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INTERVIEW/036: Warum schweigen die Lämmer? - Amputierte Sinne ... Prof. Dr. Rainer Mausfeld im Gespräch (SB)


Herrschaftstechniken und Gegenstrategien


Vortrag zum Thema "Demokratie, Psychologie und Empörungsmanagement" am 22. Juni 2015 in der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Prof. Dr. Rainer Mausfeld hat an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel den Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie II inne, der die Bereiche Wahrnehmungs- und Kognitionspsychologie beinhaltet. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt unter anderem bei der visuellen Wahrnehmung der Eigenschaften von Oberflächen und hierbei insbesondere bei der Farbwahrnehmung.

Am 22. Juni hielt Prof. Mausfeld einen Vortrag zum Thema "Demokratie, Psychologie und Empörungsmanagement" im Norbert Gansel-Hörsaal der Kieler Universität. [1] Nach der Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige weiterführende Fragen zu den im Vortrag angesprochenen Herrschaftstechniken und möglichen Gegenstrategien.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Prof. Dr. Rainer Mausfeld
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie haben in den 70er Jahren studiert. Damals herrschte weithin eine Aufbruchstimmung, die die Frage einer Gesellschaftsveränderung auf die Tagesordnung setzte. Wäre es angesichts der inzwischen dramatisch geschrumpften emanzipatorischen Bestrebungen nicht an der Zeit, diese Thematik wieder aufzugreifen und stärker einzubinden?

Rainer Mausfeld (RM): Das sind Fragen, die von einigen Organisationen - denken Sie an Attac - heute durchaus thematisiert werden. Aber das ist in der Tat nicht mehr in dem Maße der Fall, wie es zum Teil auch mit einer theoretischen Untermauerung - die 70er Jahre waren sehr viel theoriereicher - geschehen ist. Das ist bei den heutigen Bewegungen nicht mehr der Fall. Sie sind anarchischer, sie sind spontaner, sie entstehen punktuell, lösen sich manchmal, wie man bei Occupy gesehen hat, dann wieder auf. Dadurch haben sie offenbar weniger Schlagkraft als die Bewegungen, in die wir in den 70er Jahren unsere Hoffnung setzten, und die zumindest ein breiteres theoretisches Fundament hatten. Zugleich ist der gedankliche Spielraum zur Entwicklung von Optionen deutlich geringer geworden als in den 70er Jahren. Uns sind im Grunde die Möglichkeiten ausgegangen, wir sind hilflos geworden, Gesellschaftsvorstellungen zu formulieren oder zu entwickeln, wie man das damals gemacht hat. Zumindest ist das mein Eindruck.

SB: In welchem Maße spielt eine kritische Psychologie eine Rolle bei der Durchsetzung von Herrschaft? Es sind ja nicht immer nur die konservativen Fraktionen der Psychologen oder Sozialwissenschaftler, die eingebunden werden. Könnte nicht die Gefahr bestehen, daß man sich auch kritischere Teile dienstbar macht, gerade weil sie die herrschende Widerspruchslage besonders tief durchdrungen haben?

RM: Die Kritische Psychologie ist inzwischen aus der Disziplin verschwunden. Ich kenne sie nur aus den 70er und 80er Jahren. Sie spielt heute im Fach keine Rolle mehr. Man könnte den Neoliberalismus als die eigentliche Occupy-Bewegung bezeichnen, weil er alles okkupiert, alles verschlingt und in dem Sinne totalitär ist, daß er in alle gesellschaftlichen Bereiche eindringt - und das hat er auch mit der Psychologie gemacht. Angefangen vom Studium bis hin zu der Planung von akademischen Karrieren sind alle Stufen so stark durch ökonomische Kriterien kontrolliert, nivelliert und kanalisiert, daß eine Kritische Psychologie heute im Fach gar nicht mehr entstehen könnte. Es gibt sie de facto nicht mehr.

