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GESELLSCHAFT/180: Sicherheit nach Plan (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - 1/2007
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Gesellschaft im Konflikt - Sicherheit nach Plan

Von Susanne Beer


Der Blick aus dem 30. Stockwerk eines Hochhauses in der Gropiusstadt ist überwältigend - doch wohnen möchten viele hier nicht. Dabei sollten soziale und bauliche Rehabilitationsmaßnahmen Hochhausquartieren europaweit auch ein besseres Image verpassen. Tim Lukas, Doktorand am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, hat untersucht, ob kriminelle Delikte zurückgegangen sind und sich Mieter dadurch sicherer fühlen.


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Berliner haben die Ruhe weg. Es herrscht eine merkwürdig emotionslose Atmosphäre in der rumpeligen S-Bahn, müde Feierabendgesichter lassen ihre Blicke wandern. Selbst als eine Lautsprecherstimme ungerührt verkündet, in Lichtenberg ende die Fahrt vorzeitig, weiter gehe es mit dem Bus, murrt keiner - in München hätte es jetzt großes Gezeter gegeben. Nach fast zwei Stunden endet die Reise aus Berlins Innenstadt endlich im äußersten Nordosten. Entschädigt wird man mit der Atmosphäre eines lauen Spätnachmittags, dessen von bizarren Wolkenfetzen bedeckter Himmel zwischen Sonne und heraufziehendem Gewitter pendelt. In diesem Licht präsentiert sich Marzahn beinahe idyllisch mit viel Grün zwischen den Häuserblöcken.

Die monotonen Fassadenfronten, zwischen denen sich der Frühling auch hier mit aller Wucht bemerkbar macht, faszinieren irgendwie - zumindest in den Augen derjenigen, die im mittelalten, mittelgroßen und mittelmäßigen Reihenhäuschen einer Kleinstadt aufgewachsen sind. Doch Marzahn gilt als Problembezirk, gerade auch bei den Bewohnern. Dieselben Leute, die durch keine Panne im öffentlichen Nahverkehr aus der Ruhe zu bringen waren, sind gar nicht gelassen, wenn es um die Sicherheitslage in ihrem Umfeld geht. Viele fühlen sich zunehmend bedroht - dabei tendiert die Fallzahlenlinie der Kriminalitätsstatistik leicht nach unten. Diese Schere zwischen Wahrnehmung und Realität ist ein zentrales Ergebnis einer Studie, die der Soziologe Tim Lukas als Doktorand am Max-Planck-Institut für Strafrecht hier sowie in der Berliner Gropiusstadt unternommen hat.

Wie ein Wissenschaftler sieht der Soziologe nicht aus, wenn er durchs Viertel strawanzt. Der 31-jährige Freiburger kennt sich hier so gut aus, er könnte einer der Stadtführer von Stattreisen sein, die neuerdings Streifzüge durch den Ostberliner Ortsteil anbieten. Sind Plattenbauten plötzlich Kult? Und sind alle Klischees vom Problembezirk mit Leerstand und sozialen Brennpunkten falsch? Diesen Fragen gehen die Teilnehmer der Stadtführungen nach - auf der Suche nach den "Menschen vor Ort, egal ob es sie aus Berlin, Sachsen oder Russland hierhin zog".

Der Spaziergang durch die Plattenbausiedlungen führt am Nachbarschaftshaus Kiek in vorbei. Hier lacht die Sonne von einem Plakat, das auch auf Vietnamesisch und Russisch einlädt: "Kommt rein und habt Spaß, hier gibt es für jeden was!" - eine lokale Situationsanalyse im Schnelldurchlauf. Sie stand auch für Tim Lukas und sein Team am Anfang des Forschungsprojekts zur Kriminalprävention in Großwohnsiedlungen.


Bauliche Aufwertung als Mittel zur Prävention?

Herbst 2003: Eine kleine Gruppe von Leuten aus England, Deutschland, Ungarn und Polen, alle mit demselben Interesse. Sie wollen im Rahmen eines speziellen Förderprogramms der Europäischen Kommission empirisch fundiert bewerten, ob baulich-architektonische Eingriffe in Hochhausquartieren als kriminalpräventive Maßnahme taugen. Verringert sich die Furcht vor Kriminalität, wächst das Maß an sozialer Kontrolle und fühlen Bewohner mehr Verantwortung, wenn ihre Wohnumgebung durch Sanierungsarbeiten eine Aufwertung erfährt? Ändert sich womöglich die Zusammensetzung der Bewohnerschaft in bestimmten Arealen, weil man gern dort lebt und es weniger Fluktuation gibt?

Um fundierte Aussagen zu treffen, setzt das Projekt auf zwei Säulen, erklärt Tim Lukas: "In den einzelnen Ländern bitten wir Bewohnerinnen und Bewohner in ausgesuchten Großwohnsiedlungen per Fragebogen um ihre Einstellungen zu Kriminalität und Unsicherheitsgefühlen. Außerdem interviewen wir Experten von Polizei und Wohnungsbaugesellschaften. In einer Art Forschungs-karussell reisen die Teams aus den einzelnen Ländern in die Untersuchungsgebiete der Partner und verfassen Expertisen zu positiven und negativen Maßnahmen." Da in den Forschergruppen Architekten, Stadtsoziologen und Landschaftsplaner mitarbeiten, berücksichtigen sie dabei unterschiedliche Blickwinkel.


Auch Gelegenheit macht Diebe

Lange Zeit, so Tim Lukas, sei der Einfluss städtebaulicher Aspekte auf die Kriminalitätsentwicklung vernachlässigt worden. Dabei könnten sie sowohl Kriminalität begünstigen als auch verhindern. Stattdessen habe Prävention ausschließlich versucht, auf Einstellungen und das Umfeld potenzieller Straftäter einzuwirken - soziale Maßnahmen gingen stets vor. "Sie haben natürlich ihre Berechtigung", sagt Lukas. Doch mittlerweile könne man von einer Renaissance des Raums sprechen. Die Ansicht, dass die Motivation von Straftätern nicht allein von deren persönlichen Eigenschaften abhängt, sondern auch situationsbezogen ist, hat sich durchgesetzt: Gelegenheit macht eben Diebe.

Modernisierungsprogramme der Wohnungsbaugesellschaften haben diese Einsicht seit den 1990er-Jahren gefördert. Diese waren nötig, weil Großwohnsiedlungen ab Mitte der 1980er-Jahre fast überall unter Leerstand litten und für Haushalte mit höherem Einkommen unattraktiv waren. Vor allem an der Peripherie großer Ballungsräume waren in den 1960er- und 1970er-Jahren Hochhauskomplexe für die Millionen Wohnungssuchenden der Nachkriegsjahrzehnte gebaut worden. Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und eine hohe Geburtenrate hatten die Lage verschärft; nur die im Krieg zerstörten Häuser wiederaufzubauen, reichte nicht.

"Damals galten die Siedlungen als Errungenschaften der Moderne", sagt Lukas. "Doch ein paar Jahrzehnte später bröckelte der Lack." Die städtische Gesellschaft spaltete sich sozial immer mehr auf, Aggressionsdelikte und Vandalismus nahmen zu. Der große Anteil von Jugendlichen, Migranten und Menschen ohne Arbeit brachten eine hohe Fluktuation mit sich. Diese wiederum begünstigte Anonymität und Kommunikationszerfall. Die Bewohner identifizierten sich immer weniger mit ihrer Wohnumwelt. Unordnung und Verwahrlosung machten sich breit, nicht zuletzt weil die soziale Kontrolle fehlte.

In den Großwohnsiedlungen war es mit ein paar Reparaturen an kaputten Heizungen nun nicht mehr getan. Nicht nur die Wohnungsunternehmen, auch Bund und Länder wurden aktiv: Der 1995 vorgelegte Großsiedlungsbericht der Bundesregierung legte den Finger in die Wunden der damals etwa 240 Großsiedlungen mit rund 1,6 Millionen Wohnungen - rund fünf Prozent des gesamten Wohnungsbestands der Bundesrepublik.

Seit 1999 nehmen Städtebauförderprogramme wie "Die soziale Stadt" Stadtteile in den Blick, die einen "besonderen sozialen Entwicklungsbedarf" haben. Die Programme verfolgen einen integrativen Ansatz: Sie wollen die physischen Wohn- und Lebensbedingungen sowie die wirtschaftliche Basis in den Stadtteilen verbessern. Aber auch deren Image erhöhen, damit die Bewohner sich wieder stärker mit ihrem Quartier identifizieren. Gleichzeitig zielen sie darauf, die Lebenschancen der Menschen durch Bildungsangebote zu steigern.

Tim Lukas hat mit seiner Studie untersucht, ob die Programme den Bewohnern ein größeres Sicherheitsgefühl geben - und zwar im Vergleich zwischen einer Hochhaussiedlung, die vor dem Fall der Mauer im Osten entstanden ist, und einer, die im Westen hochgezogen wurde. Ein Unterschied zwischen Großsiedlungen der beiden Systeme ist offenkundig: Während in den alten Bundesländern nur 1,7 Prozent der Bevölkerung darin leben, wohnt in den neuen Bundesländern und Ostberlin fast jeder Vierte so.

Um mehr zu erfahren, lag Berlin als Forschungsort nahe: In Marzahn Nord und der Gropiusstadt grenzte er zwei Untersuchungsgebiete ab, die 2005 jeweils rund 17.000 Bewohner hatten. Jeweils knapp über 500 Frauen und Männer über 18 Jahre beteiligten sich in Marzahn Nord und der Gropiusstadt an der Umfrage. Gemäß dem Bevölkerungsanteil nahmen in der Gropiusstadt dreimal mehr Menschen über 65 Jahre und doppelt so viele Menschen zwischen 56 und 65 Jahren an der Umfrage teil als in Marzahn Nord, wo dafür dreimal so viele 18-bis 25-jährige Personen mit von der Partie waren.

In Marzahn Nord war die Einwohnerzahl zwischen den Jahren 2000 und 2005 um 3000 Menschen gesunken. Langsam steigt sie wieder, nicht zuletzt weil das große Bündel an Verbesserungsmaßnahmen greift. Zwar sei es sinnvoll, diese jeweils auf den Einzelfall zuzuschneiden, sagt Lukas: "Aber grundsätzlich geben die Leitlinien des niedersächsischen Innenministeriums eine gute Richtung vor." Darin sind städtebauliche, gestalterische und baulich-technische Veränderungen in kritischen Bereichen in Wohnungen, Gebäuden und im Wohnquartier vorgesehen. Ein Sozialmanagement des Wohnungsunternehmens soll Bürgerverantwortung und gute Nachbarschaft stärken. Hilfreich ist ferner, wenn Wohnungsgesellschaften mit der lokalen Polizei, mit Stellen und Einrichtungen der Kommunalverwaltung, der örtlichen Sozial- und Jugendhilfe sowie dem Kriminalpräventionsrat zusammenarbeiten. Schließlich sollen gezielte Freizeitangebote Bewohnergruppen integrieren, die Probleme verursachen.


Stadtplaner spielen Lego

Von jedem etwas hat man in Marzahn Nord verwirklicht und so gerät ein Rundgang für hochhausfremde Berlinbesucher zu einer eindrucksvollen Lehrstunde in Sachen Stadtentwicklung - präventive Beklommenheit verschwindet schnell. Sonnenstrahlen tauchen die vielen bunt bemalten Wohnhäuser gerade in klares Licht und es geht einem angesichts der Ahrensfelder Terrassen wie den ausländischen Forscherteams: Alle loben den Rückbau der Ostberliner Plattenbauten, wobei nach britischem Vorbild elfstöckige Wohnblöcke einfach um etliche Stockwerke gekappt wurden. "Ein bisschen wie Lego", bemerkte ein Team. Auf diese Weise entstanden attraktive neue Gebäudeformen - Metamorphosen in Marzahn.

Doch nicht nur das: Die abgenommenen Plattenbauteile wurden verkauft und wiederverwendet, in St. Petersburg fand man dankbare Abnehmer. Eine kleinteiligere Gebäudestruktur oberhalb einer Ladenzeile, besser gesicherte Eingänge, von Anwohnern liebevoll gepflegte Blumenbeete und einige schöne Spielplätze vermitteln den Eindruck einer durchdachten Planung. "Die profitiert aber auch von einem sozialistischen Vermächtnis", sagt Tim Lukas: Schon zu DDR-Zeiten waren die Bewohner am Management der Wohnanlagen beteiligt.

Die Blockwarte von früher seien heute gewählte und allgemein akzeptierte Vertreter der Mieter. Die Bürger aus Marzahn Nord werden schon in die Planung involviert und helfen Serviceeinrichtungen am Laufen zu halten. Das stärkt den sozialen Zusammenhalt. Die Forscherteams aus den Partnerländern hoben zudem Concierge-Logen in einzelnen Wohnhäusern hervor. Als eine Art multifunktioneller Hausmeister fungieren diese als Kontaktpersonen, bilden einen zentralen Punkt sozialen Lebens im ansonsten anonymen Umfeld und beugen möglichen Beschädigungen vor.

Ansprechpartner sind außerdem die Mitarbeiter vom Quartiersmanagement, die in einem Ladenlokal des örtlichen Einkaufszentrums sitzen. Darüber hinaus stärken Antiaggressionstrainings für Kinder und Jugendliche und Hilfsangebote für Arbeitssuchende die Bindungen der Marzahner an ihr Viertel. Dass der Plan aufgeht und bei den Bewohnern sogar Stolz weckt, zeigt sich an einem Stromkasten: "Das Shirt für die Hood" wirbt ein kleiner Aufkleber dafür, seine Zugehörigkeit zu Marzahn auf der Brust zu tragen.

Szenenwechsel. Gropiusstadt am Vormittag - wer damit das abschreckende Umfeld von Christiane F. aus den späten 1970er-Jahren verbindet, ist erstaunt, wie viel Grün sich durch die sehr verstreut liegenden Hochhäuser schlängelt. Dazwischen großflächige, eingezäunte Abenteuerspielplätze. Sie sind jetzt noch verwaist, es fällt aber nicht schwer, sich vorzustellen, wie dort in ein paar Stunden das Leben wuseln wird: kleine Dramen im Kampf um die Sandschaufel und Elterntratsch inklusive.


Sich einigeln ist keine Lösung

Nie wäre man auf die Idee gekommen, zwischen den massiven Hochhäusern auch Einfamilienhäuser zu suchen - doch Gropius wollte eine abwechslungsreiche Wohnlandschaft mit Freizeitmöglichkeiten schaffen. Nur: Es fehlt an Beleuchtung, wuchernde Büsche verstellen Sichtachsen und an U-Bahnhöfen lungern Jugendliche herum - einige Gründe, warum es in Gropiusstadt Sicherheitsprobleme gibt. Die Walter-Gropius-Schule wusste sich nicht anders zu helfen als einen hohen Stacheldrahtzaun um ihr Gelände zu ziehen - eine fatale Idee: Der Zaun schafft beinahe Gefängnis-Atmosphäre, die im Kontrast zur modernen und sehenswerten Architektur der Schule steht.

Wie einfach es ist, sich Einlass zu verschaffen, zeigt sich beim höchsten Berliner Wohnhaus: Als der Türsummer die Haustür zufällig für einen Sanitäter freigibt, schlüpft Tim Lukas kurzerhand mit hinein. Mit dem Fahrstuhl geht es in den 30. Stock, wo sich vom Hausflur der Blick auf halb Berlin öffnet - ohne Glasscheibe. Bewundern auch die Menschen, die hier wohnen, noch diese grandiose Aussicht? Vor allem das polnische Forscherteam war hin- und hergerissen von den Vor- und Nachteilen in der Gropiusstadt: "Beeindruckend, sogar irgendwie interessant", so ihre Bewertung nach dem Besuch. "Aber im Grunde ist die Anlage ein richtiges Monster."

