Schattenblick → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → SOZIOLOGIE


FORSCHUNG/091: Gesellschaft im Alltag erforschen (AGORA - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1 - 2015

Gesellschaft im Alltag erforschen

Von Stefanie Eifler/Joost van Loon/Rober Schmidt


Mit öffentlichen Forschungstagen gab das Fach Soziologie an der KU vor kurzem Einblick in die laufenden Projekte und Vorhaben. Egal ob soziologische Theorien, empirisch angelegte Studien oder prozessorientierte Themen: An der KU knüpfen die Forscherinnen und Forscher bewusst an den Alltag der Menschen an.


Das Fach Soziologie an der KU erfreut sich steigender Beliebtheit bei den Studierenden. Wenn dieser Trend in den nächsten Jahren anhält, könnte die Eichstätter Soziologie einer der neuen Hoffnungsträger des Faches in Deutschland werden. Die Soziologie ist an der KU mit drei Professuren vertreten: Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie (Joost van Loon), Soziologie und Empirische Sozialforschung (Stefanie Eifler) und Prozessorientierte Soziologie (Robert Schmidt). Dabei arbeiten die Eichstätter Soziologen in Lehre und Forschung eng zusammen und engagieren sich für innovative Forschung und eine Erneuerung des Faches.

Die Forschung der Eichstätter Soziologie ist durch insgesamt drei Merkmale gekennzeichnet: sie ist empirisch orientiert, methodisch innovativ und ist in Bezug auf das thematische Begriffspaar Situation und Ortkonzeptuell integriert. Obwohl es andere Universitäten gibt, an denen sich die Soziologie als Team bemüht, ihre Forschung zu strukturieren (z.B. Jena), ist Eichstätt der einzige Ort, an dem neben einer thematischen Integration auch versucht wird, methodisch und theoretisch eng zusammenzuarbeiten, nicht um interne Differenzen aufzuheben, sondern um sie weiter zu entwickeln und damit die Soziologie insgesamt voranzutreiben. Die drei Einheiten der Soziologie beschäftigen sich auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen (z.B. Akteur-Netzwerk-Theorie, Rational-Choice-Theorie, Praxissoziologische Theorie) mit einer bestimmten Version von Soziologie, die man "handlungstheoretisch" nennen könnte. Wichtig dabei ist, dass sich die meisten Forschungsfragen auf das Alltagsleben beziehen und an die alltäglichen Erfahrungen der meisten Menschen anknüpfen. Diese Orientierung ermöglicht erfahrungsorientiertes Lehren, Lernen und Forschen. Ein großes Problem der Soziologie bestand stets darin, dass viele ihrer Vertreter versucht haben, alltägliche Erfahrungen durch soziologische Erklärungen zu ersetzen. Daraus entsteht eine Irritation, die daher rührt, dass die Soziologie den Anschein erweckt, als wisse sie besser als die Menschen selbst, warum viele Menschen das tun, was viele andere auch tun. Erfahrungsorientierte Forschung rückt im Unterschied dazu diese Erfahrungen selbst und das Soziologisieren der Leute in den Mittelpunkt.


Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie

Als Joost van Loon im September 2010 aus Eichstätt einen Ruf auf den Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie erhalten hat, hat er sich vorgenommen, der deutschen Soziologie neue Impulse zu geben. Inspiriert durch die monistische Philosophie Spinozas, die empirische Philosophie Deweys, den radikalen Empirismus von William James, die Monadologie von Tarde, Whiteheads Prozesstheologie, die Assemblage-Theorie von Deleuze und Guattari und die synergetische Versammlung dieser Inspirationen in die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour sollte eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft weiter entwickelt werden. Diese Art soziologischen Denkens und Forschens versucht, nicht im Voraus zu entscheiden, wer als handlungsfähig eingestuft werden darf und wer nicht, sondern konkret nachzuweisen, wer handelt, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen.

