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INTERVIEW/038: Überraschung inbegriffen - Vorführversager ...    Magda von Garrel im Gespräch (SB)


Wenn aus Freude am Lernen erst Lernverweigerung und dann eine psychische Störung wird
Interview mit der Politologin und Sozialpädagogin Magda von Garrel

Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) vom 9. bis 12. März 2017 in Berlin: "Gesellschaftliche Spaltungen - Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit"


Sie sind Referentin beim Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie, der in diesem Jahr unter der Überschrift "Gesellschaftliche Spaltungen" steht. Worin besteht für Sie als Sonderpädagogin der Bezug zu diesem Thema?

Schule findet nicht in einem isolierten Raum statt. Sie spiegelt, was um sie herum in der Gesellschaft geschieht. Und dazu gehört, dass Armut in vielen öffentlichen Verlautbarungen verharmlost oder mit individuellen Schuldzuweisungen verknüpft wird. Ich erinnere an einen Satz von Hans Werner-Sinn, emeritierter Präsident am ifo Institut und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München: "Das deutsche Armutsproblem ist nicht entstanden, weil der Staat zu knauserig war, sondern weil er im Gegenteil zu viel Geld fürs Nichtstun ausgegeben hat." Den Armen wird damit Faulheit, Disziplinlosigkeit und Unzuverlässigkeit vorgeworfen. Davon ist die Schule aber nicht nur beeinflusst, sondern sie trägt auch selbst zur Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung bei.

Die von interessierter Seite gestreuten Vorurteile wirken sich in vielfacher Weise nachteilig für die Armen aus, an erster Stelle durch Empathie-Verlust. In der Schule herrscht eine mangelnde Sensibilität für arme Lebenslagen. Lehrer und Mitschüler verstehen oft nicht, was es bedeutet, am sozialen und kulturellen Leben nicht teilhaben zu können. Sie können nicht nachvollziehen, dass die Betroffenen unglücklich sind und sich zurückzuziehen.

Sie haben Armut als Kind selbst erlebt, haben später studiert, sind erfolgreiche Buchautorin - sind Sie die ganz große Ausnahme?

Nach dem Krieg habe ich meine Kindheit tatsächlich in Armut verbracht; allerdings in einem Umfeld, in dem mehr oder weniger alle arm waren. Unter solchen Bedingungen fällt Armut nicht auf und tut auch nicht (so) weh. Unterschätzt wird heute von vielen, was es bedeutet, arm im Schatten von Reichtum zu sein. Das gilt auch für Lehrer.

In vielen Schulen gibt es ja zum Glück noch so etwas wie eine soziale Mischung, was ich für gut halte. Andererseits erleben die Armen dort, dass die anderen schicke Schulranzen haben, sie selber womöglich mit einer Plastetüte zur Schule kommen, dass die anderen im Winter hübsche Winterstiefel tragen, sie selber alte Turnschuhe. Das tut weh. Zudem wird seit Jahren eine Selbsthilfeerwartung an die Adresse der Armen gerichtet "Helft euch selbst!" und der Slogan "Aufstieg durch Bildung" propagiert. Keine Partei ist frei davon. Aus meiner Sicht ist das unsinnig und unverschämt, da dieses Versprechen gar nicht eingelöst werden kann. An den Universitäten gibt es immer mehr befristete Arbeitsverträge, um eine Berufsausbildung kämpfen Hauptschüler chancenarm gegen Abiturienten.

Aber ist Bildung nicht dennoch Voraussetzung für ein besseres Leben?

Gewiss. Doch das Versprechen der Politik richtet sich an die Kinder der Armen; sie - die mit Abstand schwächsten Mitglieder der Gesellschaft - sollen in eigener Regie das ausbügeln, was der Staat versäumt hat. Das kritisiere ich.

Sie haben an anderer Stelle von schulalltäglichen Beschämungen gesprochen, die Kinder aus armen Familien erleiden. Worauf bezieht sich diese Einschätzung?

