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GESELLSCHAFT/274: Deutschsein und Anderssein - Plädoyer für die Akzeptanz der Mehrfachzugehörigkeiten (spw)


spw - Ausgabe 1/2014 - Heft 200
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Deutschsein und Anderssein - Ein Plädoyer für die Akzeptanz der Mehrfachzugehörigkeiten

Von Shazia Saleem



Jeder fünfte Mensch in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Mehr als die Hälfte von ihnen ist inzwischen deutscher Staatsbürger (vgl. Foroutan 2012: 23 ff.). Dennoch reißen die Diskussionen um die Identität und Zugehörigkeit von Personen mit Zuwanderungsgeschichte nicht ab. Neue Begriffe zur Bezeichnung dieser Gruppe befeuern unterdessen die öffentlichen Diskurse, weil der Ausdruck Migrant oder Mensch mit Migrationshintergrund eben nicht mehr ganz die Situation beschreibt. Ein Drittel der sogenannten Menschen mit Migrationshintergrund ist in Deutschland geboren und hat die Zuwanderung gar nicht selbst aktiv durchlebt. Die Migration ist nur ein Teil ihrer biografischen Familienerzählung. Sind diese Menschen nun "Hybride", "Postmigranten" oder "Neue Deutsche" (Foroutan 2010)? Oder doch schlicht deutsche Staatsbürger mit vielfältigen kulturellen und religiösen (Mehrfach) Zugehörigkeiten? Bei diesem Wirrwarr an Ausdrücken stellt sich die Frage, warum eine eigenständige Kennzeichnung dieser Gruppe notwendig wird?


Deutschsein neu verhandeln

Erstmals wird der Begriff Menschen mit Migrationshintergrund beim Mikrozensus 2005 verwendet, um jene Personen zu erfassen, die zwar eine andere Herkunftskultur haben aber formal-rechtlich gesehen Deutsche sind. Diesen Personenkreis hatte es vorher in dieser Form nicht gegeben. Erst mit der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts im Jahre 2000 (Paragraph 4 StAG; Paragraph 29 StAG) ließen sich immer mehr hierzulande lebende Ausländer einbürgern und fielen aus der Kategorie der Gastarbeiter bzw. Ausländer heraus. Der neue Terminus Menschen mit Migrationshintergrund sollte autochthone, ethnisch Deutsche und deutsche Bürger mit Zuwanderungsgeschichte voneinander unterscheidbar machen (vgl. Foroutan 2/2010:6). Zunächst als eine wertneutrale, analytische Einheit erdacht, hat die Bezeichnung inzwischen ihr Erklärungspotential eingebüßt. Sie wird zunehmend als unzureichend und pauschalisierend für eine sehr heterogene Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund kritisiert (vgl. Belwe 2009: 2). Unter diese Kategorie fallen sowohl Personen, die selbst migriert sind, als auch jene, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, hier geboren und aufgewachsen sind, nur einen Elternteil aus einem anderen Herkunftsland haben, deutsche Staatsbürger sind oder ausländische nationale Zugehörigkeit besitzen. Der Begriff differenziert zudem nicht nach ethnisch-kultureller und religiöser Zugehörigkeit innerhalb der Gruppen. Im Gegenteil, die Terminologie suggeriert, die Menschen mit Migrationshintergrund seien eine homogene Einheit. Wippermann und Flaig bemängeln, die Bezeichnung sei eine "Container-Kategorie" (2009:4), die wie ein Stempel alle nicht-ethnischen Deutsche kennzeichnet und bezüglich ihrer Zugehörigkeit zur Gesellschaft als defizitär markiert. Die negative Konnotation und Wertung erhält der Ausdruck, weil die deutsche nationale Identität immer noch ethnozentrisch verstanden wird. Trotz formal-rechtlicher Gleichstellung wird auf diese Weise eine Trennung vollzogen zwischen Einheimischen und Fremden, wobei beide Gruppen zum einen in Abgrenzung zueinander als ungleich und zum anderen in sich als homogene Gebilde vorgestellt werden. Als Resultat tragen die kulturell Anderen ihren Migrationshintergrund vor sich her, ohne eine Chance, unabhängig von dieser Kategorie wahrgenommen zu werden (vgl. ebd.: 4-6). Wissenschaftler wie Naika Foroutan fordern daher bereits seit Jahren, das Deutschsein neu zu verhandeln, weil Deutschland als Einwanderungsland einer neuen und weitergefassten Definition der nationalen Identität bedarf (vgl. Foroutan 2010: 9 ff.).