SB: Sie haben ein Modell entwickelt, wonach es bestimmte Lücken im menschlichen Bewußtsein gibt, durch die es angreifbar ist und unterwandert werden kann. Müßte man in diesem Zusammenhang nicht auch die Frage stellen, welche Interessenlage ein Mensch hat? Kann er nicht im Zuge des Kampfs für seine Interessen einen Widerstandsgeist entwickeln, der diese Schwächen wettmacht?

RM: Ja natürlich! Die Geschichte ist voll davon. Das ist ja gerade die Hoffnung - eine Hoffnung, weil wir natürlich keine Sicherheit haben - da es genug derartige Belege gibt. Denken Sie an den Jahrhunderte währenden Kolonialismus und die Sklaverei, bei denen wir immer wieder auf einer niedrigeren Ebene, auf einer kleineren Skala, beobachten können, daß Widerstand möglich ist. Das Potential dazu ist im menschlichen Geist angelegt. Es existiert ein natürliches Empörungspotential, bei dem es sich allerdings wie mit dem Immunsystem verhält. Dieses wird manchmal von Viren angegriffen, die die Möglichkeit haben, es zu unterlaufen. Das sind insofern die gefährlichsten Viren, weil wir dagegen keine natürlichen Abwehrkräfte haben. Ein solches Einfallstor suchen die herrschenden Eliten: Gibt es in unserem geistigen Immunsystem Schwächen für Arten des Zugriffs, gegen die wir kein natürliches Empörungspotential haben? Gewalt abstrakt zu machen, ist einer der erfolgreichsten Tricks auf diesem Gebiet. Die Machtstrukturen einer Gesellschaft werden so unsichtbar gemacht, daß niemand dagegen ein Empörungspotential entwickeln kann. Es stellt sich also die Frage, wie wir die nicht hinzunehmenden Zustände wieder so aufbereiten können, daß wir zu einer natürlichen Empörung darüber fähig sind.

SB: Sie haben in Ihrem Vortrag den Begriff Empörung in verschiedenen Zusammenhängen benutzt. Zum einen im Sinne einer sozialen Emotion und Reaktion, die nur von kurzer Dauer ist. Zum anderen im Sinne von Aufstand, der aus Sicht der herrschenden Verhältnisse einer Befriedung oder Bekämpfung bedürfte. Wie würden Sie den Begriff Empörung genauer definieren?

RM: Als Kognitionspsychologe würde ich sagen, daß wir von Natur aus - und das ist bereits bei Kleinkindern der Fall - über eine natürliche Moral verfügen. Es gibt faszinierende neuere Experimente, die zeigen, daß sich schon Kleinkinder sehr empören, indem sie physiologisch auf Ungerechtigkeiten, zum Beispiel Verteilungsungerechtigkeiten von Spielzeug oder Süßigkeiten, reagieren. Sie reagieren affektiv, wenn sie Ungerechtigkeit beobachten. Das heißt, wir haben in verschiedenen Teilsystemen unseres Geistes Möglichkeiten, affektiv zu reagieren. Ihre Frage zielt darauf ab, daß Empörung etwas sein sollte, das reflektiert wird. Das ist natürlich beim Säugling oder Kleinkind noch nicht der Fall. Grundsätzlich ist Empörung jedoch eine Aktivierung unserer natürlichen moralischen Systeme. Man sagt heute in der Kognitionsforschung, daß wir über eine moral grammar, eine moralische Grammatik, verfügen, die Teil unserer Natur ist und in der bestimmte Dinge angelegt sind, auf die wir affektiv reagieren. Das ist sozusagen die Grundlage der Empörung.