Sie bezieht sich auf den häufig unsensiblen Umgang mit Kindern; wenn zum Beispiel die Frage nach der Leistungsberechtigung der Eltern (Hartz IV z.B.) im Beisein der ganzen Klasse gestellt wird und Schüler so gezwungen sind, sich öffentlich als arm zu outen. Sie bezieht sich auf die nicht unübliche Praxis, Schüler nach ihren schönsten Wochenend- oder Ferienerlebnissen zu fragen, worauf Kinder aus armen Familien oft keine Antworten haben. Wenn sie schweigen, gelten sie als bockig, wenn sie flunkern, wird das rasch bemerkt, und sie werden ausgelacht. Und sie bezieht sich auf Projekte, für die die Schüler Materialien kaufen müssen, was armen Familien entweder sehr schwer fällt oder ihnen gar nicht möglich ist. Kinder müssen sich unter solchen Umständen zwischen stehlen und fernbleiben entscheiden. In jedem Fall wird ihr Selbstwertgefühl weiter erschüttert; besonders dann, wenn ihre Stigmatisierung zu einem schulklasseninternen Mobbing führt. Man redet in diesem Zusammenhang auch von Armen-Bashing.

Sie haben als Sonderpädagogin auch mit sowohl finanziell unterversorgten als auch gleichzeitig vernachlässigten Kindern gearbeitet. Was bedeutet diese Mehrfachbenachteiligung für die Kinder?

Das Grundproblem dieser mehrfach benachteiligten Kinder besteht darin: Sie haben von allem zu wenig - zu wenig Liebe und Geborgenheit, zu wenig Anregung, auch sprachlicher Art, zu wenig Lob und Anerkennung. Aufgrund dessen kommen sie mit einem riesigen Nachholbedarf in die Kita oder in die Schule. Dort begegnen sie Lehrern, die zum Teil sagen: "Ich bin Wissensvermittler; alles andere ist Aufgabe der Eltern."

In den Kitas und in der Schule treffen zudem zwei völlig unterschiedliche Sprachniveaus aufeinander. Diese Kinder verstehen ihre Lehrer oft nicht. Es kommt zu Missverständnissen. In diesem Zusammenhang macht es nach meiner Beobachtung kaum einen Unterschied, ob die Kinder mit der deutschen oder einer anderen Muttersprache aufgewachsen sind. Und was ich auch immer wieder beobachtet habe: Die im Elternhaus gut geförderten Kinder kommen mit einem umfangreichen Vorwissen in die Schule; das bringt ihnen Lob durch Lehrer ein. Sie erfahren also viel Anerkennung; die anderen gehen leer aus. Das, was sie schon zu Hause zu wenig an Anerkennung bekommen, setzt sich in der Schule fort.

Kehren Sie damit die eingangs genannte Schuldzuweisung um und richten sie jetzt gegen die Lehrer?

Keineswegs. Mir ist sehr wohl die permanente Unterfinanzierung des Bildungswesens bewusst, besonders die der primären Bildungseinrichtungen. Ich ignoriere auch nicht die übervollen Lehrpläne, die Lehrern viel abverlangen. Außerdem sind ihnen im Verlauf der Jahre immer mehr Zusatz-, Verwaltungs- und Kontrollaufgaben übertragen worden, die sie von ihrer Kernaufgabe abhalten. Ich beschreibe nur den Zustand des deutschen Schulsystems, das mit seiner Struktur vor allem den mehrfach benachteiligten Kindern so gut wie keine Aussicht auf Erfolg gibt. Die Lehrer sind Teil des Systems aber nicht dafür verantwortlich.

Warum haben die Kinder keine Aussicht auf Erfolg?

Das liegt u.a. an der Strukturierung des Lernangebots. Mehrheitlich gilt noch immer, dass gleichaltrige Kinder dasselbe lernen sollen. Das war früher schon nicht richtig, heute ist es noch weniger richtig. Übervolle Lehrpläne zwingen Lehrer außerdem dazu, von einem Thema zum anderen zu jagen, ein Verweilen oder Eingehen auf Benachteiligte ist kaum möglich. Bei diesen Kindern stapelt sich eine nicht verstandene Sache auf die andere, was insbesondere in Fächern problematisch ist, in denen der Stoff direkt aufeinander aufbaut und mehrmaliges Nichtverstehen zu generellem Nichtverstehen führt.

Erfolglosigkeit resultiert auch daraus, dass die kognitiven Lerninhalte eine unverdient hohe Wertschätzung erfahren, besonders in versetzungsrelevanten Fächern. Benachteiligte Kinder können also mit ihren Stärken und Fähigkeiten, die sie zweifelsfrei haben, nicht punkten. Das, was sie können, wird nicht wertgeschätzt, ist nicht schulrelevant.

Und dann gibt es ja noch die bekannten Beurteilungs- und Disziplinierungsinstrumente wie Noten, Strafarbeiten, Sitzenbleiben oder schulartbezogene Abstufung, das heißt in diesem Fall Abschiebung in Förderschulen. Wenn ein Lehrer ein Kind als förderbedürftig anmeldet, wird das Kind mehrfach getestet, am Ende steht fast immer eine behindertenspezifische Empfehlung.