Neue Deutsche: ein weiteres Instrument zur Ausgrenzung

Als ersten Schritt zur Öffnung der deutschen nationalen Identität schlägt Foroutan vor, die Personen mit Zuwanderungsgeschichte differenzierter zu betrachten und die Alleinherrschaft und Deutungsmacht des Wortes Menschen mit Migrationshintergrund zu brechen. Sie regt an, neue Bezeichnungen für deutsche Staatsbürger mit anderen Herkunftskulturen einzuführen, die längst integriert sind und bietet den Begriff "Postmigranten" (ebd.: 11) als eine Ersatz-Vokabel an. Unter Postmigranten versteht sie Personen, die selbst keine eigene Migrationserfahrung haben und qua Geburt und/oder Sozialisation in Deutschland integriert, der deutschen Sprache mächtig sind sowie sich mit dem Land und der Kultur weitestgehend identifizieren. Dieser Personengruppe attestiert Foroutan "ein mehrkulturelles Selbstbewusstsein" (ebd.) mit einem starken Wunsch, die Bindung zu ihrer Herkunftskultur nicht völlig aufgeben zu wollen. Als weiteren Vorschlag greift sie auf den Begriff Hybride von Homi Bhabha aus den Postcolonial und Cultural Studies zurück (vgl. Bhabha 2000). "Träger hybrider Identitäten" (Foroutan/Schäfer 2009: 12) sind Foroutan zufolge Menschen, die sich mehr als einer Kultur zugehörig fühlen, ihre Andersartigkeit im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft als Bereicherung wahrnehmen und ihre mehrfache Zugehörigkeit daher positiv bewerten. Des Weiteren kann sich Foroutan eine Bezeichnungspraxis mit zusammengesetzten Bindestich-Identitäten gut vorstellen. Das könnte die Begriffsproblematik insofern entschärfen, als sowohl Herkunftskultur und deutsche Zugehörigkeit ihren gleichwertigen Platz bekämen (vgl. Foroutan 2010: 12). Schließlich schlägt Foroutan mit "Neue Deutsche" (ebd.) einen Begriff für deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund vor, der den positiven Bezug zu Deutschland hervorheben und zugleich mit dem Attribut "neu" den mehrkulturellen hybriden sowie innovativen synergetischen Charakter beschreiben soll. Der Ausdruck spiegelt nach Foroutan die Lebensrealität vieler Menschen wider, die längst mehrere kulturelle wie religiöse Referenzsysteme vereinen und aus deutschen wie herkunftskulturellen Normen einen eigenen Kanon von Regeln und Werten entwickelt haben. Je nach Kontext beziehen sie sich auf die einen oder anderen und nehmen beide selbstverständlich für sich in Anspruch (vgl. ebd.: 13). All diese Begriffe sind wissenschaftlich und analytisch richtig. Sie versuchen, den Zustand mehrfacher Zugehörigkeit wertneutral zu beschreiben, scheitern jedoch daran und setzen im schlimmsten Fall gesellschaftspolitisch ein kontraproduktives Signal. Ihnen ist das Problem der Differenzmarkierung inhärent, sie fungieren im gesellschaftlichen Diskurs um Deutschsein und um die Zugehörigkeit zur Gesellschaft genau wie die Ausdrücke Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund stigmatisierend. Wie ein negatives Label reduzieren sie Personen mit anderer Herkunft auf die Andersartigkeit ihrer phänotypischen Merkmale, wie Haut- und Haarfarbe oder Namen. So verstetigen sie diediskriminierende Unterscheidung zwischen sogenannten Einheimischen als echte bzw. richtige Deutsche und den zugewanderten unechten Neuen Deutschen. Träger der Bezeichnungen gelten in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin als nicht wirklich der Gesellschaft zugehörig. So arten die Termini zu Instrumenten der Ausgrenzung aus. Foroutan ist sich dieses Dilemmas bewusst und verweist selbst auf die Unzulänglichkeiten der Begriffe. Die Bezeichnung Neu Deutsch löst nicht den Konflikt um die Trennung zwischen "multiethnischen und monoethnischen Bürgern Deutschlands" (Foroutan 2010: ebd.), sondern perpetuiert die ethnozentrische Betrachtung des Deutschseins. Ebenso wirkt der Terminus Postmigrant. Zum einen klingt er genauso sperrig wie Menschen mit Migrationshintergrund, zum anderen zeigt er keine zeitliche Perspektive auf, diesen Status irgendwann überwinden zu können. Bei der Bezeichnung Hybride oder Hybride-Identitäten ergeben sich weitere sprachliche und definitorische Schwierigkeiten. Als Hybridität beschreibt Foroutan einen Zustand des ständigen Aushandelns der eigenen Identität zwischen Selbsterfahrung und Fremdzuschreibung (vgl. Foroutan 2/2010: 6). Nach diesem Verständnis müssten jedoch alle Menschen - egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund - Hybride sein. Denn Identität und Zugehörigkeit sind keine festen Zustände oder Eigenschaften. Sie sind soziale Konstruktionen (vgl. Keupp 2006:95 ff.), die stets in einem gesellschaftlichen Interaktionsprozess zwischen einem Individuum und der es umgebenden Gesellschaft entstehen (vgl. Mead 1968; Giesen 1991). Hybridität erklärt nur dieses dynamische und wandelbare Beziehungsgeflecht zwischen einem Menschen und seiner Außenwelt. Sie erfasst das Bewusstsein über das Austarieren der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Bei Menschen mit Migrationshintergrund tritt zusätzlich zur üblichen Differenz zwischen Selbst- und Fremdbild der Aspekt hinzu, dass sie ihre Identität und Zugehörigkeit in Interaktion mit mehreren kulturellen und religiösen Referenzsystemen aushandeln. Somit erfasst auch dieser Begriff die Realität nicht ganz. Trotz Neuschöpfungen fehlt eine wertneutrale anerkennende Bezeichnung für deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund weiterhin. Das Manko liegt nicht in den Begriffen, die inhaltlich und analytisch nicht wertneutral oder gar unzureichend wären, alle Aspekte der mehrfachen Zugehörigkeiten zu erfassen. Vielmehr liegt es an der Art und Weise, wie Integration, Identität und Zugehörigkeit in der deutschen Gesellschaft diskutiert wird. Da wird jede auch wohlgemeinte Wortschöpfung zwangsweise negativ konnotiert.


