenn es darum geht, die Bedingungen für Kriege endgültig aus der Welt zu schaffen. Andernfalls, so führten Sie aus, käme es zu Abschottungseffekten, um den erarbeiteten Lebensstandard zu verteidigen, was in der Konsequenz dazu führen könnte, daß Kriege um Ressourcen und Transportwege von einem Großteil der Bevölkerung letzten Endes befürwortet werden.

MKV: Ja, das ist die Haltung von vielen, die Angst davor haben, das andere auf unsere Kosten leben und uns wegnehmen, was wir mühsam erarbeitet haben. Wirklich schwer vermittelbar und wahrscheinlich auch psychisch schwer durchführbar ist, daß die Not und die Konflikte in der sogenannten Dritten Welt mit uns und unserem Lebensstandard zu tun haben, nicht nur als Folge der Kolonialunordnung, wie ich sie genannt habe, sondern aufgrund unseres immensen Ressourcenverbrauchs. Obwohl der Klimawandel von uns verursacht ist, fühlen wir uns dafür nicht verantwortlich. Dafür und für die Opfer unseres Reichtums müssen wir jetzt einstehen.

SB: Frau Klingenburg-Vogel, vielen Dank für dieses Gespräch.


Bisherige Beiträge zur NGfP-Konferenz in Berlin im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

BERICHT/029: Krieg um die Köpfe - auf die Füße stellen ... (SB)
BERICHT/030: Krieg um die Köpfe - Miles legalitus ... (SB)
INTERVIEW/024: Krieg um die Köpfe - teile und kriege ...    Dr. Moshe Zuckermann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/025: Krieg um die Köpfe - Angriff ausgeschlossen ...    Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder im Gespräch (SB)
INTERVIEW/027: Krieg um die Köpfe - Rückwärts voran ...    Dr. Peer Heinelt im Gespräch (SB)
INTERVIEW/028: Krieg um die Köpfe - Rückwärtsgang, nur schneller ...    Dr. Friedrich Voßkühler im Gespräch (SB)
INTERVIEW/029: Krieg um die Köpfe - Nibelungentreue ...    Jürgen Rose im Gespräch (SB)
INTERVIEW/030: Krieg um die Köpfe - Zum Menschen zurück ...    Christiane Reymann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/031: Krieg um die Köpfe - Renaissance der Gewaltpsychiatrie ...    Dr. Almuth Bruder-Bezzel im Gespräch (SB)

19. April 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang