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INTERVIEW/035: Krieg um die Köpfe - Psychoanalyse auf die Füße gestellt ...    Ulrike Mensen im Gespräch (SB)


Mut zur Negativität entwickeln

"Krieg um die Köpfe - Der Diskurs der Verantwortungsübernahme"
Kongreß der Neuen Gesellschaft für Psychologie vom 5. bis 8. März 2015 in Berlin


Die Psychologin Ulrike Mensen war auf dem Kongreß der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) mit einem Vortrag vertreten, der unter dem Titel "Grenzenloses Wachstum - grenzenloses Ich? Die Antwort der Psyche auf die soziale Ökonomisierung" untersuchte. Leistungsdruck und Wachstumsdiktat treiben das neoliberal vergesellschaftete Subjekt, das dieser Anforderung bei anwachsendem Kontrollverlust und zunehmender Undurchschaubarkeit herrschender Verhältnisse immer weniger gewachsen ist, in den Rückzug auf ein vermeintliches Selbst, das seinerseits von den Bruchlinien dieser Widerspruchslagen durchzogen ist. Der Anspruch auf Eigenverantwortung wird auf die Optimierung des eigenen Marktwertes beschränkt. Rechenschaftspflichtig für dabei erlittene Verluste ist allein das Individuum, dem der Zugang zu sozialer Verantwortung und der gesellschaftlichen Machtfrage durch seine auf Konkurrenz und Abgrenzung getrimmte Subjektkonstitution systematisch versperrt wird. "Das diesem Imperativ zur Selbstverwirklichung immanente Moment des individuellen Scheiterns steht im Schatten, wirkt verborgen und wird dadurch umso mächtiger", so die Schlußfolgerung Ulrike Mensens zu der von ihr festgestellten Entgrenzung, zu der sie dem Schattenblick am 5. März 2015 einige Fragen beantwortete.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ulrike Mensen
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Mensen, Was hat Sie persönlich dazu bewogen, an diesem Kongreß teilzunehmen?

Ulrike Mensen: Mein grundlegendes Interesse ist, Psychologie und gesellschaftliche Entwicklung nicht voneinander zu trennen, weil die Psyche von den sozialen Strukturen, in denen wir aufwachsen und uns bewegen, beeinflußt ist. Ich zitiere in diesem Zusammenhang gerne Adorno, der gesagt hat, daß man in der innersten Textur der Subjekte auf Gesellschaftliches trifft. Die Mainstream-Psychologie weicht davon ab, was ich sehr schade finde, weil ich glaube, daß die Psychologie und speziell die Psychoanalyse viel zur Aufklärung der gesellschaftlichen Prozesse beziehungsweise Subjekte, die die Gesellschaft prägen, beizutragen hätte. Das beschreibt auch mein Interesse an der Neuen Gesellschaft für Psychologie, die sich das auf die Fahne geschrieben hat.

SB: Ist eine Ich-Entwicklung oder sind Subjektivierungsprozesse ohne Prägung durch die Gesellschaft überhaupt möglich?

UM: Ich denke, daß es so etwas nicht gibt, aber es wird oftmals dennoch anders behandelt. Gerade die heutige universitäre Psychologie betrachtet die Problematik sehr individualisiert. Vor allem bei Psychopathologien oder anderen entsprechenden Störungen wird stark auf das Individuum geschaut und nicht so sehr darauf, aus welchem sozialen Rahmen die Patienten kommen und was für Zwänge, Normen oder Anforderungen dort vorherrschen. Meines Erachtens kann man das nicht unabhängig voneinander sehen. Es gibt kein Subjekt ohne Gesellschaft.

SB: Im Titel Ihres Referats haben Sie auf ein grenzenloses Wachstum abgehoben. Meinen Sie das eher allgemein oder wollen Sie damit die Dominanz des Wachstumsparadigmas zum Ausdruck bringen?

UM: Ich habe es als Sinnbild für das Wachstumsparadigma gedacht, weil es weder im Mainstream noch im wirtschaftlichen Diskurs in Frage gestellt wird. Statt dessen wird immer danach geschaut, wo man neue Investitionen machen oder wie man Menschen noch mehr zum Konsumieren anregen kann. Ein Umdenken in Postwachstumsdiskursen oder gar sozialistische Denkweisen kommen gar nicht vor. Der Referatstitel drückt also eine generelle Haltung zum Wachstum aus.

SB: Muß ein Ich für Sie umgrenzt sein, um funktionieren zu können?

UM: Jein. Ich denke, daß ein abgegrenztes Subjekt für das psychische Empfinden von Beziehungen elementar ist, aber Durchlässigkeiten aufweisen sollte, daß man sich fragt, wo höre ich auf, wo fängt der andere an. Durch die Flexibilisierung in den Arbeitsprozessen und die gesellschaftlichen Aufrufe zur Leistungssteigerung wird die Grenze zwischen Arbeit und arbeitendem Subjekt immer mehr aufgehoben. Meines Erachtens sind Grenzen jedoch wichtig, um sich überhaupt als Subjekt wahrnehmen zu können.

SB: In der Arbeitswelt wird gerne von Selbstoptimierung gesprochen. Sehen Sie darin einen wesentlichen Unterschied zu früheren sozioökonomischen Entwicklungsphasen wie beispielsweise im fordistischen Kapitalismus? Hatte der Mensch damals noch andere Möglichkeiten zur Selbstentfaltung oder hat man es heutzutage lediglich mit der Erweiterung des ohnehin immer schon verfolgten Ziels maximaler Verwertung der Arbeitskraft zu tun?

UM: Im Sinne von Marx handelt es sich dabei auf jeden Fall um eine Fortführung der gesellschaftlichen Arbeitsverwertung, aber ich bin dennoch der Meinung, daß es heutzutage eine andere Qualität angenommen hat. Früher war es eher so, daß man sich bei der Arbeit angestrengt hat, wenn der Arbeitsprozeß beaufsichtigt wurde, aber wenn man fertig war, war auch die Arbeit zu Ende. Aber heutzutage sind Herr und Knecht im Subjekt vereint. Man braucht niemanden mehr von außen, der schaut, ob man auch arbeitet, weil der scharfe Richter innerlich repräsentiert ist. Ich glaube, daß dieser oftmals sehr viel schärfer und auch quälender erlebt wird als eine äußere Instanz.

SB: Im Abstract zu Ihrem Vortrag stand, daß unter den herrschenden Bedingungen eigentlich nur noch der Rückzug auf das Selbst bleibt. Wenn man davon ausgeht, daß der Mensch maßgeblich durch die Gesellschaft geprägt ist, inwieweit kann man dann noch von einem Rückzug in eine Subjektqualität sprechen?

UM: Das ist nicht möglich, und so gesehen ist es nur ein scheinbarer Rückzug aufs Selbst. Angesichts einer immer unüberschaubarer werdenden Umwelt mit ständig sich verändernden Prozessen handelt es sich dabei um den letzten Versuch, mit dem Rückzug auf das Selbst eine Art von Sicherheit herzustellen. Der voranschreitenden Individualisierung entspricht daher, daß man sich in allen Bereichen des Lebens auf sich selbst fokussiert. Im Sinne der Selbstoptimierung ist man beispielsweise bestrebt, einem Schönheitsideal zu entsprechen oder am Arbeitsplatz höchste Leistung zu erbringen, eine Familie zu haben und als Teil der Gesellschaft zu funktionieren, aber letztendlich agiert man dabei sehr ichbezogen, um das Selbst zu erreichen. Es ist also der verzweifelte Versuch, inmitten der Auflösungserscheinungen Sicherheit zu erlangen, die aber nicht erlangt werden kann.

SB: Sie sind auch auf den Begriff der Eigenverantwortung eingegangen, der signifikant ist für das neoliberale Denken. Könnten Sie sich vorstellen, daß aus diesem Prozeß der Ausblendung aller relevanten Vergesellschaftungsprozesse und Herrschaftsverhältnisse heraus noch eine emanzipatorische Bewegung in Gang kommt, oder glauben Sie, daß diese Entwicklung die Menschen einer unumkehrbaren Ohnmacht unterwirft?

UM: Ich glaube, daß wir zunächst einen Schritt zurückmachen müssen, bevor eine emanzipatorische Bewegung einsetzen kann. Dazu ist es wichtig, erst einmal innezuhalten und anzuerkennen, wo wir gelandet sind, denn bei der Positiv-Gesellschaft - der Philosoph Byung-Chul Han nennt das I like-Habitus - ist es so, daß man den Dingen eher zustimmt, affirmativ ist und den Gegebenheiten eine positive Haltung entgegenbringt. Daher ist es nötig, Mut zur Negativität zu haben, auch wenn das bedeutet, daß sich dieses Bild als depressiv und desillusionierend darstellt und man nicht weiß, was aus dieser Aufdeckung, die im Moment noch überhaupt nicht gesamtgesellschaftlich angekommen ist, entstehen kann.

SB: Diese Problematik wird im wesentlichen nicht öffentlich diskutiert, und dennoch scheitern die Menschen die ganze Zeit.

UM: Richtig, und dann rutschen sie ab in die Pathologie und kriegen den Stempel Depression oder Burnout, was letztlich auch eine Form der Depression ist, aufgedrückt.

SB: Wo verorten Sie die Rolle der Psychologie und vor allem der Psychoanalyse? Eine klassische Kritik an den therapeutischen Berufen lautet, daß sie im wesentlichen einen Reparaturbetrieb des Kapitalismus darstellen und lediglich dafür sorgen, daß die Menschen funktionieren. Nicht zufällig gibt es heute eine starke Dominanz im Bereich behavoristischer Verhaltenstherapien.

UM: Die Psychoanalyse arbeitet im therapeutischen Verfahren aufdeckend. Das könnte auch ihre Rolle sein, nämlich gesellschaftliche Prozesse aufzudecken, aber gleichzeitig laboriert die therapeutische Praxis an dem Dilemma, daß man den Problemen der Menschen lediglich in ihrer individuellen Not gerecht werden möchte, statt auf einer gesamtpolitisch gesellschaftlichen Ebene aufzuzeigen, worum es hier eigentlich geht.

SB: Haben Sozialwissenschaften, Psychologie und Psychoanalyse aus Ihrer Sicht überhaupt noch eine gesellschaftliche Aufgabe oder befinden sich diese Disziplinen auf einem Seitengleis, weil sie nicht mehr in dem Ausmaß gebraucht werden, um die Menschen zur Eigenständigkeit zu befähigen?

UM: Ich glaube, daß man sie im öffentlichen Diskurs sehr braucht, vielleicht sogar mehr denn je. Denn die akademische Psychologie definiert sich mittlerweile als Naturwissenschaft und äußert sich deswegen kaum noch zu gesellschaftlichen Fragen, und die Sozialpsychologie findet an den meisten Universitäten kaum noch Studenten, während die Psychoanalyse aus dem akademischen Kontext ohnehin fast verschwunden ist, was ich persönlich sehr bedauere, eben weil ich glaube, daß sie durch ihre aufdeckenden Verfahren zu einem großen gesellschaftlichen Erkenntnisgewinn beitragen könnte. Aus diesem Grund habe ich an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) meinen Master-Abschluß gemacht, weil mir die naturwissenschaftlich anmutende Psychologie nicht besonders liegt. Daß die Psychologie als Geisteswissenschaft hier in Deutschland nur noch einen Randbereich im akademischen Betrieb abdeckt, finde ich problematisch, denn sie hat ihre Berechtigung.