Auf dieser Grundlage baut die Möglichkeit auf, daß die Empörung vom Verstand aufgegriffen, weitergeführt und reflektiert, also zu einer gedanklichen Empörung wird. Während die affektive Reaktion nur sehr kurzfristig ist und rasch wieder verschwindet, ist die beispielsweise in Gruppen sozial weitergegebene, also gedankliche Empörung, stabiler. Die Frage ist daher, wie ich die natürliche Empörung über ungerechte Zustände durch die Vernunft oder auch indem ich sie in einen sozialen Kontext von Gleichgesinnten einbette, die sie teilen und weitergeben, stabilisieren kann.

SB: Sie zitierten an einer Stelle Ihres Vortrags Harold Pinter mit den Worten: "Es interessiert einfach keinen." Wäre das nicht auch ein wichtiger Aspekt, daß Menschen ein Interesse an der Aufrechterhaltung ungerechter Verhältnisse haben können?

RM: Die Psychologie spricht mit Blick auf das, was Menschen interessiert, von Bedürfnishierarchien. Die Menschen interessiert natürlich zuallererst, Nahrung zu bekommen. Das steht über allem, und wenn sie um Nahrung kämpfen, vergessen sie alles andere wie etwa die Gesellschaft. Deswegen treten Empörungsreaktionen nur selten auf, wo Menschen um ihr Leben kämpfen. In dieser Hierarchie von Bedürfnissen ist diese Art reflektierter Empörung, die Sie ansprechen, leider weit hinten nachgeordnet. Der Mensch will Nahrung, er will in Ruhe gelassen werden, die meisten Leute wollen eigentlich ihr kleines Leben leben. Sie wollen Beziehungen eingehen, ihre Kinder großziehen, eine gewisse Sicherheit erfahren, daß sie durch Arbeit ihr Leben gestalten können. Die meisten Reaktionen beziehen sich also auf einen Mikrokosmos. Wir sind sozusagen für das Dorf evolviert, wir sind für Kleingemeinschaften ausgelegt, und darauf beziehen sich unsere vorrangigen Interessen. Diese auf die Gesellschaft im größeren Maßstab zu übertragen, gelingt nur durch das Licht der Vernunft, nur durch einen Erkenntnisprozeß. Daß es keine natürlichen Kategorien sind, macht die Sache so schwer - man muß die Leute ja regelrecht zur Revolution tragen!

SB: Sie haben auch von Aufklärung gesprochen. Die heutige Veranstaltung stellt ja einen Ansatz dar, zunächst verborgene Zusammenhänge an die Öffentlichkeit zu bringen. Ist es um des Protests und Widerstands willen erforderlich, von fachlicher Seite aufzuklären? Sehen Sie darin auch Ihre Aufgabe und Rolle?

RM: In gewisser Weise ja. Ich bin in dieser Hinsicht jedoch etwas zurückhaltend, da ich Experten keine Rolle in diesem Prozeß zubilligen möchte, weil ich ihnen mißtraue. Experten sind in der Regel diejenigen, die dann doch wieder die Perspektive der jeweils herrschenden Ideologie einnehmen. Kämen jetzt Psychologen mit dem Anspruch, über die herrschenden Verhältnisse aufzuklären, wäre ich sehr mißtrauisch. Diese Dinge müssen eigentlich von unten kommen, und deshalb habe ich eingangs klargemacht, daß alles, was ich heute anspreche, kein Expertenwissen verlangt. Das kann jeder leisten, der anfängt nachzudenken. Aber wie beispielsweise bei Atomkraftwerken, wo ich gerne auch mal von einem Physiker höre, welche Auswirkungen sie haben, ist es in diesem Fall hilfreich, wenn ein Psychologe darauf hinweisen kann, wie infam die Manipulationstechniken mittlerweile sind. Ich würde jedoch keine privilegierte Rolle beanspruchen, sondern habe betont, daß ich hier nicht als Psychologe stehe, sondern als Citoyen, als Bürger unter Bürgern - denn ich bin ja diesen Einflüssen genauso ausgesetzt -, der dazu beitragen möchte, einen Griff auf diese Problematik zu entwickeln.

