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GESELLSCHAFT/299: Flucht, Migration und Tourismus (AGORA - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2015

Flucht, Migration und Tourismus

von Harald Pechlaner


Gastfreundschaft ermöglicht es dem Individuum und einer Gesellschaft, Fremde als Bereicherung für ein gelingendes Leben zu verstehen. Sie wird damit zur Voraussetzung für den richtigen und guten Umgang sowohl mit Flüchtlingen und Migranten als auch mit zahlenden Gästen.


Fragt man nach dem Wesen des Tourismus, berührt man einige Aspekte, die eine Annäherung ermöglichen. Zentrale Motive, die vor allem in den Jahrzehnten der Industrialisierung eine hohe Bedeutung hatten und immer noch haben, wie beispielsweise die Erholung, spielen dabei genauso eine Rolle wie die Flucht aus dem Alltag auf der Suche nach einer Gegenwelt. Mit zunehmender Reiseerfahrung breiter Gesellschaftsschichten und einem damit einhergehenden Qualitätsbewusstsein und -anspruch bekommen Sehnsüchte einen neuen Bedeutungsinhalt, die im Kontext stets differenzierterer Gesellschaften eine Grundlage dafür schaffen, dass Zeit und Aufmerksamkeit, oder Ruhe und Raum beinah einen Luxus darstellen (Enzensberger 2004) und die Basis für das Genießen werden können. Aber Zeit für was? Für das "Ich" im Rahmen zunehmender Individualisierung, für jene Werte, die so etwas wie Glaubwürdigkeit oder Nachhaltigkeit versprechen, für die große Sehnsucht nach Ermöglichung von Ansprüchen, denen man im Alltagsleben nur annähernd gerecht werden kann?

Bei einem genaueren Blick haben wir es mit zum Teil beträchtlichen Veränderungen bei Einstellungen, Vorstellungen, Motiven und Sehnsüchten zu tun. Heerscharen an Marktforschern und Experten deuten diese Veränderungen und leiten davon die Trends und Tendenzen ab, auf deren Grundlage neue Angebotsformen des Tourismus entstehen und neue Gästeschichten erobert werden - und vergessen dabei erstaunlicherweise häufig auf den Fokus von Interaktionen zwischen den Menschen, einmal zwischen den Gästen selbst im Rahmen ihres touristischen Erlebnisses, einmal zwischen Gästen und Gastgebern. Mag die Individualisierung und der Wertewandel eine große Rolle spielen, gerade deshalb aber bekommt das Interesse am persönlichen Austausch, am Menschlichen und an Geschichten über Menschen nicht nur bei Gästen eine zunehmend hohe Bedeutung zugesprochen. Zeit und Aufmerksamkeit für das Menschliche, oder die Sehnsucht nach tiefen Begegnungen sind die Grundlage für das, was sich in den Marktforschungen und Gästebefragungen dann konkretisiert, wenn die Rede ist von spezifischen Interessen, Produkten und Angeboten. Dieses Interesse an Begegnung geht einher mit dem Interesse an Wertschätzung und Willkommen-Sein, geht einher mit Geborgenheit und Gegenseitigkeit, die im eigentlichen Sinne keine Gegenleistung einfordert, wenngleich am Austausch interessiert ist. Dazu ist eben ein Maß an Zeit und Aufmerksamkeit notwendig, welches seine Grundlage in menschlichen Bezügen und persönlichen Überzeugungen findet.