Ein harsches Urteil, das man nicht teilen muss. Aber auch Lukas' Befragung der dortigen Bewohner ergibt ein zerrissenes, bisweilen wenig schmeichelhaftes Bild. Sie gaben an, ob sie ihr Wohnumfeld angenehm, sicher, ruhig, attraktiv und sauber finden und wie sie diese Punkte für den Zeitpunkt vor fünf Jahren einschätzen. Dabei wurde deutlich, dass die Gropiusstädter meinen, in jeder Hinsicht vor fünf Jahren zufriedener gewesen zu sein. Am meisten nahm das Gefühl der Unsicherheit zu - nur 24 Prozent von den etwa 500 Befragten fühlen sich heute sicher; rund 60 Prozent glauben, sich im Jahr 2000 sicher gefühlt zu haben. Heute würde die Hälfte der Gropiusstädter wegziehen, wenn sie könnte.

In Marzahn Nord stellt sich die Lage ganz anders dar: So empfinden zwar etliche Menschen ihre Umgebung heute als weniger sicher und ruhig, doch sind nach wie vor rund 65 Prozent der Männer und Frauen der Meinung, ihr Ortsteil sei angenehm, und rund 75 Prozent finden ihn sogar attraktiv. Die Mehrheit der Marzahner bewertet die Verbesserungsmaßnahmen offenbar als Erfolg. Für den Zeitpunkt vor fünf Jahren beurteilen nur 41 Prozent der Mieterinnen und Mieter die Gegend als attraktiv. Dennoch würden 38 Prozent der Befragten in Marzahn Nord wegziehen, wenn sie könnten.


Das Gefühl der Unsicherheit wächst

Das konkrete Fragenbündel zum Thema Sicherheitsempfinden brachte ähnliche Ergebnisse: Egal ob in der Wohnung, im öffentlichen Raum rund um die Häuserblocks, in den nahe liegenden Straßen oder den öffentlichen Verkehrsmitteln; egal ob tagsüber oder nachts - die Bewohner beider Areale fühlten sich 2005 nicht mehr so sicher wie 2000. Vor allem in der Gropiusstadt: Allein 85,7 Prozent der Befragten fahren nachts ungern mit öffentlichen Verkehrsmitteln. In Marzahn Nord sind die Einwohner insgesamt weniger ängstlich. Für Tim Lukas heißt das aber noch lange nicht, dass Ostdeutsche mutiger sind. Er sieht den Grund vielmehr in dem hohen Anteil älterer Menschen, die in der Gropiusstadt leben. Sie seien grundsätzlich ängstlicher als jüngere Menschen.

Dennoch: Das Problembewusstsein der Menschen in den zwei Hochhaussiedlungen ist gar nicht so verschieden. 21 beziehungsweise 16,4 Prozent meinen, es gebe viele Probleme im Viertel, 65 bzw. 61,9 Prozent meinen, es seien mittelmäßig viele. Vor allem Gruppen von herumlungernden Jugendlichen, Betrunkene, Abfall und Dreck in Straßen und Parks sowie zu viel Lärm stören.


Kriminalität auf dem Rückzug

Die zunehmenden Gefühle der Unsicherheit stehen zumindest teilweise im Widerspruch zur Kriminalitätsrate in den zwei Untersuchungsgebieten. So gibt es im Jahr 2000 in Marzahn Nord pro 1000 Einwohner 132 Straftaten und in der Gropiusstadt 125. In den folgenden zwei Jahren steigt die Zahl: auf 182,5 im westlichen Untersuchungsareal und auf 173,4 im östlichen. In der Gropiusstadt, wo sich die Bewohner wesentlich unsicherer fühlen, sinkt die Zahl der Straftaten pro 1000 Einwohner im Jahr 2004 auf 116,3 und damit unter den Ausgangswert des Jahres 2000. In Marzahn Nord nimmt sie bis 2004 nur bis auf 164 ab. Trotzdem fühlen sich die Marzahner in ihrem Umfeld wohler - vielleicht weil die Isolation einzelner Menschen weniger groß ist als im viel heterogeneren Gropiusstadtgebiet. Ganz abgesehen davon, dass der weit verbreitete illegale Zigarettenverkauf in Marzahn gar nicht als kriminell wahrgenommen zu werden scheint: So endet der abendliche Supermarkteinkauf auf offener Straße, wo die Stangen ungeniert, aber flott den Besitzer wechseln.