Konkret betrifft diese Forschung verschiedene kleinere Projekte, die momentan durchgeführt werden oder schon fast abgeschlossen sind. So beschäftigt sich Joost van Loon in seinem Forschungsprojekt "Risikoströme der Energiewende" mit dem Phänomen der Energiewende und im Besonderen mit der geplanten Stromtrassen-Netzwerkausbreitung. Hierbei geht es um die Konstruktion von Befangenheit durch sogenannte "Risikoströme". Risiken haben nämlich die Eigenschaft, sich immer wieder neu zu virtualisieren (weil sie immer auf eine andere Zukunft verweisen) und deswegen sind sie sehr fließend und änderbar. Ökologische Risiken können sich unterschiedlich, gleichzeitig oder sukzessiv in wirtschaftliche, politische, rechtliche, militärische oder wissenschaftliche Risiken verwandeln. Risiken binden Akteure in bestimmte Wirklichkeiten ein und mobilisieren Kollektivierungsprozesse. Risiken schaffen Situationen und sind immer sowohl verortet als auch ent-ortet.

Die Stromtrassen-Debatten der letzten 12 Monate zeigen das ganz klar: Risiken werden gegeneinander ausgespielt, um bestimmte Koalitionen zu bilden. Das Thema der "Energiewende" selbst wird so weiter politisiert. Durch lokale Verortungen entstehen Situationen der Unbestimmtheit, die Lebensqualität ganzer Dörfer über eine Strecke von mehr als 450 km wird von 75 Meter hohen Stromtrassen beeinflusst, aber dies wird gegen die Kosten für Elektrizität und die Engpässe in der Stromver sorgung ausgespielt. Politiker wissen nicht mehr genau, welche Interessen sie neben ihren Eigeninteressen bedienen sollen, um die zukünftige Wählbarkeit ihrer Parteien zu gewährleisten. Sie kreieren damit aufs Neue Situationen der Unbestimmtheit. In diesem Gemenge von Risiken, Interessen und Ängsten entstehen spannende soziologische Fragen.

Ein zweites Projekt am Lehrstuhl ist eine ethnografische Studie eines Labors an der Universität Erlangen, das sich im Rahmen einer Doktorarbeit von Wiebke Pohler mit "nanomedizinischer Grundlagenforschung" beschäftigt. Die zentrale Frage dieser Untersuchung ist, wie sich die wissenschaftliche Praxis dieser Grundlagenforschung konkret vollzieht, unter welchen Bedingungen sie stattfindet und welche Folgen bestimmte Forschungshandlungen haben. Dabei geht es vor allem um die Medialität von Wissenschaftlichkeit. Wie und mit welchen Mitteln wird wissenschaftliche Forschung verwirklicht? Das Besondere an Nanotechnologie ist, dass sie durch "Skalen" definiert wird und diese Skalen so klein sind, dass Visualisierung eine Herausforderung darstellt. Man braucht dafür bestimmte Medien. Aber anders, als dies in der Literatur oft als "vollendete Tatsache" angenommen wird, spielt in dieser Form der nanomedizinischen Grundlagenforschung die Rastersonden-Mikroskopie keine direkte Rolle. Es geht vielmehr um Kaninchen, schwarze Flüssigkeiten und die Herstellung therapeutischer Nanopartikel. Wissenschaftliche Forschung hat auch eine Alltagspraxis und diese wird durch viele Medien mitgestaltet. Wissenschaftlichkeit wird in erster Instanz nicht durch das Befolgen von Regeln, sondern durch eine Reihe von kreativen Problemlösungen gewährleistet. Dieses Forschungsprojekt ist fast abgeschlossen und die Promotionsarbeit befindet sich im Begutachtungsverfahren.

Das dritte Projekt beschäftigt sich mit der Verortung von Sozialtechnik am Beispiel von "Streetwork" in der Stadt München und ist Teil der Promotionsarbeit von Florian Mayr. Genau wie die Stromtrassen und das Labor ist auch die Straße ein "Topos" der Gestaltung des Sozialen, auch hier spielen Situationen im Sinne von "Risiken" eine entscheidende Rolle. Jugend wird oft als "Problem" dargestellt und oft wird sogar von einer Krise der gesellschaftlichen Integration geredet, wenn Jugendliche als solche problematisiert werden. Jede Gesellschaft ist ein Produkt der Vergesellschaftung und die Soziologie hat von Anfang an schon immer großes Interesse daran gehabt zu verstehen, wie Gesellschaftlichkeit verwirklicht wird.