Dieses Verhältnis von Gast und Gastgeber wird damit zum eigentlichen Maß für einen gelingenden Tourismus, der Glaubwürdigkeit zur Voraussetzung macht, aber auch Glaubwürdigkeit in der Konsequenz ermöglicht. Diese Beziehung können wir auch als Gastfreundschaft bezeichnen, weil Freundschaft zwar nicht die notwendige Voraussetzung für eine gute Beziehung zwischen Gast und Gastgeber ist, aber doch einen Anspruch darstellt, der eben mehr ist als nur die Bereitstellung von touristischen Dienstleistungen und die entsprechende Messung der Zufriedenheit und Qualität. Das wäre zu oberflächlich und betrifft allenfalls Begleiterscheinungen eines nachhaltigen touristischen Erlebnisses. Gelingende Begegnungen sind der Kern von Gastfreundschaft, und Landschaften und Dienstleistungen ein wichtiger Rahmen, aber eben nicht das Wesen von Tourismus. Gastfreundschaft ist mehr als Gastlichkeit, denn sie ermöglicht Willkommen-Sein und Begegnung, ohne nach Servicestandards zu fragen, sie ermöglicht vertiefte Beziehungen ohne die (kommerzielle) Wechselseitigkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Willkommens-Kultur hat gewiss etwas mit professioneller Abwicklung von Dienstleistungen zu tun, Willkommens-Kultur hat aber vor allem mit Interesse und Wohlwollen am Gast zu tun.

Interesse an Begegnung schließt auch den Fremden nicht aus, weil Interesse am Fremden stets auch eine Triebfeder des Tourismus darstellt, einmal, weil Gäste fremde Menschen und Landschaften kennenlernen wollen, einmal, weil das Willkommen und die Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden auch neues ermöglicht, Neugierde schafft und gegenseitiges Lernen impliziert. Der Fremde wird dann zum Gast, weil er fremd ist, und nicht weil er schon bekannt ist. Das lateinische "hospes" bringt beides in Einklang, den Gast und den Fremden. Denn eigentlich ist dies kein Widerspruch, sondern Wesen von Gastfreundschaft. Wer dem Fremden gegenüber Respekt, Interesse und Wohlwollen bekundet, wird dies einem bereits bekannten Gast oder Freund gegenüber allenfalls tun. Unbedingte Gastfreundschaft anerkennt das Fremde im Fremden, ohne Anspruch ihn zu entfremden (Derrida, 2001). Es gibt diejenigen, die der Gastfreundschaft bedürfen, und jene, für die Gastfreundschaft eine Sehnsucht bei der Ausgestaltung ihrer Lebensziele darstellt. Beides hat Berechtigung, aber Hilfsbereitschaft, Interesse und Wohlwollen und wohl auch Freundlichkeit entspringen einem Wesen des Unbedingten, das nicht nach Gegenleistung fragt oder erst in zweiter Linie die Frage der Wechselseitigkeit in den Blickpunkt rückt, weil bestimmte Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens dies erfordern.

Dies ist die eigentliche Grundlage für eine Diskussion von Flucht, Migration und Tourismus quasi im gleichen Atemzug, weil das Wesen des Tourismus im Unbedingten liegt, welches dann das Bedingte ermöglichen kann. Einen gelingenden professionellen Tourismus kann aufgrund der zentralen Bedeutung der Beziehung von Gast und Gastgeber nur leisten, wer ehrliches Interesse zur Grundlage macht, wer glaubwürdiges Wohlwollen zur Basis für die darauf aufbauende Dienstleistungsqualität erwählt. Und wer diese Form von Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit (vor-)lebt, kann nicht anders, als dem Fremden Gastfreundschaft zu gewähren, und kann nicht anders, als den Flüchtenden und Migranten auch als Gast zu verstehen, wenn er Hilfe braucht oder Schutz sucht. Es sind nicht nur die Tourismusakteure, die sich gastfreundschaftlich erweisen können, es sind die Menschen in ihren unterschiedlichen Kontexten, die Beziehungen zu Gästen ermöglichen können - egal ob mit oder ohne Asyl. Gewiss muss unterschieden werden zwischen Flucht und Migration, wenngleich die Feingliedrigkeit der Unterscheidung die juristische Detailliertheit erfordert, was wiederum nicht immer kompatibel ist mit zentralen Fragen von Leben und Überleben von Flüchtenden. Die einen müssen wandern, die anderen können wandern.

