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INTERVIEW/037: Migrationswissenschaftliche Fragen - Gegenmittel ...    Gesa Köbberling im Gespräch (SB)


Gewalt ist nicht gleich Gewalt

"Hate Crime" und die daraus erwachsenden schweren langanhaltenden Belastungssymptome

Interview mit Dipl.-Psych. Gesa Köbberling vor dem Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) "Migration und Rassismus. Politik der Menschenfeindlichkeit" vom 3. bis 6. März 2016 in Berlin


Der Schattenblick sprach mit der Diplompsychologin und Doktorandin Gesa Köbberling, eine aus dem interdisziplinär zusammengesetzten Kreis von mehr als 30 Referenten beim bevorstehenden Kongress "Migration und Rassismus. Politik der Menschenfeindlichkeit" über ihre Erfahrungen in einer Beratungsstelle für Opfer rechter und rassistischer Gewalt.


Schattenblick (SB): Laut Bundeskriminalamt hat sich die Zahl von Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte 2015 gegenüber dem Vorjahr verfünffacht - 1005 insgesamt. Worin sehen Sie die Ursachen und welche Konsequenzen müssen gezogen werden?

Gesa Köbberling (GK): Noch vor fünf Jahren hätte ich eine solche Eskalation nicht für möglich gehalten. Gleichzeitig zögere ich, darin eine ganz neue Qualität zu sehen. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind in Deutschland nicht neu. Die unabhängigen Opferberatungsstellen berichten seit Jahren über rassistische Gewalt, ohne dass die Politik darauf reagiert hat. Die Gewalt betrifft nicht nur Flüchtlingsunterkünfte, sondern auch tätliche Angriffe auf Migranten und Flüchtlinge - auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln, selbst am Arbeitsplatz. Insofern ist die Masse der Attacken auf Unterkünfte neu und schockierend, aber sie überrascht all jene weniger, die sich seit Jahren mit Rassismus in Deutschland beschäftigen und ihn am eigenen Leib erfahren.

SB: Sind für die Eskalation überwiegend neonazistische Gruppierungen verantwortlich?

GK: Die im Zusammenhang mit dem Anstieg ermittelten Fakten zeigen: Es gibt kein eindeutiges Täterprofil. Es sind eben nicht ausschließlich, ja noch nicht einmal in erster Linie, Neonazis und Rechtsextremisten, die rassistische Gewalt ausüben; die Mehrheit der Täter sind Menschen, die sich selbst als ganz normale Bürger verstehen und keiner extrem rechten Partei oder Organisation angehören. Rassistische Gewalt ist Teil des normalen Alltags in Deutschland. Diese traurige Wahrheit gilt es zu sehen, zu untersuchen und ihr etwas entgegenzusetzen. Wer dauernd von neuer Qualität redet, vertuscht auch Versäumnisse in der Vergangenheit, in der man längst hätte etwas tun müssen.

Während die Angriffe auf Flüchtlingsheime Gegenstand medialer Berichterstattung waren und sind, erfährt man als Bürger wenig über die Beleidigungen, Demütigungen, Schubsereien auf der Straße bis hin zu schweren Verletzungen durch Schläge und Tritte.

SB: Woran liegt das Ihres Erachtens?

GK: Öffentlich wahrgenommen werden nur wenige, herausragende Fälle rassistischer Gewalt: zum Beispiel besonders brutale Taten, wenn bekannte Persönlichkeiten angegriffen werden oder die Gewalt im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Themen wie zum Beispiel dem Anwachsen der Pegida-Bewegung diskutiert wird. Die meisten Angriffe passieren einfach im Alltag der Menschen. Sie kommen oft nicht zur Anzeige, werden selbst den Opferberatungsstellen nur manchmal oder erst mit Verzögerung mitgeteilt. Dennoch: Die Folgen auch weniger spektakulärer Taten wiegen für die Betroffenen oft schwer. Forschungen in Großbritannien und den USA, wo diese Art von Gewalt als "Hate Crime" bezeichnet wird, haben gezeigt, dass rassistisch motivierte Gewalt schwerere und länger anhaltende Belastungssymptome nach sich zieht als entsprechende Gewalttaten ohne diskriminierenden Hintergrund.

SB: Womit lässt sich diese unterschiedliche Wirkung erklären?