Integration - ein Kampf um Teilhabe und Ressourcen

Nicht die Bezeichnung der Bürger mit anderen Herkunftskulturen scheint das eigentliche Hindernis zu sein, sondern das Selbstbild der Mehrheitsgesellschaft und die Definition des Deutschseins, die Einfluss auf das Integrationsverständnis haben. Die Vorstellung der Mehrheit über das Deutschsein speist sich historisch bedingt immer noch - wenn auch vielfach latent und diffus - aus einem "imaginierten Deutschtum[...]" (Geiling 2012: 13), also aus einer Idee einer homogenen Abstammungsgemeinschaft und einer genetisch-ethnischen Zugehörigkeit. Aus dieser ethnozentrischen Sicht sind die Zugewanderten stets problembehaftet, ihr Deutschsein mangelhaft und bedrohlich für die sog. rein Deutschen. Daraus resultiert eine prinzipiell defizitäre Perspektive auf Personen mit anderen ethnisch-kulturellen Wurzeln. Daran anknüpfend strukturiert sich das Bewusstsein um eine deutsche Leitkultur (vgl. Wippermann/Flaig 2009: 4). Weil den Menschen mit Migrationshintergrund das Wissen um die deutsche Kultur fehlt, werden sie generell in einer Bringschuld gesehen. Ihr kulturelles Kapital aus den Herkunftsländern hat für die Mehrheit kaum einen Wert und wird als minderwertig abgetan. Folglich wird Integration als eine ausschließlich aktive Leistung der Menschen mit Migrationshintergrund gedeutet (vgl. ebd.: 10). Damit wird eine Erwartungshaltung seitens der deutschen Mehrheit gegenüber der Minderheit entwickelt, sich den deutschen kulturellen Wertvorstellungen anzupassen, bestenfalls die Herkunftskultur aufzugeben und sich zu assimilieren (vgl. Foroutan 2012: 10). Integration wird nach dieser Sicht nicht als ein gesamtgesellschaftlicher Prozess begriffen, sondern als eine einseitige Angelegenheit der Personen mit anderen Herkunftskulturen registriert. Die Forderung bleibt auch dann aufrecht, wenn diese Menschen in Deutschland geboren und sozialisiert sind und sich die Frage nach einer Integration nicht mehr wirklich stellt. Folglich bleibt ihnen die Anerkennung und Akzeptanz, gleichwertige Bürger zu sein,trotzstrukturellerIntegrationdurchSprachkompetenzen, Bildung und berufliche Tätigkeit sowie persönlicher Identifikation mit dem Land verwehrt. "Die deutsche Identität [wird von der Mehrheit weiterhin] als etwas Exklusives" (Foroutan 2010:12) gehandelt und vorenthalten, obgleich die Menschen mit Migrationshintergrund die Erwartungen und die Kriterien für eine Vollmitgliedschaft erfüllen. Ihre kulturelle wie religiöse Mehrfachzugehörigkeit, die meist durch äußerliche Andersartigkeit sichtbar wird, begründet prinzipiell den Ausschluss aus dem Selbstbild der Gesellschaft. Letztlich können die Menschen mit Migrationshintergrund nie den homogen-ethnischen Identitätsstandards und Normalitätsvorstellungen der autochthonen Deutschen vollständig entsprechen. In den öffentlichen Diskursen gilt für das Deutschsein immer noch das Eindeutigkeitsprinzip der ethnisch-kulturellen Herkunft. Besonders tragisch wirkt eine solche Haltung auf die Gruppe der Spätaussiedler bzw. Russlanddeutschen, die obschon ethnisch Deutsche ebenfalls aus dem Konstrukt des gesellschaftlichen Wir herausfallen, weil sie noch ein russisch-kulturelles Element mit sich bringen. In der Konsequenz, so erklärt Foroutan: "ist [es] die fraglose Zugehörigkeit und somit die Authentizität (im Sinn von Echtheit und Glaubwürdigkeit), die jenen Menschen mit Migrationshintergrund verwehrt wird, die durch äußere Zuschreibung zunächst als nichtdeutsch gesehen werden [...]" (ebd.). Aufgrund dieser Einstellung der Mehrheitsbevölkerung wirken die Integrationsdebatten widersprüchlich und tragen teilweise schizophrene Züge. Augenscheinlich äußert sich dieser Widerspruch im Umgang der Gesellschaft mit den Muslimen im Land und zeigt, wie skeptisch die deutsche Gesellschaft gegenüber Heterogenität ist. Die größte Minderheit, die Muslime, wird kategorisch aus dem Selbstverständnis der Gesellschaft ausgeschlossen. Zahlreiche Studien der letzten Jahre bestätigen diese ablehnende Einstellung der Mehrheitsgesellschaft bezüglich Islam und Muslimen, so auch der neue Religionsmonitor 2013 der Bertelsmann Stiftung (vgl. zeit.de; vgl. berstelsmann-stiftung.de). Darin heißt es, die Hälfte der Deutschen sei davon überzeugt, dass der Islam nicht zu Deutschland passe und sieht diese Religion als Bedrohung. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahre 2011 (vgl. Zick/Küpper/ Hövermann 2011) hat sogar ergeben, dass die Deutschen im Vergleich zu anderen europäischen Nachbarn wesentlich islamfeindlicher eingestellt sind. Wie abweisend ihre Haltung ist, zeigte sich bereits 2010, als der damalige Bundespräsident, Christian Wulff, zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit in seiner Rede auch den Islam als Deutschland zugehörig beschrieb und damit einen Sturm der Entrüstung auslöste. Diese Skepsis gegenüber der islamischen Religion wird seit 9/11 mit den islamistischen Terroranschlägen begründet (vgl. Foroutan/Schäfer 2009: 15). Folglich ist in der Gesellschaft ein Mechanismus aus Angst, Misstrauen und voreiligen Unterstellungen gegenüber Muslimen entstanden. In dieser Atmosphäre erscheinen die Muslime für die Mehrheit der Bevölkerung als unheimlich, potentiell gefährlich und von vornherein latent illoyal, so dass sie als das Fremde schlechthin konstruiert werden (vgl. Schiffauer 2007: 131). Vor diesem Hintergrund werden in den Islamdebatten vielfach zwei Gegensätze konstruiert zwischen islamischen Werten und westlichen Werten, somit auch zwischen Muslimsein und Deutschsein. Beide Referenzsysteme werden per se als unvereinbar erachtet. Das Bild des Islam wird undifferenziert als intolerant, undemokratisch und unaufgeklärt gezeichnet. Gleichfalls werden die deutschen kulturellen Wertvorstellungen als komplettes Gegenteil präsentiert. In der Konsequenz wird den Menschen aus muslimischen Herkunftskulturen von vornherein unterstellt, sie seien integrationsunfähig und -unwillig, weil ihnen die deutschen Wertvorstellungen fehlten (vgl. Foroutan 2012: 11-12). Statistiken über kriminelle muslimische Jugendliche, ihre Anzahl an Schulabbrechern und Arbeitslosen werden als bestätigende Beispiele für die Unvereinbarkeit der Wertesysteme und die Integrationsverweigerung der Muslime herangezogen. Es wird ein Zusammenhang zwischen religiöser und ethnischer Zugehörigkeit und sozialen Fehlentwicklungen konstruiert. Dass auch autochthone Deutsche aus sozial-schwachen Milieus ähnliche Schwierigkeiten im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt haben, wird ignoriert. Ebenso werden zahlreiche Studien nicht beachtet, wie die Migranten-Milieu Studie des Sinus Instituts, die bei Menschen mit muslimischer Zuwanderungsgeschichte eine hohe Leistungsbereitschaft, Willen zum Bildungsaufstieg und hohe Identifikation mit der deutschen Gesellschaft belegen (vgl. ebd.; vgl. Wippermann/ Flaig: 2009: 5-6). Auf diese Weise werden soziale und ökonomische Konflikte mit dem Islam und Integrationsproblemen verbunden. Nachweisliche strukturelle Benachteiligungen von Menschen mit muslimischem oder anderem Migrationshintergrund im Bildungswesen, auf dem Arbeitsmarkt oder bei der sozialen Teilhabe werden ausgeblendet. Es wird schnell vergessen, dass Integration und Partizipation der Zuwanderer lange kein Ziel der gesellschaftlichen Mehrheit waren. Auch die deutsche Mehrheit hat an die Narration der Rückkehr der Migranten geglaubt und die Integrationspolitik jahrzehntelang vernachlässigt (vgl. Foroutan / Schäfer 2009: 13). Erst der 11. September 2001, die Terroranschläge in Madrid 2004 und London 2005 haben zu einem Sinneswandel bezüglich integrationspolitischer Maßnahmen in der deutschen Politik geführt. Daher kritisiert Foroutan aufs Schärfste, dass Integration seitens der Mehrheit immer noch als einseitiger Prozess gesehen wird, bei dem die Bringschuld bei den Menschen mit Migrationshintergrund liegt (vgl. Foroutan 2012: 56) "Viel zu selten wird hier auf die Verantwortung der Aufnahmegesellschaft für bessere Integrationsmechanismen und Steigerung der Partizipationschancen hingewiesen." (Foroutan 2012: 12).