SB: Wie Sie ausgeführt haben, könne man selbst dann der Manipulation unterliegen, wenn man über bestimmte Zusammenhänge aufgeklärt ist. Warum kann es Ihres Erachtens dazu kommen, daß man der eigenen Überzeugung widersprechende Auffassungen akzeptiert?

RM: Diese Aussage bezog sich nur auf einen Wiederholungseffekt. Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der heutigen Veranstaltung befand sich offenbar kein im Völkerrecht bewanderter Jurist. Woher rührt dann die Sicherheit zu sagen, es handle sich im Falle der Krim um eine Annexion? Eigentlich müßte man sagen, daß man es nicht wisse, da es sich um eine komplizierte völkerrechtliche Kategorie handelt. Historische Beispiele wie Osttimor oder Kosovo legen nahe, daß eine Sezession eine läßliche Sünde im Völkerrecht sei. Zumindest hat der Internationale Gerichtshof im Falle Kosovos entschieden, daß man das darf. Andererseits wäre es wohl nicht ganz rechtens, würde sich Schottland abspalten, ohne England zu fragen. Woher kommt es, daß die Bevölkerung in einer Fachfrage für Juristen nicht mehrheitlich sagt, da kennen wir uns nicht aus? Die "Annexion der Krim" wird nachgeplappert, weil sie durch Wiederholung gleichsam wahr geworden ist. Das ist ein statistischer Effekt in der Bevölkerung, der eine Dekontextualisierung voraussetzt. Wer sich hingegen damit beschäftigt und den Kontext klar erfaßt, wird zur Vorsicht mahnen, da schon allein die Kenntnis des Kontextes immunisieren kann.

Der Punkt, um den es mir vor allem ging, betraf die Illusion, daß wir unseren Geist unter Kontrolle haben und wissen, was in uns vorgeht. Tatsächlich bekommen wir 90 Prozent dessen, was in uns geschieht, nicht mit und haben kein Organ, um unserem Geist bei der Arbeit zuzusehen und ihn zu stoppen. Die meisten Vorgänge in uns laufen einfach ab. Wenn ich Ihnen die beiden Zahlen Fünf und Sieben zur Addition gebe, dann sagen Sie "zwölf". Wenn ich Sie hinterher frage, was Sie gerade gemacht haben, antworten Sie: "Das weiß ich doch nicht! Ich kenne nur das Resultat." Das eigentlich Gefährliche daran ist, daß wir Effekten der Einflußnahme schutzlos ausgesetzt sind. Daher müssen wir zuallererst die Illusion überwinden, wir seien immun.

Der erste Schritt zur Immunisierung besteht meines Erachtens darin, Situationen aktiv zu meiden, in denen wir manipuliert werden. Ich will es einmal drastisch formulieren: keine Tageszeitung mehr lesen. Denn sobald ich mich der Situation aussetze und umspült bin von Ideologie, passieren all die genannten Effekte, wenn auch vielleicht viel geringer als beim unaufgeklärten Bürger. Aber Sie würden sich wundern, was geschieht, wenn wir Experimente durchführen. Wenn Viren das Immunsystem unterlaufen, bilden wir uns nicht ein, das schon hinzukriegen. Dasselbe sollte für die Illusion der Kontrolle gelten. Nein, Sie müssen radikal alle Umfelder meiden, in denen diese Viren anzutreffen sind. Die einzige Möglichkeit, uns einen Rest von Autonomie zu bewahren, besteht darin zu sagen: In bestimmte ideologiegetränkte Felder begebe ich mich nicht mehr.

SB: Da schließt sich die Frage an, welche Mittel und Möglichkeiten man in dieser Gesellschaft überhaupt hat, solche Felder zu meiden.

