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GESELLSCHAFT/223: Pinar Selek mit ihrem neuen Buch über Männer (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 113, 3/10

"... weil ich Feministin bin!"
Pinar Selek mit ihrem neuen Buch über Männer

Von Katharina Menschick


Die türkische Soziologin und Aktivistin Pinar Selek(1), die sich in ihrem neuesten Buch "Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt" mit den Auswirkungen des Militärdienstes auf die Identitätsbildung türkischer Männer beschäftigt, ist der Überzeugung, "dass wir, um die Codes des Patriarchalismus zu lösen, die Entstehung von Männlichkeit betrachten müssen." Die Autorin sprach mit der Feministin über ihre Forschungsarbeit, die keineswegs ein auf Männer oder die Türkei beschränktes Vorhaben ist, sondern vielmehr der Versuch, die Ursache struktureller und physischer Gewalt in patriarchal organisierten Gesellschaften zu ergründen.


Auf die Frage, warum sie denn ein Buch über - ausgerechnet und beinahe ausschließlich - Männer geschrieben habe, antwortet Pinar Selek amüsiert und zugleich stolz: "Weil ich Feministin bin!". Für das Buch haben Pinar Selek und ihr Team Interviews mit 58 Männern geführt, die den in der Türkei obligatorischen Militärdienst bereits absolviert haben und aus sozial und politisch verschiedenen Kontexten stammen.


Persönliche Erzählungen als wesentliche Quelle

Obwohl das Militär eine Institution ist, die jeden türkischen Mann mindestens einmal in seinem Leben direkt betrifft, bestand die Mehrzahl der Interviewten darauf, anonym zu bleiben. Das Besondere an dem Buch "Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt" ist, dass den Erzählungen der Befragten viele Buchseiten an Zeit und Raum zugestanden werden. Die ehemaligen Soldaten berichten von Einsamkeit und Einschüchterung, von Angst und Aggression, von Sorgen und Späßen, von Freunden und Feinden. Sie alle erzählen ihre persönliche Geschichte, und dennoch scheinen die einen oft zu wiederholen, was andere bereits gesagt haben. Pinar Selek gelingt es, analytisch und erklärend einzugreifen, ohne die persönliche und authentische Atmosphäre der Berichte zu zerstören. Der Militärdienst zeigt sich als eine kollektive Erfahrung, die zwar nicht auf alle Männer dieselben Auswirkungen hat, sie aber dennoch - meist lebenslänglich - prägt und ihre männliche Identität verstärkt. Fast alle der Befragten finden, dass ihre Zeit als Soldaten sie "reifer", "verantwortungsvoller", "ehrgeiziger" und vor allem "vernünftiger" gemacht hat - Eigenschaften, die in patriarchalen Gesellschaften von "echten Männern" verlangt und eingefordert werden.


Die verschiedenen Stufen der Männlichkeitsentwicklung

Das Umschlagbild des Buches zeigt einen besonders schön ge- und als Sultan verkleideten Buben am Schoß einer Frau - vermutlich seiner Großmutter - der mit beträntem Blick ängstlich nach oben schaut, vermutlich in die Augen seines Beschneiders. Er steht also kurz vor dem ersten Schritt in die Richtung des für ihn vorgesehenen Ziels: der Mannwerdung. Pinar Selek nennt als wesentliche Etappen auf dem Weg zur Männlichkeit in der Türkei die Beschneidung, den Militärdienst, den Einstieg ins Berufsleben, die Ehe und schließlich die Vaterschaft. Alle diese Etappen können als Erlernen patriarchaler Gewalt verstanden werden, die sich schließlich in der Vaterschaft bündeln. Denn "mit der Vaterschaft gehen verschiedenste Rollen einher: Eine Frau zu haben, Autorität über seine Kinder auszuüben und sie zu erziehen, zu arbeiten, Geld zu verdienen (...)", so Pinar Selek (2010:23f.).

