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FORSCHUNG/064: Wert interkultureller Freundschaften unter Jugendlichen (DFG)


forschung 4/2008 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Von wegen "Kanake"

Verständnis statt Vorurteil: In einer groß angelegten
empirischen Studie spüren Bildungsforscher dem Wert
interkultureller Freundschaften unter Jugendlichen nach

Von Heinz Reinders


Melanie ist 15 Jahre alt und besucht eine Hauptschule in Ludwigshafen. Jeder fünfte Einwohner ihrer Heimatstadt ist nicht deutscher Herkunft. In Melanies Schulklasse beträgt der Anteil sogar weit über 60 Prozent. Das Zusammenleben mit Jugendlichen aus anderen Ländern ist für sie also alltäglich. Mehr noch, Melanie sieht den Kontakt zu Gleichaltrigen, die nicht ursprünglich aus Deutschland stammen, durchaus als Vorteil an. "Ich finde, man kann gut mit Ausländern befreundet sein. Ich habe gemerkt, dass die Vorurteile, die gegenüber Ausländern herrschen, meistens gar nicht stimmen."

Melanie ist seit einem Jahr eng mit der türkischstämmigen Serap befreundet. Am Anfang sei es schwierig gewesen. "Scheiß-Moslems" hatte sie geschimpft und wollte mit den "Kanaken" nichts zu tun haben. Ihre Freundin Serap fand, dass die Deutschen sich immer als "was Besseres" fühlten und arrogant seien. Irgendwann aber haben sie gemerkt, dass diese Vorurteile nicht zutreffen. "Ist doch egal, ob wir jetzt deutsche Katholiken oder türkische Moslems sind", so Melanie, "Freunde kann man ja trotzdem sein".

Ähnlich wie Melanie ergeht es auch der 16-jährigen Tina und dem gleichaltrigen Christian. Alle drei haben an der Interviewstudie zu interkulturellen Freundschaften teilgenommen und geben unisono zu Protokoll, dass ihre Freundschaften mit Türken ihre Vorurteile gehörig durcheinandergebracht haben. Für Christian war die freundschaftliche Beziehung zu Bayram eine wichtige Erfahrung: "Vorher hab' ich gedacht, dass die Türken uns die Arbeitsplätze wegnehmen. Jetzt denk' ich, dass es eigentlich okay ist, dass die hier auch Arbeit finden." So erging es auch Tina, die seit mehr als drei Jahren mit Fatime befreundet ist. Durch Fatime habe sie gelernt, dass es sowohl bei Türken als auch bei Deutschen "gute Menschen und schlechte Menschen gibt".

Die drei Jugendlichen sind Teil einer großen Gruppe Hauptschüler, deren bester Freund aus einem anderen Land stammt als sie selbst. Stereotype Bilder und Zuschreibungen haben sich durch diese Freundschaften nachhaltig verändert. Im Rahmen des Projekts "Friendships in Inter-Ethnic Networks", kurz "FRIENT", wurden insgesamt 2000 Jugendliche deutscher und nicht deutscher Herkunft befragt. Ein Ergebnis: Vier von zehn Jugendlichen praktizieren die öffentlich und politisch vielfach geforderte Integration bereits durch intensive Freundschaften.

Weil aber bislang keine Studien zu den Auswirkungen von interethnischen Freundschaften auf Vorurteile Jugendlicher in Deutschland vorlagen, musste vorab in einer qualitativen Interviewstudie mit 20 Jugendlichen das Untersuchungsfeld besser abgesteckt werden. Wie interethnische Freundschaften entstehen, welche Gestalt sie haben und vor allem, wie sie sich auf die Einstellungen der Jugendlichen auswirken, waren zentrale Fragen der Interviews mit Jugendlichen wie Melanie, Tina oder Christian. Erst auf der Basis dieser Interviews und den damit verbundenen Einblicken in interethnische Freundschaften war es möglich, eine Langzeitstudie über Veränderungen von Vorurteilen zu konzipieren und durchzuführen.

Zwischen 2003 und 2005 wurden Schülerinnen und Schüler einer Hauptschule im Rhein-Neckar-Raum gebeten, einen Fragebogen auszufüllen. Sie machten darin Angaben zum familiären Umfeld, zu ihren Freunden und ihren Einstellungen gegenüber Migranten. Die gewonnenen Daten wurden im Längsschnitt betrachtet ("Fragebogensurvey"). Darüber hinaus war die Frage von Interesse, warum Jugendliche interethnische Freundschaften eingehen und welche Qualität diese Beziehungen für sie haben.

Das vermutlich erstaunlichste Resultat war, wie sehr sich die Ergebnisse aus der qualitativen Interviewstudie mit denen aus dem quantitativen Fragebogensurvey deckten. Ein zentrales Ergebnis: Das Suchen und Finden interethnischer Freundschaften ist im Wesentlichen auf gemeinsame Interessen und ähnliche Fragen und Probleme im Jugendalter zurückzuführen. Dieser sogenannte Criss-Cross-Effekt, bei dem jugendspezifische Themen und Lebenslagen Fragen der ethnischen Herkunft deutlich überlagern, stellte sich als eine sehr wichtige Bedingung dafür heraus, dass Tina und Fatime oder Christian und Bayram sich anfreundeten. Zudem zeigten die beiden Studien, dass interethnische Freundschaften nicht besser oder schlechter sind als Beziehungen innerhalb einer Kultur.

Auch die Antworten auf die Kernfrage der Studie, ob interethnische Freundschaften förderlich für den Abbau von Vorurteilen sind, glichen sich in beiden Untersuchungen sehr. Das Fazit: Je länger eine interethnische Freundschaft besteht, desto eindeutiger werden bestehende Vorurteile abgebaut. Anders gesagt: Jugendliche mit andersethnischem Freund stimmten ausländerfeindlichen und diskriminierenden Statements deutlich seltener zu als Gleichaltrige ohne Freund mit Migrationshintergrund. Im Spiegel der Empirie zeigt sich: Während die Vorurteile gegenüber Ausländern bei solchen Jugendlichen über ein Jahr hinweg stabil blieben, die einen Freund gleicher Herkunft hatten, sanken fremdenfeindliche Einstellungen bei Jugendlichen mit nicht deutschem Freund deutlich.

Auch die Offenheit gegenüber anderen Kulturen nimmt im Verlauf interethnischer Freundschaften zu. Stimmten 71,6 Prozent der Jugendlichen mit andersethnischem Freund zum ersten Messzeitpunkt Aussagen wie "Es macht mir nichts aus, mit Schülern aus anderen Ländern zu lernen" zu, so erhöhte sich dieser Anteil im Folgejahr auf 80,6 Prozent. Wenngleich bei allen Jugendlichen die kulturelle Offenheit während des Untersuchungszeitraums anstieg, so war die positive Veränderung bei Schülern mit einem besten Freund aus einem anderen Land besonders augenfällig.

Erklärungen für diesen deutlichen Rückgang von Vorurteilen durch interethnische Freundschaften stellen Sozialpsychologen bereit. Bereits in den 1950er-Jahren formulierte der amerikanische Sozialpsychologe Gordon W. Allport in seinem Buch "The Nature of Prejudice", dass Vorurteile durch solche Kontakte gemildert werden, die unter anderem durch gemeinsame Interessen, Statusgleichheit und Freiwilligkeit gekennzeichnet sind. Freundschaften erfüllen diese Voraussetzungen in besonderer Weise.

Durch die Freundschaft zu Gleichaltrigen einer anderen Kultur werden die positiven Eigenschaften des Freundes oder der Freundin der gesamten ethnischen Gruppe zugeschrieben. Ausschlaggebend für die "Generalisierung" ist, dass der Freund oder die Freundin in gewisser Hinsicht als typisch für seine oder ihre kulturelle Gruppe angesehen wird und in der Freundschaft das Gefühl von Gleichberechtigung, die gemeinsame "Augenhöhe", vorherrschen.

Auch innerhalb von Schulklassen treten die Wirkungen interethnischer Freundschaften hervor. Die Studien machten auf verschiedenen Ebenen sichtbar, dass das Klassenklima deutlich weniger von Fremdenfeindlichkeit geprägt ist, wenn viele Jugendliche in ihrer Klasse einen Freund anderer Herkunft haben. Besonders positiv wirken sich interethnische Freundschaften aus, wenn in den Klassen eine ausgewogene Verteilung von Schülern deutscher und nicht deutscher Herkunftssprache besteht. In Schulklassen mit sehr geringem Anteil Jugendlicher deutscher oder nicht deutscher Herkunft bleibt dieser positive Effekt aus. Der triviale Grund hierfür ist, dass zum Beispiel in einer Klasse mit einem Migrantenanteil jenseits der 90 Prozent zu wenige Gleichaltrige deutscher Herkunft für eine mögliche Freundschaft zur Verfügung stehen.

Neben diesen positiven Seiten interethnischer Freundschaften gibt es jedoch auch eine Schattenseite. Die Fragebogenstudie zeigt, dass nach beendeten interethnischen Freundschaften tendenziell auch die Vorurteile zurückkehren. Allerdings profitieren Heranwachsende auch von ihren ehemaligen Freundschaften, da negative oder ausgrenzende Stereotypen nicht mehr das Niveau wie vor der Freundschaft erreichen. Außerdem ist die Offenheit für eine neue Freundschaft mit Gleichaltrigen aus anderen Kulturkreisen höher, wenn die Jugendlichen bereits eine freundschaftliche Beziehung eingegangen waren.

Sollten die Freundschaften von Melanie, Tina oder Christian einmal zu Ende gehen, dann werden die drei Jugendlichen ihre Vorurteile und fremdenfeindliche Haltungen in jedem Fall überdacht haben. So können sie in ihrer jeweiligen Alltagswelt auch in Zukunft einen wichtigen Beitrag zu einer dialogfähigeren und tendenziell offeneren Gesellschaft in Deutschland leisten.


Prof. Dr. Heinz Reinders, Dipl.-Päd., hat an der Julius-Maximilians-Universität den Lehrstuhl Empirische Bildungsforschung inne und forscht schwerpunktmäßig zu Sozialisations- sowie Bildungsprozessen in Kindheit und Jugend.

Adresse:
Universität Würzburg, Empirische Bildungsforschung
Am Hubland, 97074 Würzburg

Das Projekt "FRIENT - Friendships in Inter-Ethnic Networks"
wird von der DFG durch Sachbeihilfen im Normalverfahren unterstützt.


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Quelle:
forschung 4/2008 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 9-10
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2009