RM: Das Internet bietet in diesem Sinne phantastische Optionen, weil ich dort die Möglichkeit habe, bei Interesse an einem Thema im Sinne der Aufklärung fündig zu werden. Ich kann in Blogs gehen, wo ich mich kundig mache. Das ist allerdings mühsam und anstrengend. Die Tageszeitung kriegen Sie zum Frühstücksei vor die Haustür gelegt. Aufschlagen, durchblättern und dann schnell in den Teil Vermischtes, wo etwas über Caroline von Monaco steht. Das ist natürlich eine viel schönere Art der Frühstücksbeschäftigung, als zu sagen, ich gehe ins Internet und lese erstmal die Seiten, die sich mit bestimmten Themen beschäftigen. Aber diese Möglichkeit haben wir heute, das gab es vor 30 oder 40 Jahren nicht. Damals mußte man in Buchhandlungen gehen und fand natürlich nie aktuelle Beiträge. Wir können uns heute über die jüngsten Entwicklungen viel schneller informieren.

SB: Sie haben auch zur weißen Folter gearbeitet. Es ist ja ein großes Vermittlungsproblem, Menschen verständlich zu machen, worum es sich dabei handelt.

RM: Das verhält sich ganz ähnlich wie beim Unterlaufen des Immunsystems oder einer Abstraktion ins Ungreifbare. Weiße Folter ist nicht sichtbar. Ein Opfer der weißen Folter wird gar nicht als solches wahrgenommen, weil dieser Mensch in seiner Hülle intakt ist und niemand ihn als Opfer erkennt. Das ist natürlich auch genau der Sinn, warum weiße Folter bewußt entwickelt worden ist und zwar nur in Demokratien. In Diktaturen brauchen wir sie nicht, da können wir blutig foltern. In der Demokratie beugt man einer Empörungsreaktion angesichts der Wahrnehmung von Folteropfern vor und entwickelt eine Form der Folter, deren Spuren man nicht sieht. Dadurch wird die totale Seelenzerstörung, die diese Folter anrichtet - übrigens auch schon die Isolationsfolter, das war ja damals bei der RAF so - von der Bevölkerung in der Regel nicht wahrgenommen.

Es geht darum, Verletzungen moralischer Normen für die Bevölkerung unsichtbar zu machen - ob es weiße Folter oder strukturelle Gewalt durch Wirtschaftsunternehmen und den Neoliberalismus insgesamt ist. Wenn uns Jean Ziegler, der Hungerbeauftragte der UN, vor Augen führt, daß dieselbe Zahl an Toten, die der Faschismus in sechs Jahren hervorgebracht hat, durch den Neoliberalismus in nur einem Jahr erreicht wird, schlucken wir und fragen, wie uns das entgehen konnte. Millionen Tote in einem einzigen Jahr! Ziegler sagt: Jedes Kind, das verhungert, ist ein ermordetes Kind. Der Mechanismus der Verschleierung ist stets derselbe und wurde im Laufe der Geschichte immer wieder gezielt genutzt. Wie schon Thukydides sagte: Dem Namen nach eine Demokratie, in Wahrheit eine Oligarchie - die Bevölkerung darf es nur nicht bemerken.

SB: Es handelt sich demnach um eine Herrschaftstechnik, die sich weiter qualifiziert hat. Würden Sie da einen Ausblick in die Zukunft wagen?

RM: Als ich George Orwell gelesen habe, dachte ich, das wird es nie geben. Heute werden seine Prognosen zumindest im strukturellen Teil schon weit übertroffen. In den 70er Jahren war Zukunftsforscher ein Beruf, doch wenn man die damaligen Prognosen untersucht, lagen sie alle weit daneben, weil lediglich der herrschende Zustand in der Phantasie extrapoliert wurde. Mein Eindruck ist, daß die totalitäre Kontrolle von Personen noch einen weiten Spielraum hat, wenn man beispielsweise an fMRT [2], Genanalysen und viele weitere Optionen denkt. Wir stehen in dieser Hinsicht, glaube ich, noch ganz am Anfang. Nehmen Sie nur die Apps, die Ihren Puls rückmelden, oder die Puppe, die aus dem Kinderzimmer alles an Google funkt, was das Kind gerade macht.