Der Militärdienst spielt im Laufe der Männlichkeitsentwicklung insofern eine besondere Rolle, als er staatlich gesteuert und kontrolliert wird. "Die Männer erkennen die Macht des Staates und in Folge dessen ihre eigenen Grenzen. Indem sie eine Staatsausbildung erhalten, kehren sie 'verstaatlicht' zu ihren Familien zurück" (2010:34). Diese "Verstaatlichung", die in ihrer Folge also in die Familien weitergetragen wird, findet in der Kaserne statt; einem Raum, der Männern vorbehalten ist. Pinar Selek, die ihr Buch mit "Sürüne sürüne erkek olmak", wörtlich übersetzt "Kriechend zum Mann werden", treffend betitelt, zeigt deutlich, dass der Wehrdienst von einer allumspannenden hierarchischen Struktur durchzogen ist. Die Soldaten lernen, sowohl einer höhergestellten Autorität zu gehorchen als auch die ihnen zugestandene Macht auszuüben. Das wichtigste Lehrmittel zu diesem Zweck: psychische und oftmals auch physische Gewalt.


Ein Buch mit Auswirkungen

Pinar Seleks Arbeit hat in der Türkei zahlreiche Reaktionen hervorgerufen und bereits Wirkung gezeigt. Zum einen fand die Thematik Eingang in verschiedenste soziale Diskurse, und zum anderen hat sich rund um den Erscheinungszeitpunkt des Buches in der Türkei erstmals eine Gruppe von Männern gegründet, die sich kritisch mit ihrer gesellschaftlichen Rolle auseinandersetzt und Kritik am Militarismus übt. Sie nennt sich übersetzt "Wir sind keine Männer" und steht in engem Verhältnis zur feministischen Bewegung. Pinar Selek hofft, dass in Zukunft mehr und mehr Männer beginnen, ihre eigene sozial konstruierte Geschlechtsidentität zu erkennen, zu analysieren und schließlich auch zu hinterfragen. Denn das Ziel der Autorin ist - wie bei all ihren Arbeiten - die Veränderung der vorherrschenden Verhältnisse. Hin zur Gleichheit und hin zum Frieden.

In diesem Sinne verlässt Pinar Selek Wien nicht ohne Wunsch und Handlungsauftrag. Die Frage, welche Parallelen sie, die derzeit in Deutschland im Exil lebt und arbeitet, zwischen den Männlichkeitskonstruktionen in der Türkei und ihrem derzeitigen Wohnort feststellen kann, beantwortet sie auffordernd und mit ermutigendem Blick: "Diese Frage sollte ich eigentlich euch stellen!" Sie hofft, dass sich auch im deutschsprachigen Raum eine Diskussion über Männlichkeiten und ihre Rolle in der Gesellschaft (weiter) entwickeln kann und wird.


Anmerkung:
(1) Pinar Selek wurde 1971 in Istanbul geboren und ist als Soziologin, Autorin und Aktivistin in der türkischen Zivilgesellschaft tätig gegen Gewalt gegen Frauen, Prostituierte und Transsexuelle. Sie ist Mitbegründerin der feministischen Zeitschrift und gleichnamigen Initiative Amargi. Derzeit lebt sie im politischen Exil in Deutschland. Im Mai d. J. präsentierte sie auf Einladung des Wiener Instituts für internationalen Dialog und Zusammenarbeit (VIDC) ihr neues Buch in Wien.

Literatur:
Pinar Selek: "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten". (Berlin: 2010)

Webtipps: Pinar Selek:
www.pinarselek.com
P.E.N. Online-Unterschriftenaktion zur Forderung der
sofortigen Einstellung des Verfahrens gegen Pinar Selek:
www.ps-signup.de
Amargi:
www.amargi.org.tr
Wiener Institut für internationalen Dialog und Zusammenarbeit:
www.vidc.org

Zur Autorin:
Katharina Menschick lebt, arbeitet, studiert Politikwissenschaft und internationale Entwicklung und wundert sich in Wien.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 113, 3/2010, S. 28-29
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2010