So in etwa könnte eine grobe Unterscheidung aussehen, wenn es darum geht, Motive und Definitionen von Flucht oder Migration darzustellen, wenngleich Gastfreundschaft sich dabei nicht notwendigerweise unterscheiden muss. Das gesellschaftliche Engagement für ein besseres Zusammenleben erfordert die Anwendung von Gastfreundschaft dort, wo sie gebraucht wird oder für Gast und Gastgeber eben eine gemeinsame Qualität der Begegnung und Beziehung bedeuten. Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa stehen in der öffentlichen Debatte immer mehr für die Gastfreundschaft des einzelnen, der im Rahmen von konkreter Hilfe dieses Willkommen-Sein unter Beweis stellt, aber auch für die Gastfreundschaft von Ländern, Regionen und eines ganzen Kontinents, welche im Spannungsfeld von Menschen- und Grenzenschutz tagtäglich die Trennlinien ausloten, an welchen entlang gesellschaftliche Akzeptanz und politische Leadership entstehen können. Die Beziehung zum Tourismus wird neben der Gastfreundschaft und Beziehungsqualität auch darin sichtbar, dass gerade touristische Zielgebiete sich immer wieder ihrer Gastfreundschaft rühmen und damit den Raum (und die Akteure im Raum) mit den Fragen von Gastfreundschaft in Verbindung bringen. Und so stellt sich unweigerlich die Frage, ob die Art der Diskussion von Migration und Flucht in einem Land oder einer Region und die damit zusammenhängenden Handlungsmuster Rückschlüsse zulassen auf die (touristische) Gastfreundschaft im betreffenden Land.

Bleibt noch die Frage nach den Grenzen von Gastfreundschaft. Kayed (2003) verwendet die Symbolik der vier Schälchen, um die unterschiedlichen Stufen von Gastfreundschaft zu verdeutlichen. Gastfreundschaft garantiert Leben und Überleben, wenn es darum geht, den Fremden aufzunehmen und ihn mit dem Überlebensnotwendigen ("Gast-Schälchen") zu versorgen. Dann geht es darum, dass sich die Gäste wohlfühlen, dass man sie nährt, stärkt und stützt oder ihnen Kenntnisse vermittelt. Das "Genuss-Schälchen" bedeutet Wohlfühlen für den Gast. Solange Fremde Gäste sind, ist der Schutz und die Verteidigung der Gäste ein wichtiges Prinzip. Das "Schwert-Schälchen" symbolisiert den Schutzstatus im Rahmen des Asylrechts, in welchem die Regeln der Gastfreundschaft festgelegt sind. Die Grenzen zwischen "bleiben wollen" und "bleiben müssen" fließen: das "Unverschämtheits-Schälchen" setzt die Grenzen der Gastfreundschaft, denn Gäste wissen um bestimmte Regeln, Sitten und Gebräuche, und nützen die Gastfreundschaft auch nicht aus. Zunehmende Vertrautheit ersetzt das Fremde, und Gäste können zu Gastgebern werden, denen die Aufnahme, das Wohlfühlen und die Verteidigung der Gäste ein Anliegen bleiben, und Überstrapazierung verhindern, indem Gegenseitigkeit Verantwortung und Bindung ermöglichen.


Prof. Dr. Harald Pechlaner ist an der KU Inhaber des Lehrstuhls Tourismus und leitet das Zentrum für Entrepreneurship. Der hier erschienene Beitrag hat eine Tagung des Lehrstuhls zum Hintergrund, die im Juni an der KU stattfand.

Derrida, J. (2001): Von der Gastfreundschaft, Passagen-Verlag, Wien

Enzensberger, H.M. (2004): Ein Dialog über den Luxus, Dialoge zwischen Unsterblichen, Lebendigen und Toten, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Kayed, Ch. (2003): Gast sein - Ein Lesebuch, Athesia, Bozen

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Quelle:
AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2015, Seite 22-23
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2015

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