Interessant ist der europäische Vergleich mit Hochhaussiedlungen in Krakau und Budapest - die Befragung in Bristol musste mangels Rücklauf außen vor bleiben. Der zeigt, was die höhere Zufriedenheit in Marzahn schon andeutet: In beiden Ländern Osteuropas fühlen die Bewohner der dort untersuchten Hochhaussiedlungen eine größere Bindung an ihre Wohnumgebung. Auf einer Skala von eins bis vier - wobei die eins die stärkste Bindung bedeutet - liegt der Bindungswert in der Gropiusstadt bei 2,7, in Marzahn bei 2,46, in Budapest bei 2,33 und in Krakau bei 1,99.

Eine klare Ost-West-Teilung lässt sich bei der Furcht vor Kriminalität erkennen: Sie ist auf einer vierteiligen Skala in der Gropiusstadt mit 2,31 am größten, liegt in Marzahn Nord bei zwei, aber in Krakau nur bei 1,67 und Budapest bei 1,66. Die Kontakte zur Nachbarschaft sind in den vier Gebieten dagegen ungefähr gleich gut oder schlecht, obwohl die Gemeinschaft der Bewohner in den osteuropäischen Ländern homogener zusammengesetzt ist und einen höheren sozialen Status hat. Das bedeutet: Die Beziehungen zu den Nachbarn beeinflussen die Angst viel weniger als die Heimatgefühle für das Quartier. Umgekehrt fühlt jemand sich weniger wohl in seiner Umgebung, je ängstlicher er ist.

"Daran ändert sich übrigens auch nichts, wenn die Menschen schon viele Jahre in den Hochhaussiedlungen leben", so Tim Lukas. "In der Literatur wird immer davon ausgegangen, dass die Nachbarschaftskontakte besser und die Bindung ans Viertel höher werden, je länger man dort wohnt. Das haben wir in unserer Befragung nicht verifizieren können", berichtet der Soziologe. Anonymität sei heutzutage in vielen Städten normal und nehme mit jedem zusätzlichen Stockwerk eines Hochhauses zu. "Aber das muss noch lange nicht heißen, dass man niemanden in seinem Haus kennt", so Lukas. Und in den kleineren Mietshäusern der Innenstädte seien die nachbarschaftlichen Aktivitäten auch nicht lebendiger.

Wie man mit den Angstgefühlen von Menschen umgeht, obwohl die Kriminalitätsraten keine ausgesprochen überproportionale Bedrohungslage widerspiegeln - das ist eine immer noch ungelöste Frage. Selbst die befragten Experten von Polizei, Nachbarschaftsmanagement und Wohnungsbaugesellschaft gaben zu, ratlos zu sein. Man könne den Menschen ja nicht einfach sagen, dass ihre Angst völlig unbegründet sei. Dabei sei die Gropiusstadt nicht Sodom und Gomorrha, das stimme einfach nicht, zitiert das Befragungsprotokoll den Polizeipräventionsbeauftragten Hardy Telge.

Das Gefühl der Unsicherheit sei zum großen Teil selbst verursacht. Weil niemand seine Wohnung nach Einbruch der Dunkelheit verlasse, seien die Straßen menschenleer und werden dadurch tatsächlich gefährlicher. Der latenten Angst könne man letztlich nur durch massive Polizeipräsenz Herr werden.