Kann das nicht auch eine Chance sein?

Die derzeit im Sinne eines Ausgleichs von Nachteilen angebotenen Fördermaßnahmen gehen wegen ihres falschen Ansatzes oft ins Leere. Warum? Förderbemühungen sind oft nichts anderes als besserer Nachhilfeunterricht. Zwei Faktoren werden übersehen: Die vordringlichen Bedürfnisse der mehrfach benachteiligten Kinder sind oft seelischer Natur. Als Reaktion auf schon früh erlebte Misserfolge kommt es zu einem allmählichen Erlöschen der angeborenen Freude am Lernen. Diese Entwicklung endet nicht selten mit kompletter Verweigerungshaltung, wodurch aus mehrfach Benachteiligten lernentwöhnte Kinder werden. Als weitere Reaktion können armutsbedingte Verhaltensstörungen hinzukommen, die entweder auf einen völligen Rückzug oder auf aggressive Provokationen hinauslaufen. Diese Verhaltensstörung wird von Lehrern oft nicht erkannt, oder es wird kein Zusammenhang zwischen der Störung und dem Leben in Armut hergestellt. Diese Schüler sind schwer zu ertragen und werden dann nur noch als Täter gesehen, obwohl sie ursprünglich Opfer waren.

Diagnostisch basierte behindertenspezifische Einstufungen kommen einem Transformationsprozess gleich: Aus der Spaltung in Arm und Reich wird eine Spaltung in behindert und nicht behindert. Die meisten Förderschulen sind in Wirklichkeit Sackgassen. Dadurch, dass sie das Label einer speziellen Behinderung tragen, erkennen selbst Lehrer diese Tatsache oft nicht. Wir schieben die Kinder, die unsere Hilfe am dringendsten brauchen, in diese Armenghettos ab. Das wird sich rächen. Die Sehnsucht nach Anerkennung hört ja nicht auf. Jugendliche finden Sie heute schon zum Teil bei den Dschihadisten oder bei den Rechten.

Was kann man ändern, ohne das Schulsystem sofort völlig auf den Kopf zu stellen, was nicht nur wegen der föderalen Struktur des Bildungswesens mindestens kurzfristig scheitern dürfte?

Es gibt selbst unter den jetzigen ungünstigen Bedingungen Möglichkeiten: Ich denke an eine lernstoffunabhängige Auszeit. Sie böte die Chance, Beziehungen aufzubauen; die individuellen Potenziale könnten entfaltet werden; es käme schließlich zu den so wichtigen Erfolgserlebnissen.

Was genau meinen Sie mit lernstoffunabhängiger Auszeit?

Damit meine ich die Möglichkeit, mit den Kindern zunächst einmal ganz entspannte Gespräche führen zu können, in deren Verlauf deutlich wird, woran sie Freude haben und was sie besonders interessiert. Bei der anschließenden Gestaltung der darauf basierenden Förderangebote haben die Kinder von Anfang an ein Mitbestimmungsrecht, sodass sie sich in aller Regel gern mit den auf sie zugeschnittenen Angeboten beschäftigen. Allerdings - und das meine ich vor allem mit lernstoffunabhängig - geht es in dieser Phase eben nicht um die Verbesserung von Schreib- oder Rechenkenntnissen, sondern zum Beispiel um die Fähigkeit, Aufgaben nach selbst aufgestellten Regeln zu beenden. Dabei kann es sich ebenso gut um ein Bild wie um eine schauspielerische Darbietung handeln. Nach meiner eigenen Erfahrung gelingt es auf diese Weise sehr oft, das Interesse am Lernen generell und somit auch an schulischen Lerninhalten wieder zu wecken.

Welche Aussichten räumen Sie unter den geschilderten, ohnehin schwierigen Bedingungen der Inklusion ein?

Praktisch in allen Bundesländern wird inklusive Beschulung als Sparmodell durchgeführt; die meines Erachtens permanent erforderliche Doppelbesetzung findet nicht statt. Stattdessen gibt es stundenweise Förderung. Viele Lehrkräfte, darunter eine große Zahl von Quereinsteigern, verfügen nicht über die notwendige Qualifikation. Förderlehrer werden zum Vertretungsunterricht abgezogen, Förderstunden fallen aus. Das erschwert den Aufbau von Beziehungen. Unter diesen Bedingungen kann Inklusion kein Erfolg werden.

14. März 2017


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