Streetwork ist ein Phänomen, das aus vielen miteinander verknüpften Situationen besteht und dieses Projekt versucht, die genaue Gestaltung solcher Situationen zu beschreiben und zu analysieren. Ein Ergebnis dieser Forschung ist zum Beispiel, dass die Krisenhaftigkeit des Streetworks ein fundamentaler Teil seiner Existenzlogik ist und deswegen auch von fast allen Beteiligten (Jugendwerkern, Verwaltungsangestellten, Politikern, Polizei und den Jugendlichen selbst) aktiv mitgestaltet wird. Sozialtechnik ist schon seit mehr als 140 Jahren eine grundlegende Praxis der staatlichen Ordnung der Vergesellschaftungsprozesse und die Frage ist, ob ihr Erfolgsmangel vielleicht eher als Beweis ihres Erfolgs denn als Beweis ihres Scheiterns verstanden werden sollte.

Schließlich gibt es ein viertes Projekt, das zusammen mit dem Arbeitsbereich von Stefanie Eifler unter dem Titel "Sicherheit und Privatheit im öffentlichen Raum" konzipiert wurde. Im Mittelpunkt dieses Projekts steht eine soziale Situation, die mit Agamben (2002) als "Ausnahmezustand" bezeichnet werden kann. Dieser Begriff bezieht sich auf die Idee, dass die Herstellung von Sicherheit im öffentlichen Raum zu einem Paradox führt: Durch technisierte Formen sozialer Kontrolle entsteht als Kehrseite der Sicherheit vor einer Bedrohung durch illegale Gewalt eine potentielle Bedrohung durch Einschränkungen von Bürgerrechten. Auch die Legalität des Rechts wird in der als Ausnahmezustand bezeichneten Situation problematisch. Das geplante Projekt möchte die sozialen und individuellen Bedingungen der Wahrnehmung und Bewertung von Sicherheit auf der einen Seite und Risiken auf der anderen Seite theoretisch und empirisch analysieren. Dabei werden zwei unterschiedliche Orte - Marktplätze und Flughäfen - in zwei Ländern - Großbritannien und Deutschland - miteinander verglichen. Die empirische Analyse erfolgt auf der Grundlage des Factorial Survey Approach, der ursprünglich von Rossi (1979) eingeführt wurde. Dabei werden in Erweiterung der Methode des faktoriellen Survey hypothetische Situationsbeschreibungen nicht nur in verbaler, sondern auch in visueller Form zur schriftlichen Beantwortung vorgegeben. Im Rahmen dieser Situationsbeschreibungen werden soziale Bedingungen von Sicherheit und Risiken systematisch variiert, so dass ihre Einflüsse auf die Wahrnehmungen und Bewertungen der Befragten bestimmt werden können.


Soziologie und empirische Sozialforschung

Stefanie Eifler ist seit April 2013 Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie und empirische Sozialforschung. Den Ausgangspunkt der theoretischen und empirischen Studien in ihrem Arbeitsbereich bildet die Idee, dass die Soziologie das soziale Handeln vor dem Hintergrund der sozialen Situation verstehen und erklären sollte. Am Lehrstuhl für Soziologie und empirische Sozialforschung konkretisieren die Forscher das handlungstheoretische, erfahrungsorientierte Profil der Eichstätter Soziologie in zweierlei Hinsicht:
Einer der Arbeitsschwerpunkte ist in einem Bereich angesiedelt, der am besten durch das Begriffspaar Situation und Handeln beschrieben werden kann. Hier gilt es, theoretische Perspektiven weiterzuentwickeln, die Mechanismen und Prozesse der Definition von Situationen in den Blick nehmen und deren Auswirkungen auf das soziale Handeln spezifizieren. Als heuristischen Rahmen benutzen wir häufig das Makro-Mikro-Makro-Modell soziologischer Erklärungen (also die Wirkung von gesellschaftlichen Phänomenen auf das Verhalten der Akteure und von dort aus wieder zurück in die Gesellschaft) und Framing-Modelle, die wir bereichsspezifisch ausarbeiten - etwa im Hinblick auf die Analyse der Einflüsse von Normen und Sanktionen, Rationalität und Entscheidungen, Kooperation und Konflikt. Die Forschung am Lehrstuhl für Empirische Sozialforschung ist geprägt durch das Bemühen, eine enge Verknüpfung von soziologischer Theorie und empirischer Analyse herzustellen, wobei qualitative und quantitative Methoden der empirischen Sozialforschung Anwendung finden.