GK: Rassistische Gewalt richtet sich gegen die Person. Sie ist nicht Mittel zum Zweck - z.B. um gewaltsam eine Handtasche zu erbeuten -, sie ist kein Teilaspekt eines gesuchten Streits; der Zweck ist einzig die Verletzung eines Menschen mit anderer Hautfarbe, mit Kopftuch, Turban oder einem anderen Merkmal, mit dem er oder sie als "anders" markiert und abgewertet wird. Mit Pöbeleien wie "Was willst Du hier in Deutschland?" "Verschwinde dahin, wo Du hergekommen ist!" wird das Existenzrecht der Betroffenen hier in Deutschland angegriffen. Das betrifft Menschen, die gerade eine Flucht hinter sich haben, genau wie viele, die erkennbar aus Migrantenfamilien stammen und in Deutschland geboren wurden.

Hinzu kommen die wiederkehrenden Gewalt- und Rassismus-Erfahrungen. Es sind eben keine einmaligen Erlebnisse, die man nach einer gewissen Zeit verarbeitet hat, sondern die Angriffe geschehen wieder und wieder. Dadurch ist das Gefühl der Ohnmacht und der Unausweichlichkeit besonders stark. Die permanente Konfrontation sowohl mit direkter offener Diskriminierung als auch mit subtileren Formen, bei Flüchtlingen noch gepaart mit der aufenthaltsrechtlichen Unsicherheit, ihrer Fluchtgeschichte, häufig extrem belastenden Wohnsituationen und dazu den Medienberichten über Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte - das ist ein atmosphärisches Gemisch, unter dem viele leiden und manche zerbrechen. "Es kann jederzeit passieren" - dieser Gedanke beherrscht sie.

SB: Mit welchen Folgen?

GK: Die besondere Schwere dieser Art von Übergriffen äußert sich u.a. in der lang anhaltenden Wirkung. Festzustellen sind Traumatisierungs-Symptomatiken, ein permanentes Gefühl der Schutzlosigkeit sowie ein hoher Vertrauensverlust nicht nur anderen Menschen und staatlichen Institutionen gegenüber, sondern auch gegenüber den eigenen Fähigkeiten.

SB: Auf welche Weise ist Hilfe möglich?

GK: Was der Staat tun kann, ist Sicherheit herstellen z.B. durch ein Bleiberecht, oder indem erfahrbar wird, dass die grundlegenden Menschenrechte in diesem Land geachtet und eingehalten werden, die rechtsstaatlichen Prinzipien funktionieren, gleiches Recht für alle gilt. Stabilisierend wirken auch Arbeitsmöglichkeiten und eigener Wohnraum. Werte zu predigen und sie dann für Migranten nicht erlebbar zu machen, ist jedenfalls kontraproduktiv. Juristische Schritte gegen Übergriffe können auch dann wichtig sein, wenn sie als Bagatelle erscheinen. Sie sind eine Möglichkeit, aktiv mit der erlittenen Verletzung umzugehen, Anerkennung und Gerechtigkeit zu erfahren. Leider machen die Betroffenen aber auch im Kontakt mit der Polizei und Justiz bisweilen erneut diskriminierende Erfahrungen.

SB: Haben Sie dafür ein Beispiel?

GK: Ich gebe Ihnen das ermutigende Beispiel einer Flüchtlingsfamilie aus Afrika. Zwei Wochen nach ihrer Ankunft wurden das Ehepaar und ihr Baby beim Einkauf von alkoholisierten Männern angepöbelt, angerempelt und mit erhobenen Bierflaschen bedroht. Die Familie entkam, der Angriff warf sie jedoch total aus der Bahn. Diese Wirkung konnte er entfalten, weil die Familie so deutlich empfand, durch ihre afrikanische Herkunft immer sichtbar zu sein. Die Frau fürchtete, ihr würde nie jemand helfen, eben weil sie (nur) Afrikanerin sei. Diese Entwertung verletzte sie tief. Die Familie zeigte den Vorfall an und bestand auf einer strafrechtlichen Verfolgung. Aus gerichtlicher Perspektive war das ein niedrigschwelliges Delikt, nicht mal eine richtige Körperverletzung. Für die Familie bedeutete es jedoch enorm viel, dass das Gericht ihre innere Verletzung anerkannte - sowohl durch die Verhandlung an sich als auch durch die am Schluss verhängte Schmerzensgeldstrafe. Die rassistischen Anfeindungen hörten danach nicht auf. Aber die Familie legte große Energie an den Tag und schaffte es, sich soziale Netzwerke aufzubauen. Als es zu einem erneuten konfrontativen Angriff kam, reagierte der Familienvater sehr ruhig, hielt den Angreifer fest und rief nach der Polizei. Zu der nachfolgenden Gerichtsverhandlung kamen viele Bürger und demonstrierten damit: Wir stehen hinter Euch.