Die Wohnform ist nicht das Problem

Dennoch sind sich alle einig, dass die intensiven baulichen Maßnahmen in und an den Gebäuden sowie in deren Umgebung die Situation verbessert haben. Auch sie haben dazu beigetragen, die Abwanderung aus Marzahn Nord zu stoppen und die Kriminalität in der Gropiusstadt einzudämmen. Kritisch sehen die Wissenschaftler ebenso wie die Experten lediglich die Videoüberwachung: Die Menschen hätten nun noch weniger Anlass, sich im positiven Sinne einzumischen, weil die Kameras das Gefühl vermittelten, alles werde gesehen und geahndet. Eine gewisse soziale Kontrolle, wie sie das Conciergemodell mit sich bringe, sei viel effektiver.

Obwohl Tim Lukas verhalten optimistisch ist, macht er sich keine Illusionen: "Die vielen Verbesserungen in Marzahn Nord und der Gropiusstadt sind alle sinnvoll und gut", sagt er. Auch das Programm "Soziale Stadt" begrüßt er. Das könne aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass man letztlich an Symptomen herumdoktere: "Die sozialen Probleme stehen im Mittelpunkt", sagt er. Und auch wenn die Straftaten abnähmen, sei nicht ausgemacht, ob manche Delikte nicht einfach in andere Areale verlagert werden. "Es kann sogar die Citybereiche treffen. Die Wohnform allein ist nicht das Problem."


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Marzahn: Gekappte Hochhäuser

Die Hochhäuser in Marzahn Nord sind Teil des größeren Bezirks Marzahn-Hellersdorf im Osten Berlins. 70 Prozent der rund 250.400 hier lebenden Berliner sind in Plattenbauten zu Hause, die zwischen 1977 und 1989 entstanden. "Uninspiriert und monoton", nennt Tim Lukas das Areal Marzahn, obwohl die einst von Le Corbusier postulierten vertikalen Gartenstädte insgeheim als Vorbild dienten.

Marzahn Nord mit seinen vorherrschenden sechs- bis elfstöckigen Plattenbaublöcken wurde zwischen 1984 und 1989 errichtet. Im Untersuchungsgebiet (rund 17.500 Einwohner) leben heute erstaunlich viele junge Leute - nur 20 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner sind über 55 Jahre alt; die größte Altersgruppe mit 32,2 Prozent ist die der 27- bis 45-Jährigen. 5,5 Prozent der Menschen in Marzahn Nord sind Migranten, die zum Großteil aus Polen, Russland oder Vietnam kommen. Dieser Anteil ist im Vergleich zum Gesamtberliner Durchschnitt von 13,7 Prozent deswegen so gering, weil die als Russlanddeutsche bezeichneten Spätaussiedler oftmals die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Mit 15,2 Prozent ist die Quote derer, die Sozialhilfe bekommen, in Marzahn Nord gegenüber dem Berliner Durchschnitt von acht Prozent erheblich höher.

Als eines der ersten Gebiete Berlins, die von Renovierungsprogrammen für ostdeutsche Großwohnsiedlungen profitierten, ist Marzahn Nord heute nahezu komplett saniert: Die technische Infrastruktur der Gebäude hat sich deutlich verbessert. Balkone und Aufzüge gehören nun zum Standard. Besonders stolz ist man in Marzahn Nord auf das Pilotprojekt Ahrensfelder Terrassen: Durch das Abtragen von bis zu sieben Stockwerken entstanden kleinere Wohneinheiten, die zudem noch individuell verändert wurden. Warme Farbtöne der Fassaden verleihen den Bauten nun ein buntes Flair, das sie deutlich aus der Umgebung heraushebt. Aber auch die höheren Häuser wurden teilweise bunt bemalt.


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Die Visionen des Walter Gropius

Die Gropiusstadt ist 1975 fertig gestellt worden und Teil des Bezirks Neukölln im Südosten Berlins. Neukölln blickt auf eine lange Tradition als Wohnort von Arbeitern zurück: In den 1860er-Jahren wurden hier die ersten Berliner Mietskasernen gebaut, um den während der Industrialisierung in die Stadt strebenden Scharen von Arbeitern preiswerte Unterkünfte zu bieten. Deren Lebensbedingungen und das schlechte Image der Gegend zu verbessern waren rund 100 Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg, die Ziele zweier großer Wohnungsbauprojekte: Während im Norden Neuköllns die Mietskasernen Genossenschaftswohnungen wichen, wurde im südlichen Teil die Gropiusstadt errichtet.