Als Beispiel für ein längerfristiges Forschungsprojekt, das in diesem Bereich verfolgt wird, kann die Studie "Zusammenleben in der Stadt" angeführt werden, an der neben Stefanie Eifler auch Danny Marquart mitarbeitet. Im Mittelpunkt des Projekts steht die theoretische und empirische Analyse von Situationen, in denen Personen im Rahmen ihrer alltäglichen Handlungsvollzüge zusammentreffen und sich in ihrem Handeln wechselseitig aufeinander beziehen. Mit dem Begriff "Situationen" werden sowohl überdauernde Situationen im Sinne eines Gefüges von Opportunitäten und Restriktionen als auch Situationen im Sinne von raum-zeitlich begrenzten Ausschnitten der alltäglichen Erfahrung bezeichnet. Im Projekt "Zusammenleben in der Stadt" wurden zwei Situationen betrachtet, die als typisch für soziale Interaktionen zwischen Stadtbewohnern im öffentlichen Raum angesehen werden können, nämlich a) Situationen, in denen Personen sich ungerechtfertigt auf Kosten anderer bereichern können und b) Situationen, in denen Personen anderen mit spontanen Hilfeleistungen zur Seite stehen können. Anknüpfend an vorliegende Studien zur Fundunterschlagung wird im Projekt eine Situation untersucht, in der sich die Gelegenheit bietet, einen gefundenen Geldschein aufzuheben und zu behalten. In der Tradition von Untersuchungen zum Hilfeverhalten wird in dieser Studie eine Situation untersucht, in der eine Person eine andere darum bittet, ihr eine kleine Gefälligkeit zu erweisen. Das Projekt geht der Frage nach, a) welche Merkmale der sozialen Situation von Personen dazu führen, dass Ausschnitte der alltäglichen Erfahrung als mehr oder weniger günstige Gelegenheiten, sich ungerechtfertigt zu bereichern oder anderen spontan zu helfen, gerahmt werden, und b) welche Bedingungen dazu führen, dass Personen sich angesichts einer bestimmten Definition der Situation ungerechtfertigt bereichern oder anderen spontan helfen.