Die strukturelle Diskriminierung der deutschen Staatsbürger mit Migrationshintergrund bei Bildung, Arbeit und gesellschaftspolitischer Teilhabe hat nicht nur rassistische Gründe. Nach Geiling bilden Verteilungs- und Teilhabekonflikte größere Motive bei der Ausgrenzung von Minderheiten. Dabei gehe es um Verteidigung der Privilegien der einheimischen deutschen Bevölkerung aus der gehobenen Mittelschicht gegenüber der aufstrebenden Konkurrenz aus den Einwandererfamilien. Er zeichnet dabei eine Parallele zu geringen Teilhabechancen der einheimischen Deutschen aus unteren Schichten: "Auch die Autochthone, insbesondere aus den unteren mittleren sozialen Milieus, stoßen in der Konkurrenz um Berufspositionen, Bildungstitel und Prestige ständig auf Hindernisse." (Geiling 2012: 13). Die Debatten um die Frauenquote in Aufsichtsräten und die Forderung nach gleicher Bezahlung für Männer und Frauen führen in dieselbe Richtung. In diesem Kontext werden für Personen aus Zuwandererfamilien der fehlende Habitus, nicht vorhandene Netzwerke und soziale Ressourcen zu gläsernen Decken beim Aufstreben nach höherer Bildung oder beruflichen Führungspositionen und gesellschaftlichem Einfluss. Die ständige Forderung nach Integration, Geiling spricht sogar von einem "Integrations-Diktat" (Geiling 2012: 14) und mehr gesellschaftlicher Partizipation lenkt den Blick auf vermeintliche Defizite der Personen mit anderen Herkunftskulturen, ungeachtet ihres tatsächlichen Integrations- und Partizipationsstatus. All das trägt dazu bei, in der öffentlichen Wahrnehmung eine Differenz zwischen einheimischen und Deutschen mit Zuwanderungsgeschichte weiter aufrecht zu erhalten, um sie so leichter von gleichberechtigter Teilhabe ausschließen zu können (vgl. ebd.: 13-14). Denn der Wille zur beruflichen wie gesellschaftspolitischen Teilhabe ist bei Personen mit Migrationshintergrund groß und unterscheidet sich in seinem Grundmuster nicht wesentlich von dem bürgerschaftlichen Engagement der autochthonen Bevölkerung. Etwa 40 Prozent der Deutschen mit einem Migrationshintergrund sind ehrenamtlich engagiert, vor allem die Bildungsaufsteiger unter ihnen. Sollte die Zahl der Bildungsaspiranten steigen, kann sich das Partizipationspotential sogar um ein Vielfaches erhöhen (vgl. ebd.: 16). Auch an dieser Stelle wird deutlich, wie widersprüchlich die Integrationsdiskurse verlaufen. Einerseits wird Integration und Partizipation der Menschen mit anderen Herkunftskulturen erwünscht, andererseits wird jede Forderung nach gesellschaftlicher Mitwirkung zugleich als rechtfertigungsbedürftig und anmaßend angesehen. Das wird z.B. bei Protesten gegen Moscheebauten ersichtlich. Dabei ist der Wunsch nach der Errichtung von Gotteshäusern ein Ausdruck von Mitgestaltung der Gesellschaft. In demselben Zusammenhang ist das Kopftuchverbot an staatlichen Schulen einzuordnen. Diesmal wird die Ausgrenzung sogar staatlich verordnet. Kopftuchtragende Frauen werden somit von der Ausübung des Lehrerberufs ferngehalten, weil das Kopftuch als kulturell fremd eingestuft und dann von der Mehrheitsgesellschaft eigenmächtig als politisches Symbol interpretiert wird. Die Bezeichnungspraxis der Mehrheit für die Minderheit, sei es über die Begriffe Gastarbeiter, Ausländer, Menschen mit Migrationshintergrund oder auch über neue Wortschöpfungen wie Postmigranten, Hybride oder Neue Deutsche, ist Teil der Strategie, an einer Unterscheidung festzuhalten. Diese Wahrnehmung schadet dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, erzeugt Ausgrenzung und hat durchaus auch Folgen für Zugehörigkeit und Teilhabewunsch der Deutschen mit Migrationshintergrund. Einige distanzieren sich und wollen nicht mehr in dieser sie ablehnenden Gesellschaft partizipieren. Andere fordern selbstbewusst und beharrlich ihre Teilhabe und Akzeptanz ihrer mehrfachen Zugehörigkeiten. Statt neue Bezeichnungen zu erfinden, muss die deutsche (Mehrheits-)Gesellschaft lernen, mit Mehrfachzugehörigkeiten und Bindestrich-Identitäten zu leben und diese auch als Teil des Deutschseins zu begreifen. Dazu gehört das Eingeständnis, ein Einwanderungsland zu sein. Die entscheidende Kategorie für die Definition der Gemeinschaft innerhalb Deutschlands ist die Staatsbürgerschaft. Im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalts und auch gerade vor dem Hintergrund der demografischen Situation sollte die formal-rechtliche Beschreibung des Deutschseins dazu führen, dass in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht sofort die Frage nach der eigentlichen Herkunft einer Person auftaucht, die phänotypisch fremd eingeordnet wird. Vielmehr sollten die Herkunftskulturen nur eine nachrangige Rolle im alltäglichen Miteinander spielen. Indem die formale Komponente der identitären Zuschreibung betont wird, kann die Emotionalität aus der ethnisch-kulturellen nach Abstammungsprinzipien strukturierten Sicht auf die deutsche Identität und das Deutschsein herausgenommen werden.