Pläne für die Gropiusstadt gab es schon in den 1950er-Jahren. Getreu der 1933 auf einem Kongress für moderne Architektur verabschiedeten Charta von Athen sollte auch in die dicht bebauten Gründerzeitviertel Licht, Luft und Sonne einziehen. Für die Bewohner der dabei abzureißenden Hinter- und Seitenhäuser musste aber neuer Wohnraum geschaffen werden - der Bauhaus-Architekt Walter Gropius betreute ab 1962 mit seinem Büro die Planung. Er wollte die "mannigfaltigen Elemente des herkömmlichen Stadtlebens" mit den damals modernen Methoden des Städtebaus verbinden. Die Konzeption sah kreisrunde Baukörper mit dazwischenliegenden, überschaubaren Wohnvierteln und Einfamilienhaussiedlungen vor, in denen mehrere zentrale Geschäftszentren und Grünflächen zur Auflockerung eingebettet waren. Die Verlängerung der U-Bahn sollte für gute Anbindung sorgen.

Der Mauerbau änderte die Lage: Konnte man nun nicht mehr nach außen expandieren, musste das Bauvorhaben verdichtet werden. Weil deswegen aber mehr Infrastruktureinrichtungen nötig waren, die wiederum Platz einnahmen, wuchsen die geplanten Gebäude in die Höhe: Das mit 30 Etagen höchste Wohnhaus Berlins steht in der Gropiusstadt; der eigenständige Ortsteil hat heute rund 36.000 Einwohner. Im Untersuchungsgebiet stammen 16,4 Prozent der Bewohner nicht aus Deutschland - das ist etwas mehr als im Berliner Durchschnitt, der bei 13,7 Prozent liegt. Rund die Hälfte der Migranten hat einen türkischen Hintergrund. Viele Gropiusstädter leben schon sehr lange in ihrem Kiez, sind hier alt geworden; gut 35 Prozent der Menschen im Untersuchungsgebiet sind älter als 55 Jahre - das Durchschnittsalter liegt bei 42,5 Jahren. Wie hoch die Quote derer ist, die ohne Arbeit sind oder Sozialhilfe bekommen, lässt sich für das Untersuchungsgebiet nicht exakt sagen, weil Daten nur für größere Gebiete vorliegen. Allerdings rangiert der Bezirk Neukölln beim Sozialindex, der zwölf Berliner Bezirke hinsichtlich 25 verschiedener Indikatoren wie Einkommen, Haushaltsstruktur und Gesundheitsversorgung bewertet, auf Rang zehn; der Bezirk Marzahn-Hellersdorf landet auf Platz fünf.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

> Eindrucksvoll und beklemmend zugleich: Hochhausareal der Berliner Gropiusstadt.

> Vorher: Eine Lichtinstallation markiert, wie's werden soll.

> Vorteil Plattenbau: Die Einzelteile sind wiederverwendbar.

> Nachher: Gekappte Hochhäuser lockern die Gebäudekonturen auf.

> Freiräume: Jugendliche in Marzahn trainieren Tricks auf dem Skateboard.

> Man ist stolz auf seinen Kiez: Jungunternehmer vertreiben T-Shirts,
   die Ostplattenbauten zieren.

> Raum zum Austoben: Der Spielplatz in der Gropiusstadt harrt der
   nachmittäglichen Kinderscharen.

> Bekenntnis zu Kindern, die Spaß machen und haben: In der Gropiusstadt
   von morgen sollten nicht nur ältere Menschen leben.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft 1/2007, S. 26-33
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Redaktionsanschrift: Hofgartenstraße 8, 80539 München,
Tel.: 089/2108-1562, Fax: 089/2108-1405
E-Mail: mpf@gv.mpg.de
Das Heft als PDF: www.magazin-dt.mpg.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2007