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt ergibt sich unmittelbar aus dieser theoretischen Orientierung: Dieser besteht nämlich darin, Methoden für eine situationsbezogene Analyse sozialen Handelns zu entwickeln bzw. zu verfeinern; entsprechend verwenden wir für diesen Arbeitsschwerpunkt den Titel Messen in den Sozialwissenschaften. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler interessieren sich dabei besonders für experimentelle Ansätze in der Umfrageforschung und möchten damit sowohl soziale Einstellungen als auch soziales Handeln ursächlich auf soziale Situationen zurückführen.
Als Beispiel für ein Projekt, das in diesem Rahmen verfolgt wurde, kann eine Studie dienen, an der neben Stefanie Eifler auch Knut Petzold mitgewirkt hat. Hier wurde die Methode der gegabelten Befragung (Split-Ballot Experiment) eingesetzt, um Einflüsse unterschiedlicher Frageformulierungen und Einflüsse verschiedener Antwortformate zu untersuchen. Bei einer gegabelten Befragung wird die Untersuchungsstichprobe zufällig in mindestens zwei Gruppen geteilt, die im Rahmen einer Umfrage systematisch mit unterschiedlichen Stimuli konfrontiert werden. Insofern als prinzipiell eine Randomisierung der Probanden in Experimental- und Kontrollgruppe(n) erfolgt, sind gegabelte Befragungen "echte" Experimente. In dieser Studie haben wir methodische Aspekte des Einsatzes von Vignetten im Rahmen der Umfrageforschung empirisch untersucht. Vignetten sind kurze Beschreibungen von realen Situationen, die Probanden im Rahmen einer Umfrage dargeboten werden. Sie dienen der Erfassung normativer Einstellungen und Handlungsintentionen. Auf diese Weise wird eine größere Nähe der Inhalte von Vignetten zum alltäglichen Erleben der geschilderten Situationen oder Gegenstände hergestellt. Gerade diese Ausführlichkeit wird im Allgemeinen als Vorzug bei der Messung betrachtet, da die größere Genauigkeit der Beschreibung die Tendenz zu sozial erwünschtem Antwortverhalten mindern soll, da der Interpretationsspielraum geringer ist. Allerdings wurde genau diese Annahme bislang nicht eigens empirisch analysiert, sondern ist Gegenstand unseres Projekts: Führen ausführlichere Vignetten tatsächlich zu weniger normativ geprägten und damit valideren Antworten?

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt, in dem der Ansatz einer theoretisch fundierten empirischen Situationsanalyse sozialen Handelns mithilfe experimenteller Methoden verfolgt wird, ist eine Reihe aufeinander aufbauender Studien zu Fragen um das Zusammenspiel von Mobilität, Bildung und Arbeitsmarkt, die Knut Petzold im Rahmen seiner Habilitationsarbeit verfolgt. Die Teilprojekte befassen sich mit den Bedingungen und Auswirkungen interregionaler und internationaler Mobilität während der Ausbildung und der Berufseintrittsphase auf die Arbeitsmarktplatzierung und die Karriereverläufe von Arbeitnehmern. Dabei wird der Arbeitsmarkt explizit als soziale Struktur begriffen, in dem Akteure strategisch miteinander interagieren. Bildungs- und Mobilisierungsentscheidungen der Arbeitnehmer sind dabei ebenso situativ eingebettet wie Anstellungsentscheidungen potenzieller Arbeitgeber. Um Probleme wie etwa Selbstselektion oder ausschließliche Betrachtung der Arbeitnehmerseite in vorliegenden Studien zu überwinden, werden Absolventenstudien und Arbeitgeberbefragungen mithilfe experimenteller Designs zu validieren versucht. Beispielsweise werden Faktorielle Surveys, Choice Experimente und Korrespondenzstudien eingesetzt und die Ergebnisse mit Befragungsund Beobachtungsdaten verglichen. Grundsätzlich sollen in den Teilstudien daher sowohl die komplexen Zusammenhänge um Mobilisierung und Internationalisierung in Bildung und Arbeitsmarkt stärker ausgeleuchtet als auch geeignete Methoden zur situationsbezogenen Analyse sozialen Handelns getestet und weiterentwickelt werden.


Prozessorientierte Soziologie

Robert Schmidt ist im April 2014 dem Ruf auf die neu eingerichtete Professur für Prozessorientierte Soziologie an der KU gefolgt. Diese Professur signalisiert die innovative Ausrichtung der Eichstätter Soziologie in besonderer Weise, denn als bislang erste Professur mit dieser Denomination bildet sie innerhalb der deutschsprachigen Soziologie ein Alleinstellungsmerkmal der Soziologie an der KU. Im Arbeitsbereich Soziologie III wird die prozessorientierte Perspektive insbesondere durch das Programm einer "Soziologie der Praktiken" ausgearbeitet. Dabei handelt es sich um einen innovativen, empirisch orientierten soziologischen Erkenntnisstil, den Robert Schmidt in zurükkliegenden empirischen Studien in den Bereichen Wissensarbeit (Softwareentwicklung, Werbung, Journalismus etc.) und Sport entwickelt hat. Die Soziologie der Praktiken bemüht sich um eine Alternative zu den bestehenden Paradigmen in der Soziologie, die das Soziale entweder mit Funktionen, Strukturen und Systemen gleichsetzen oder aus dem Zusammenwirken individueller Handlungen erklären wollen.