LITERATUR:

Belwe, Katharina (2009): Editorial. Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten. In: APuZ 05/2009. S. 2
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Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen.

Foroutan, Naika (2010): Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten? Wer gehört zum neuen Deutschland? In: APuZ 46-47/2010. S. 9-15
http://www.bpb.de/publikationen/ZRECU3,0,0,Neue_Deutsche_Postmigranten_und_BindungsIdentitaeten_Wer_gehoert_zum_neuen_Deutschland.html

Foroutan, Naika (2/2010): "Deutsch-Sein" in der Einwanderungsgesellschaft. In: Gefühlte und gelebte gesellschaftliche Realitäten. Dokumentation einer Fachtagung. 02/2010
http://www.verband-binationaler.de/fileadmin/user_upload/Zeitschrift_iaf-informationen/info2-2010_leseprobe_3bis13_web.pdf

Foroutan, Naika (2012): Muslimbilder in Deutschland. Wahrnehmung und Ausgrenzung in der Integrationsdebatte. In: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): WISO-Diskurs. Expertisen und Dokumentationen zu Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Geiling, Heiko (2012): Spätaussiedler und türkeistämmige Deutsche im sozialen Raum. In: vhw FWS 1/Januar-Februar 2012. S. 13-16.
www.vhw.de/fileadmin/user_upload/Forum_Wohneigentum/PDF_Dokumente/2012/FWS_1_12_Geiling.pdf

Giesen, Bernard (1991): Einleitung. In: Giesen, Bernhard (Hrsg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt. S. 9-18.

Keupp, Heiner u.a. (2006): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Hamburg.

Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt am Main. 1968.

Religionsmonitor 2013 der Bertelsmann Stiftung vom 28.04.2013
http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-BAEC7F5C-7223950E/bst/RelMo_Befunde_Deutschland_final_130428.pdf vom 28.04.2013

Schiffauer, Werner (2007): Der unheimliche Muslim. Staatsbürgerschaft und zivilgesellschaftliche Ängste. In: Wohlrab-Sahr, M./Tezcan, L. (Hrsg.): Konfliktfeld Islam in Europa. Reihe Soziale Welt Sonderband 17. Baden-Baden. S. 111-135.

Wipperman, Carsten/ Flaig, Berthold Bodo (2009): Lebenswelten von muslimischen Migrantinnen und Migranten. In: APuZ 05/2009. S. 3-11
http://www.bpb.de/publikationen/KTORL9,0,0,Lebenswelten_von_Migrantinnen_und_Migranten.html

Zeit.de
http://www.zeit.de/gesellschaft/2013-04/islam-bedrohung-studie/komplettansicht vom 27.04.2013.

Zick, Andreas/ Küpper, Beate/ Hövermann, Andreas (2011): Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. In: Nora Langenbacher (Hrsg.): Projekt "Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. Forum Berlin. Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn.


Shazia Saleem ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hans-Böckler-Stiftung und Doktorandin an der Graduate School of Politics in Münster. Sie ist Mitglied der SPD und von der ver.di.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2014, Heft 200, Seite 20-25
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2014