SB: Der NGfP-Kongreß verfolgt eben diesen Anspruch und hat sich mit dem Diskurs der Verantwortungsübernahme politisch positioniert. Gibt es aus Ihrer Sicht unter Kolleginnen und Kollegen Zuspruch dafür?

UM: Ich arbeite nicht mehr an der Universität und kann deswegen nichts dazu sagen. Mich haben persönliche Gründe hierher geführt, wobei ich erwähnen möchte, daß es an der Internationalen Psychologischen Universität durchaus einen Diskurs darüber gibt, gesellschaftliche Phänomene psychoanalytisch zu erklären und auch auf individuelle Problematiken anzuwenden.

SB: Sie waren an der IPU an einem Forschungsprojekt zum Thema "Meine Schönheitsoperation" beteiligt. Gibt es dazu Ergebnisse hinsichtlich der Frage, wie Menschen, die sich Schönheitsoperationen unterziehen, das reflektieren und verarbeiten?

UM: Ergebnisse kann ich leider nicht nennen, weil ich nur in der Erhebungsphase dort gearbeitet habe, aber generell ist das Projekt sehr interessant, weil es sich auf einer Kooperation der Universitäten Jena, Hamburg und Berlin gründet und in sich die Fakultäten Erziehungswissenschaften, Soziologe und Psychoanalyse vereinigt. In dem Projekt wird versucht, einen Blick auf die gegenwärtigen Phänomene aus unterschiedlichen Perspektiven zu werfen. So werden aus psychoanalytischer Sicht verschiedene Pathologien erforscht wie Burnout und Bulimie, aber auch Menschen, die eine Schönheitsoperation haben machen lassen. Untersucht wird in diesem Fall, inwiefern gesellschaftliche Strömungen oder Anforderungen bzw. Ideale einen besonderen Einfluß auf diese Menschen ausüben.

SB: Wie bewerten Sie die Zurichtung des Körpers auf die Erwartungen anderer als Psychologin und auch als Frau? Was treibt Menschen dazu, sich schmerzhaften Prozeduren zu unterziehen und die damit verbundenen Risiken in Kauf zu nehmen, um möglicherweise ihren Marktwert zu steigern?

UM: Es findet ein nicht endender Optimierungslauf auf allen möglichen Gebieten statt, der Körper ist einer davon. Viel weiter als Schönheitsoperationen geht es ja kaum noch, aber die Zurichtung des Körpers fängt viel früher an, zum Beispiel mit dem Diätwahn und den dahinter definierten Schönheitsidealen. Die Frau hat schön zu sein, muß aber heutzutage auch schlau und eine gute Mutter sein. Wenn man in diesem Optimierungslauf eine Kompetenz schmiedet, leidet die nächste darunter. Das heißt, man kommt aus diesem Wahnsinn nicht mehr heraus, und ein Stück weit stecken wir alle drin.

SB: In der Linken gibt es dazu den Begriff des Lookism, mit dem kritisiert wird, daß sich Menschen den Erwartungen anderer hinsichtlich ihres Aussehens beugen. In manchen linken Diskussionen, die diesen Punkt reflektieren, gibt es den verweigernden Ansatz, einmal ganz absichtlich häßlich bzw. unattraktiv aufzutreten. Was halten Sie davon?

UM: Man muß genauer fragen, ob die Erwartungen wirklich nur von den anderen kommen und nicht meine eigenen sind. Alles fängt mit der Sozialisation an und damit, daß man mit bestimmten Bildern aufgewachsen ist. Um sagen zu können, das Schönheitsideal finde ich nicht schön, müßte man einen schwierigen Prozeß durchmachen, bis sich vielleicht irgendwann eine Position abbildet, die vom Mainstream abweicht. Denn letztlich sind Ideale tief in uns verankert.

SB: Frau Mensen, vielen Dank für das Gespräch.


Bisherige Beiträge zur NGfP-Konferenz in Berlin im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

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7. Mai 2015


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