SB: Wie bewältigen Opfer die wiederholten Angriffe? Das geschieht in der Regel ja nicht durch die Erfahrung von Gerechtigkeit wie im genannten Fall.

GK: Die Betroffenen bewältigen permanent Rassismus-Erfahrungen. Von dieser Bewältigungsarbeit bekommt man in den Beratungsstellen kaum etwas mit. Ich habe nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie viel Kraft es im Alltag kostet, diese alltägliche Konfrontation mit Anfeindung bis hin zu körperlicher Gewalt auszuhalten und die eigene Würde zu bewahren. Sichtbar wird in den Beratungsstellen eher, wenn die Bewältigungsstrategien brüchig werden und jemand den Alltag nicht mehr meistert.

Die Mehrheit der Betroffenen braucht zur Bewältigung keine Therapie, und manche wollen auch keine. Es geht ihnen vielmehr um praktische Unterstützung in der Krisen- und Alltagsbewältigung. Die klare Haltung unbedingter Unterstützung durch Mitarbeiter der Beratungsstelle hat bereits große Bedeutung für die Opfer. Auch jenseits dessen, was man im engeren Sinne therapeutisch nennt, hat das eine therapeutische Wirkung.

SB: Gibt es Erkenntnisse darüber, inwieweit ein Arbeitsplatz bei der Bewältigung helfen kann?

GK: Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einem Arbeitsplatz und rassistischen Angriffen sehe ich nicht. Die Betroffenen kommen sowohl aus dem Kreis der gerade eingereisten Flüchtlinge als auch aus dem Kreis bereits länger in Deutschland lebender Gewerbetreibender oder Arbeiter, Studierender und Deutscher, die aufgrund ihrer Hautfarbe oder anderen Merkmalen als nicht-deutsch wahrgenommen werden. Die Verletzlichkeit ist bei allen gleich. Was jedoch die Bewältigung angeht, so bedeuten ein Arbeitsplatz oder eine andere Form des sozialen Eingebunden-Seins sehr viel. Ich erinnere mich an einen Imbissbetreiber, dessen Kiosk in einem kleinen Brandenburger Ort wiederholt angegriffen wurde. Die Familie war völlig isoliert, konnte die Angriffe niemandem gegenüber thematisieren; nicht einmal im Gespräch mit den eigenen Kunden, von denen einige sogar Täter waren. Die ökonomische Situation der Familie war so prekär, dass sie sich mit ihnen nicht anzulegen wagte.

SB: Wie gut ist das Netz von Opferberatungsstellen in Deutschland?

GK: In den ostdeutschen Bundesländern gibt es flächendeckend Beratungsstellen; sie sind in der Regel überlastet, aber immerhin vorhanden. Im Rahmen des Bundesprogramms CIVITAS gab es einen flächendeckenden Aufbau von Beratungsstellen im Osten. In den alten Bundesländern hielt man das aufgrund der falschen Annahme, es handle sich bei Rechtsextremismus und rassistischer Gewalt um ein vorrangig ostdeutsches Problem, nicht für erforderlich. Westdeutsche Länder haben erheblichen Nachholbedarf. Es stehen in begrenzten Umfang Bundesmittel für den Aufbau von Beratungsangeboten auch in westdeutschen Bundesländern zu Verfügung; die Landesregierungen erkennen die Notwendigkeit, auch durch eigene finanzielle Beteiligung Verantwortung zu übernehmen, aber nur langsam. Brandenburg hat gezeigt, dass die Anerkennung des Problems durch eine Landesregierung die erste Voraussetzung für eine erfolgreiche Strategie ist und hat diesbezüglich aus meiner Sicht bereits viel erreicht.

26. Februar 2016


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