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FRAGEN/012: Corona-Krise - Für Soziologen Lengfeld ist Ausgangssperre das "allerletzte Mittel" (idw)


Universität Leipzig - 18.03.2020

Corona-Krise: Für Soziologen Lengfeld ist Ausgangssperre das "allerletzte Mittel"


Die Corona-Krise schränkt unser gesellschaftliches Leben immer mehr ein. Sonst belebte Metropolen werden zu Geisterstädten. Die Menschen sind angehalten, nicht auf die Straße zu gehen. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet hat bereits signalisiert, dass sein Land für Ausgehsperren bereit sei. Was bewirken solche drastischen Maßnahmen in unserer Gesellschaft? Soziologe Prof. Dr. Holger Lengfeld von der Universität Leipzig hat sich darüber Gedanken gemacht.

Herr Prof. Lengfeld, Kanzlerin Angela Merkel hat die Deutschen aufgefordert, weitestgehend auf soziale Kontakte zu verzichten. Was könnte das in unserer Gesellschaft bewirken?

Offen gesagt: Wir wissen es nicht. Man muss sich vorstellen, dass der Grad der Freiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat und gegenüber gesellschaftlichen Konventionen seit Jahrzehnten fast stetig ausgeweitet wurde. Gerade jüngere Menschen können sich zum Beispiel nicht vorstellen, welche gesellschaftlichen Erwartungen etwa noch in den 1970ern Jahre an die Einordung in die bürgerliche Mehrheitskultur bestanden und wie beschränkt das Recht des Einzelnen auf direkte Mitwirkung in politischen Dingen war. Heute sind es besonders Jüngere nicht gewohnt, dass der Staat derart drastisch in das Alltagsleben eingreift. Anderseits gibt es, Stand heute, eine große Akzeptanz in der Bevölkerung für die umfassen Maßnahmen der Eindämmung sozialer Kontakte. Sicher scheint nur: Je länger die Freiheit beschränkt wird, desto größer sind die Belastungen und desto geringer die Akzeptanz der staatlichen Anordnungen.

Hat diese für uns alle schwierige Situation auch positive Effekte, etwa für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Auch das können wir derzeit nicht sagen. Vor unseren Augen findet ein Realexperiment ohne Vergleichsmöglichkeit in Friedenszeiten statt. Auf der einen Seite sehe ich Hinweise, dass sich Menschen in Freundeskreisen und Nachbarschaften aktiv unterstützen, also Solidarität praktizieren. Auf der anderen Seite soll genau dies laut staatlicher Vorgabe nicht zur Ausweitung sozialer Kontakte führen. Das ist ein Paradox: Unter normalen gesellschaftlichen Bedingungen bedeutet Solidarität Unterstützung von Schwächeren, und dabei sehr oft mittels persönlicher Kontakte. Genau das soll in der Corona-Krise weitgehend unterbleiben. Ich vermute, dass dieses Paradox für die Menschen umso problematischer wird, je länger Schulen und Geschäfte geschlossen sind und das soziale Leben stillsteht.

Sollte es auch bei uns wegen der Corona-Krise zu einer Ausgangssperre kommen, welche Gefahren birgt das in sich?

Ich bin kein Epidemiologe. Aber als Gesellschaftswissenschaftler würde ich sagen: Das bringt derart viele negative Folgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft mit sich, dass es nur das allerletzte Mittel sein kann. Man denke an Vereinsamung von alten Menschen besonders in den Großstädten und die Konflikte innerhalb von Familien, wenn alle Mitglieder eines Haushaltes die Wohnung nicht verlassen dürfen. Und es wird massive wirtschaftliche Folgen haben, wenn man eine hochspezialisierte Volkswirtschaft runterfährt. Die geht nicht einfach so auf Knopfdruck wieder online nach der Ausgangssperre. Wenn es doch eine Ausgangssperre geben sollte, rate ich sehr dazu, diese von vornherein als befristet anzukündigen. Wenn Menschen wissen, wie lange die Ausgangssperre anhält, werden sie eher bereit sein, die Regeln zu akzeptieren und die Belastungen zu ertragen.



Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Leipzig, 18.03.2020
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E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2020

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