In diesem Sinn kann man von einer abstrakten Versklavung sprechen, deren Ziel es ist, Sklaven ohne Herren zu etablieren. Wir haben de facto eine Versklavung, aber wir sehen keine Herren mehr und haben deswegen auch nichts, wogegen wir uns empören. Da gibt es meines Erachtens noch sehr viel Spielraum in Richtung einer totalitären Gesellschaft, und viele Psychologen haben daran explizit mitgearbeitet. Skinner hat das als Ideal einer Gesellschaft propagiert. Wie er sagte, reicht die Illusion der Freiheit und Demokratie, wir müssen nur daran arbeiten, diese Illusion zu vermitteln, dann sind die Menschen zufrieden.

SB: Auf einem der von Ihnen gezeigten Transparente von Attac war "Empört euch!" zu lesen. Sehen Sie sich als Mitstreiter dieser Bewegung?

RM: Das ist mir wieder zu wenig. Insofern finde ich wichtig, was Sie gesagt haben. Die Empörung ist der Anfang, aber dann muß die Empörung geistig, verstandesmäßig, theoretisch verankert werden. Als 2009 die ersten detaillierten Folterberichte aus Abu Ghraib und Guantánamo veröffentlicht wurden, hat die Bevölkerung sich empört. Nach vierzehn Tagen war diese Empörung vollständig verschwunden. Kurze Zeit später gab es wieder einen Senatsbericht, und die Bevölkerung war in einer Art Alzheimer-Verhalten erneut so empört, als höre sie zum ersten Mal davon. Vierzehn Tage später war auch diese Empörung verschwunden. Im letzten Dezember gab es erneut einen Senatsbericht zu exakt den gleichen Grausamkeiten, und die Reaktion war wieder dieselbe. Alle deutschen Leitmedien taten so, als sei das erstmals bekanntgeworden. Die Zeitungen schreiben ganz offen darüber, doch so, als handle es sich um einen Einzelfall. Dasselbe passierte mit Berichten über die Spezialeinheiten.

Es macht nichts, wenn solche Dinge herauskommen. Vierzehn Tage kocht der Volkskörper, und dann ist es vorbei, sofern es nicht gelingt, diese kurzfristige Empörung auf die Ebene des Verstandes zu ziehen und die Kontinuität zu erschließen, die bis Vietnam zurückgeht, denn viele Foltertechniken, die in Guantánamo angewendet werden, findet man schon im Vietnamkrieg. Wir tun immer so, als sei George W. Bush aus dem Ruder gelaufen. Dabei war es bei Bill Clinton nicht anders, dem älteren Bush nicht anders, bei Reagan nicht anders. Es gab die School of the Americas, eine Folterschule der Amerikaner, in der die Sicherheitskräfte der Diktaturen in Lateinamerika ausgebildet wurden. Da gab es schriftliches Lehrmaterial, da gab es ein Folterdiplom! Warum sieht man die Kontinuität nicht? Warum empört sich die Bevölkerung immer wieder aufs neue über einzelne Schurken? Erfaßt man die Kontinuität nicht, kann man die Sache vergessen.

SB: Herr Mausfeld, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] Siehe dazu:
BERICHT/032: Warum schweigen die Lämmer? - weil die Aufklärung schluchzt ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0032.html

[2] Die funktionelle Magnetresonanztomographie, abgekürzt fMRT oder fMRI (functional magnetic resonance imaging), ist ein bildgebendes Verfahren, um physiologische Funktionen im Inneren des Körpers mit den Methoden der Magnetresonanztomographie darzustellen. fMRT im engeren Sinn bezeichnet Verfahren, welche aktivierte Hirnareale mit hoher räumlicher Auflösung darstellen können.

30. August 2015


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