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FORSCHUNG/088: Welche Faktoren dem Entstehen von Neuem förderlich sind (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 145, September 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Abgrenzen, Aufheben, Werten

Welche Faktoren dem Entstehen von Neuem förderlich sind

von Michael Hutter



Kurz gefasst: Das Auftauchen von Neuheit, sei es als kurzlebige Novitäten oder als zeitbeständige Innovationen, lässt sich bestimmten Kulturtechniken zuordnen, auch wenn diese von den Beteiligten keineswegs als technisch eingeschätzt werden. Fünf derartige Kulturtechniken wurden im Verlauf des knapp siebenjährigen Forschungsprogramms der Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit identifiziert. Eine jede wird in einem oder mehreren Beiträgen beispielhaft vorgeführt.


Die Sozialwissenschaften bemühen sich, Wandel in der Gesellschaft zu verstehen und zu erklären. Die Veränderungen vollziehen sich im Umgang der Menschen miteinander und im Schaffen von Artefakten füreinander und gegeneinander. Je nach Disziplin bekommen die wichtigen Veränderungen eigene Namen: historischer und institutioneller Wandel, Revolution, Reform, Paradigmenwechsel, Wirtschaftswachstum, Modezyklen - und schließlich: technische und soziale Innovation. Zunehmend richtet sich das Verhalten von Akteuren in allen gesellschaftlichen Bereichen darauf aus, Neuheiten zu erwarten und selbst ständig kreativ, wenn nicht gar innovativ zu sein. Der Kern der Veränderung, "das Neue", rückt ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Beobachtung.

Neuheit ist eine Eigenschaft, die erst im Rückblick erkennbar wird. Ihr Auftreten ist prinzipiell nicht vorhersehbar. Wie kommt es dann zu etwas Neuem? Viele einschneidende Veränderungen, bei Institutionen wie bei Technologien, treten historisch einmalig auf. Kleine, alltägliche Erfindungen hängen stark von zufälligen externen Bedingungen ab. Lässt sich dennoch etwas halbwegs Gültiges über das Auftauchen von Neuheiten sagen? Lässt sich, um bei dem Bild zu bleiben, das Auftauchen von kurzlebigen Novitäten ebenso wie das von zeitbeständigen Innovationen bestimmten Quellen zuordnen? Das Auffinden oder Schaffen bestimmter Anfangsbedingungen ist seinerseits eine Ressource, aus der Neues geschöpft werden kann, deren Sprudeln und Versiegen aber nicht vollständig zu kontrollieren ist.

Die WZB-Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit hat in den vergangenen knapp sieben Jahren an einem Forschungsprogramm gearbeitet, das Antworten auf diese Fragen geben sollte. Eine Grundannahme teilten die Forscherinnen und Forscher, die mit ihren eigenen Projekten Teil dieses Programms waren: Das Neue entsteht in einem sozialen Prozess, auch wenn individuelle kreative Fähigkeiten eine der Voraussetzungen bilden. In Interaktionen, die mindestens zwei, oft aber Hunderte Personen engagieren, tauchen Prototypen von etwas auf, das möglicherweise später beständig sein wird. Ein Prototyp wird nur dann eine etablierte Innovation, wenn er sich im Netzwerk seiner Verwender bewährt. Solche kulturell koordinierten sozialen Prozesse, die schon darauf ausgerichtet sind, die Formulierung von Neuem zu erleichtern beziehungsweise dessen Akzeptanz durchzusetzen, haben sich im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte auch jenseits der Wirtschaft herausgebildet. "Kulturelle Koordination" heißt hier: Die Beteiligten haben bestimmte Zielsetzungen, Sprachregelungen und Verhaltensweisen gemein. Sie verstehen und verhalten sich beispielsweise als Ingenieure oder als Designer, und sie vertrauen dem Werturteil bestimmter Experten und Kritiker.

"Quellen von Neuheit" lassen sich als Kulturtechniken interpretieren, auch wenn diese Performanzmuster von denjenigen, die an kreativen Prozessen beteiligt sind, keineswegs als technisch eingeschätzt werden. Fünf derartige Kulturtechniken haben wir identifiziert. Eine jede wird von einem oder von mehreren der Beiträge in diesem Heft beispielhaft vorgeführt.

Eine erste dieser Herangehensweisen ist das Abgrenzen der Räume, in denen kreative Prozesse stattfinden. Studios - eine Erfindung aus der italienischen Renaissance, die zum Studieren klassischer Texte diente - sind zur paradigmatischen Form dieser Kulturtechnik geworden. Ignacio Farías zeigt, dass das Konzept des Studios über seine materielle Beschaffenheit hinaus erweitert und gewandelt werden kann. Das Studio der Land-Art-Künstlerin Mirja Busch im Wohnwagen und auf dem Wüstenboden lässt die spezielle Zeitlichkeit des kreativen Arbeitens erkennen. Die Studios von Architekten - ein anderer Schwerpunkt von Farías' Recherchen - sind dagegen so angelegt, dass ein ständiger gegenseitiger Einschätzungs- und Kommentarfluss die Entwurfsarbeiten begleitet.

Die Aufhebung, Suspendierung von Routinen ist die Grundlage einer weiteren Kulturtechnik. Das Ausrufen von Krisen und Ausnahmezuständen setzt Energien frei und erlaubt Lösungen, die unter geordneten Umständen nicht akzeptiert worden wären. Freilich lassen sich Ausnahmezustände nur schwer ihrerseits planen und einsetzen. Eine Strategie, das Unvorhersehbare mit gezielter Veränderung in Verbindung zu bringen, sind künstlerische Interventionen. Ariane Berthoin Antal hat inzwischen Hunderte solcher befristeter Eingriffe in Organisationen kennengelernt, und sie hat Dutzende davon untersucht. In dem Beispiel, das sie für ihren Beitrag ausgewählt hat, nimmt die Aufhebung der Verhaltensroutinen sehr subtile Formen an: Die Akteure, allesamt getrimmt auf die Maximierung des Unternehmensergebnisses, wurden daran gehindert, auf das übliche Ziel zuzusteuern. Erst dann tauchten neue, bislang nicht gedachte Lösungsvorschläge auf.

Zusammenarbeit, ja allein schon Koordination zwischen selbstständigen Akteuren verläuft immer schwierig. Dennoch suchen Wissensarbeiter und Projektemacherinnen in gestalterischen Berufen den Kontakt mit Kollegen und die Anregung durch andere, ähnlich kreativ fordernde Berufe. Das erklärt die rasche Verbreitung der Coworking Spaces. Verborgen bleibt auf den ersten Blick, dass der Erfolg solcher Konfigurationen eine weitere Kulturtechnik voraussetzt - das Kuratieren von Umständen der Zusammenarbeit. Die Kuration hat eine lange Tradition im Ausstellungs- und Theaterwesen. Janet Merkel berichtet, wie die Kompetenz des Pflegens und des Vermittelns von sozialen Beziehungen nun in einem breiten Feld der ständigen Arbeit am Neuen angewendet wird. Das überlegte Schaffen von Räumen der Begegnung und Vermittlung, das zeigen Anna Froese und Natalie Mevissen, hilft auch dabei, akademisches und praktisches Wissen in Verbindung zu bringen.

Eine vierte Kulturtechnik hat sich rund um die Wertübertragung zwischen gesellschaftlichen Bereichen entwickelt. Was die Erfindung einer neuen Lichtquelle, eines Pop-Songs oder einer Gesetzesänderung jeweils im Rest der Gesellschaft auslöst und ermöglicht, hängt von der Fertigkeit ab, den so geschaffenen Wert in andere Wertungsregime zu übersetzen. Meine eigenen Studien verfolgen, wie künstlerische Erfindungen in veränderter Form in kommerziell erfolgreichen neuartigen Filmen, Werbefotos und Handtascheneditionen auftauchen. Steffen Hucks Überlegungen zur ästhetischen Erneuerung des Kinofilms unter dem ökonomischen Druck der Fernsehkonkurrenz setzen auf Übertragung in umgekehrter Richtung. Eine Kombination von unterschiedlichen Wertschätzungen taucht auch in Ariane Berthoin Antals Bericht auf, wenn Künstler herausfinden, dass ihre Fähigkeiten in einem Feld weit außerhalb der eigenen Szene wertvoll sind. Das Brückenprojekt zur Rahmung von Laborexperimenten, über das ich mich im Gespräch mit Dorothea Kübler unterhalte, setzt sich in wieder anderer Form mit den Wertsetzungen von zwei verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen auseinander. Dort werden Übertragungen zwischen Wissenssoziologie und Verhaltensökonomik ausprobiert.

Schließlich ist uns klar geworden, welche entscheidende Rolle Techniken des Auf- oder Abwertens von neu aufgetauchten Ideen, Prototypen oder ganzen Technologien spielt. Ohne die begleitende Valorisierung, auch im Wettstreit mit abweichenden Bewertungen, kann sich keine Neuheit durchsetzen. Durch Verknüpfung mit nationalen, ökologischen oder moralischen Werten lässt sich die öffentliche Wahrnehmung noch weitgehend unfertiger Innovationen beeinflussen, und Vergleiche mit der Reputation von Personen, Institutionen und anerkannten Erfolgen im eigenen Wertungsbereich heben die Wertschätzung. Auch die Legitimierung von Forschungsvorhaben durch ethisch motivierte Regulierung, wie sie Silke Gülker beschreibt, trägt zur Valorisierung bei.

Die Vielfalt der Wertungsweisen und -techniken, die bei Neuerungsprozessen eingesetzt werden, haben wir in einem Band mit empirischen Beispielen zu "Momenten der Wertung" gesammelt. Dabei ist uns die Kunst des Geschichtenerzählens bei vielen Innovationsprozessen aufgefallen. Geschichten erzählen von Möglichkeiten. Sie verknüpfen Bedeutungen und engagieren Erzählerinnen und Zuhörer in einer Weise, die die Bereitschaft zum Experiment, zum Wagnis des Neuen erhöht. Anke Strauß verdeutlicht mit ihren beiden Fällen, dass und wie selbst künstlerische Interventionen eingebettet sein müssen in Narrative, die das Fremde daran vertraut erscheinen lassen, um Möglichkeiten aufzuzeigen, die von den Zuhörern in ihren eigenen Feldern verwirklicht werden können.

Die so hervorgehobenen Kulturtechniken unterstützen ein Verständnis von soziotechnischer Innovation und gesellschaftlicher Transformation, das auf der Anerkennung von generalisierter Ungewissheit und Unbestimmtheit basiert. Während der moderne Glaube an die Plan- und Machbarkeit von Etwas, dessen Neuheit vorhersehbar und kalkulierbar sei, schwindet, steigt gleichzeitig das Interesse an zwar weniger präzise steuerbaren, dafür aber oft mit geringen Mitteln einsetzbaren sozialen Kompetenzen. Der genaue Blick auf solche subtileren Formen der Interaktion kann der sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung möglicherweise eine neue Richtung geben.


Michael Hutter ist Direktor der Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit am WZB. Die 2008 eingerichtete Abteilung schließt zum Jahresende 2014 ihre Arbeiten ab.
michael.hutter@wzb.eu


Literatur

Canzler, Weert/Marz, Lutz: "Wert und Verwertung neuer Technologien. Das Beispiel der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologien". In: Leviathan, 2011, Jg. 39, H. 2, S. 223-246.

Farías, Ignacio: "Epistemische Dissonanz. Zur Vervielfältigung von Entwurfsalternativen in der Architektur". In: Sabine Ammon/Eva Maria Froschauer (Hg.): Wissenschaft Entwerfen? Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur. Paderborn: Wilhelm Fink 2013, S. 76-107.

Hutter, Michael: "Dissonant Translations. Artistic Sources of Innovation in Creative Industries". In: Ariane Berthoin Antal/Michael Hutter/David Stark (Eds.): Moments of Valuation. Exploring Sites of Dissonance. Oxford: Oxford University Press (forthcoming January 2015).

Schulte-Römer, Nona: "Fair Framings. Arts and Culture Festivals as Sites for Technical Innovation". In: Petra Ahrweiler/Riccardo Viale (Eds.): Mind & Society - Cognitive Studies in Economics and Social Sciences. Special Issue on "Cultural and Cognitive Dimensions of Innovation", 2013, Vol. 12, No. 1, pp. 151-165.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 145, September 2014, Seite 6-8
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2014