In einer praxissoziologischen Perspektive kann man die unterschiedlichsten sozialen Organisationsformen und Institutionen untersuchen. Die Praxissoziologie z.B. auf unsere Universität anzuwenden würde bedeuten, diese soziale Institution nicht durch die Brille von Verwaltungsvorgaben, betriebswirtschaftlichen Organisationsmodellen oder anderer Konzepte zu betrachten, denen eingeschrieben ist, wie eine Universität funktionieren sollte. Vielmehr ginge es darum, die Universität als das immer wieder neue und sich fortlaufend wandelnde Resultat tatsächlicher Prozesse und Praktiken des Organisierens zu beschreiben. Dabei handelt es sich um ein Zusammenspiel der Aktivitäten verschiedener Teilnehmerinnen und Teilnehmer (Lehr-, Verwaltungs- und Wartungspersonal, Studierende, Ministerien, Stiftung etc.), gemeinsam geteilter Wissens- und Könnensformen (des Unterrichtens, Vortragens, Zuhörens, Argumentierens, Räsonierens, Kalkulierens, Verhandelns etc.), aber auch von mitwirkenden materiellen und virtuellen Arrangements wie den Gebäuden mit ihrer Infrastruktur, von Verwaltungssoftware, Formularen, Richtlinien, Vorschriften etc. Der Universitätsbetrieb wäre dann als Ergebnis des ganz eigenlogischen praktischen Zusammenspiels aller genannten Bestandteile verständlich zu machen - wobei zu diesen Bestandteilen nicht zuletzt auch die praktisch interpretierten Vorschriften, Richtlinien und Regularien hinzuzuzählen wären. Sie wirken an den Organisationsprozessen und Organisationspraktiken mit aber sie bewirken sie nicht!

Die Soziologie der Praktiken ist ein empirisches Such- und Finde-Verfahren, das darauf ausgerichtet ist, neue Forschungsfelder und Frageperspektiven zu erschließen. Am Arbeitsbereich Prozessorientierte Soziologie werden diesbezüglich Projekte zu unterschiedlichsten Gegenstandsbereichen konzipiert und bearbeitet: So beschäftigt sich z.B. das Projekt "Schreibpraktiken als Wissenspraktiken" mit den Produktionsprozessen wissenschaftlicher Texte. Das Projekt geht davon aus, dass in den Situationen wissenschaftlichen Schreibens fortlaufend Wissen generiert wird. Wir sehen, lernen und wissen in der Wissenschaft oft erst, indem wir schreiben, was wir (eigentlich) sagen können und sagen möchten. Dabei handelt es sich um situierte Wissens- und Erkenntnisvorgänge, die unmittelbar in die Schreibprozesse verwickelt sind. Der Soziologe Nik las Luhmann hat einmal bemerkt, dass der weitaus größte Teil der wissenschaftlichen Texte auch anders formuliert sein könnte und anders formuliert wäre, wenn er am nächsten Tag geschrieben worden wäre. Das Projekt untersucht daher nicht das bereits Geschriebene, sondern tatsächliche situierte Schreibprozesse und die mit diesem Geschehen verbundenen Wissensformen. Im Mittelpunkt steht die Generierung von Prozess- und Beobachtungsdaten durch handlungssimultane Verbalisierungen (thinking aloud method), Videoaufzeichnungen von Schreibsitzungen und keystroke logging.

Ein zweites Projekt mit dem Titel "Die politische Wiederkehr der Plätze" geht von der Beobachtung aus, dass sich viele entscheidende politische Umbrüche der Gegenwart in je charakteristischer Weise platziert und verortet vollziehen: Der Tahrir-Platz in Kairo wird zum Ort des Arabischen Frühlings, der Taksim-Platz und der Gezi-Park in Istanbul werden zu Symbolen der türkischen Protestbewegung, der Euro-Maidan in Kiew wird zum Ort und Schauplatz von Machtverschiebungen in Osteuropa. Diese politische Wiederkehr der Plätze scheint modernistischen, differenztheoretischen und funktionalistischen Gesellschaftsdiagnosen zu widersprechen, denen zufolge Machtfragen zunehmend an Verfahren delegiert werden. Das Projekt fragt vor diesem Hintergrund nach den 'Leistungen', die Plätze als Schauplätze von Versammlungen, Demonstrationen, Straßenkämpfen und anderen politischen Situationen für politische Praktiken und Ereignisse erbringen. Welche Rolle spielen Plätze in den politischen Prozessen der 'Konstruktion von Situationen' (Debord)? Wie werden politische Ereignisse situiert, verortet und 'platziert'? Welche performativen, repräsentativen, demonstrativen und präsentatorischen Gebrauchsgewährleistungen halten Plätze bereit? Wie genau machen Plätze politische Situationen und Ereignisse referierbar und berichtbar?

In einem weiteren aktuellen Vorhaben mit dem Titel "Atmosphären und Stimmungen" stehen die affektiven Dimensionen und Tönungen verschiedener sozialer Praktiken im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses. Während sich die Emotionssoziologie bislang auf die "großen Gefühle" (Wut, Liebe, Hass etc.) als intensive, klar konturierte und relativ kurzlebige Affekte konzentriert, fragt das Projekt nach affektiven Lagen, die sich im Hintergrund von Situationen und Handlungen abspielen. Das Projekt untersucht Atmosphären, Stimmungen und andere Hintergrundaffekte vergleichend in den Praktiken teamförmiger Wissensarbeit, in Therapiesitzungen und therapeutischen Praktiken sowie in Gottesdiensten und liturgischen Praktiken. Dabei wird unter anderem der Frage nachgegangen, wie genau die 'Affektivitäts-Experten' des jeweiligen Feldes, also die Projektleiter, Therapeuten, Priester und Liturgen Stimmungen und Atmosphären modellieren und verfügbar machen.

Mit diesem Projekt thematisch eng verwandt ist das Promotionsprojekt von Basil Wiesse, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Prozessorientierte Soziologie. Es trägt den Titel "Situation und Affekt" und beschäftigt sich mit der Integration des Atmosphärenbegriffs in die Soziologie. Gemeint ist damit das alltägliche (und auch außeralltägliche) Erleben von Räumen und Situationen. So sagen wir beispielsweise von bestimmten Situationen, sie hätten eine "aufgeladene", "besinnliche" oder "bedrückende" Atmosphäre. Einerseits möchte Wiesse in seiner Arbeit zeigen, dass eine atmosphärische Perspektive es erlaubt, einige Probleme innerhalb der Soziologie aus dem Weg zu räumen: So haben Interaktions- und Situationsforscher zum Teil Schwierigkeiten, der affektiven Dimension ihres Forschungsgegenstands genügend Raum zu schenken. Zum anderen möchte Wiesse der soziologischen Vermutung nachgehen, dass solche Atmosphären nicht einfach nur "da" sind beziehungsweise schon im Vorfeld konzipiert wurden (etwa von professionellen Raumgestaltern), sondern dass ihre aktuelle Entstehung und Spürbarkeit von umfangreichen und komplexen sozialen Prozessen abhängt.


Prof. Dr. Stefanie Eifler ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie und Empirische Sozialforschung.

Prof. Dr. Joost van Loon ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie.

Prof. Dr. Robert Schmidt ist Inhaber der Professur für Prozessorientierte Soziologie.

*

Quelle:
AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
31. Jahrgang / Ausgabe 1 - 2015, Seite 16-21
Herausgeberin: Die Präsidentin der Katholischen Universität
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
Telefon: 08421 / 93-21594 oder -21248, Fax: 08421 / 93-21594-0
E-Mail: pressestelle@ku.de
Internet: www.ku.de/presse
 
AGORA erscheint einmal pro Semester und kann kostenlos bezogen werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang