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JUGEND/055: Generation ohne Vision? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2009

Generation ohne Vision?

Von Alessa Brochhagen


Was ist mit der Jugend los? Sitzt sie, vom prekären Dasein entmutigt, vor dem Fernseher, wie Jens Jessen (Zeit, 36/2008) und Tanja Dückers (Zeit, 51/2008) uns glauben machen wollen, oder ist sie voll von aktionistischem, aber selbstbezogenem Tatendrang, wie die Jungredakteure Manuel J. Hartung und Cosima Schmitt gegenhalten (Zeit, 37/2008)? Unsere Autorin meint: Weder noch: Es gibt nicht nur die eine Jugend.


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Angepasste, peppige Lebensläufe mit Auslandsaufenthalten, Praktika und sozialem Engagement gibt es viele. Sonst, heißt es, könne man die Karriere sowieso vergessen. Eine ungesicherte Zukunft erzeugt bei vielen jungen Menschen einen hohen Leistungs- und Anpassungsdruck. Hat der Zeit-Feuilleton-Chef Jens Jessen in seinem Artikel "Die traurigen Streber" also Recht, dass die Jugend unsere Gesellschaft zerfallen sieht und daher nur noch ihr eigenes Überleben sichern will? Im Stile eines Generationspsychologen diagnostiziert er eine ausgewachsene Depression. Die Jugend habe vor der gesellschaftlichen Debatte um Globalisierung, verschärfte Konkurrenz und Wettbewerbsfähigkeit kapituliert und sich ins gemachte Nest, das Geld und Sicherheit heißt, zurückgezogen. Derart kulturpessimistisch lässt sich vom hohen Thron des Chefsessels aus leicht fragen: Wo bleibt der Protest?

Jessen vergisst allerdings, dass die beobachteten Symptome auf einen größeren Zusammenhang verweisen: Prekarisierung betrifft nicht die Jugend allein. Auflösung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, befristete Verträge und Abbau von sozialen und politischen Rechten lassen sich in allen Gesellschaftsbereichen beobachten. So wäre es Aufgabe aller, sich zu solidarisieren und zum Sturmlauf gegen Flexibilisierung, Leiharbeit und Outsourcing anzusetzen. Dies schließt die Meinungsmacher ein. Denn wenn der Ressortleiter ganz im postmodernen Tonfall anprangert, dass den jungen Menschen Utopien fehlten, fragt man sich: Wer, wenn nicht die Meinungsführer, könnten solche setzen?

Sicherlich muss man Jessen zustimmen, dass Protest heute nicht mehr kollektiv stattfindet. Wenn ihm bei der Klage über die ideenlose Jugend als Vergleichsmenge die 68er vor Augen standen, dann vergisst er allerdings, dass Hochschullehrer und Intellektuelle damals zu den Wortführern gehörten, die den jugendlichen Drang nach Veränderung institutionell und ideologisch stützten. Auch war Protest nie Sache aller Jugendlichen. Genauso wenig ist Protest eine Hau-Ruck-Aktion Einzelner. Die Antikriegs- und die internationale Studentenbewegung, die Auseinandersetzung mit der deutschen nationalsozialistischen Geschichte und der Kalte Krieg waren ausschlaggebend für die Protestwelle der späten 60er. Die Ereignisse haben viele junge Menschen dieser Generation für das parteipolitische Engagement mobilisiert. Die Mitarbeit in formalen Organisationen (Gewerkschaften, Bürgerinitiativen) ist aber seit den 70er Jahren stark gesunken. Heute lässt sich politischer Protest daher nicht mehr z.B. an der Anzahl der Parteibücher messen.

Dies setzt die Antwortpolemik "Die effizienten Idealisten" von Hartung /Schmitt dem Zeit-Feuilletonisten mit Recht entgegen. Jessen aber fordert immer noch kollektives politisches Engagement und beklagt sich, dass die jüngere Generation die Geißel der Konkurrenz längst verinnerlicht hätte und es nicht schaffte, sich von der "Tyrannis der eigenen Selbstdisziplinierung" zu befreien. So sucht er den Sündenbock auf der falschen Weide. Kann man behaupten, die Jugend habe vor dem neoliberalen Gesellschaftsmodell kapituliert und sie gleichzeitig an diesem messen, wenn man unter Ausblendung sozialstruktureller Zusammenhänge fordert, sie solle sich eigenverantwortlich zum Protest aufschwingen? Individualismus setzen und dann kollektiven Ungehorsam fordern? Wer in immer kürzeren Abständen Generationenporträts herbeischreibt (Generation Praktikum, Doof, Podcast etc.), braucht sich nicht zu wundern, wenn sich keine "gemeinsame Jugend" erhebt.


Politik in der Lebenswelt

Hartung/Schmitt versuchen, ein weniger pessimistisches Bild zu zeichnen und Jessens Argument von der Charakterlosigkeit der Jugend zu widerlegen. Es gäbe sehr wohl Protest und Drang zu Veränderung. Die Jugend sei engagiert und widerständig. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass die Bereitschaft, in informellen Gruppen temporär mitzuarbeiten und an direkten politischen Aktionen (Demonstrationen, Hausbesetzungen etc.) teilzunehmen, in den letzten 30 Jahren gestiegen ist. Die Autoren vertreten jedoch die Meinung, das Politische muss nicht laut sein: Sie halten auch ein Freiwilliges Soziales Jahr, bewussten Konsum, den neuen Feminismus oder als Mann ein Babyjahr zu nehmen, für politisch, weil dies Gesellschaft verändere. Solche Positionen sind wichtig, aber zementieren sie nicht soziale Verhältnisse? Versteckt sich nicht beispielsweise hinter dem "Neuen Feminismus" (Thea Dorn u.a.), eine Mogelpackung, die jungen Frauen das neoliberale Credo der beruflichen Selbstverwirklichung aufdrückt, ohne sie von den Pflichten der traditionellen Frauenrolle als Mutter zu befreien? Entpuppt sich der Wunsch, diesem neuen Frauenbild zu entsprechen, nicht als Büchse der Pandora, wenn die Frau nun als Familien- und Karrieremanagerin doppelt belastet ist?

Außerdem, so argumentieren die Jungredakteure weiter, suchten Junge Menschen ihre Verwirklichung nicht mehr am Arbeitsplatz. Freizeitaktivitäten ergänzten heute als zentrale sinnstiftende Einheit die Arbeit. Doch die zunehmende Orientierung auf Freizeitaktivitäten ist wohl eher dem postfordistischen Wandel zu befristeten Arbeitsverträgen und häufigeren Job- und Ortswechseln geschuldet und damit Ausdruck von Unsicherheit, nicht von sozialem Engagement. Wo also hat sie sich dann im Protest von den prekären Strukturen distanziert? Nein, Hartung /Schmitts Jugend erstarrt nicht vor "Heuschrecken und Haifischen", sie wirft sich mit Juchhe in den Rachen der Marktlogik. Damit entpuppt sie sich aber als genauso charakterlos wie Jessens. Was die Autoren nicht ohne ökonomischen Einschlag "effizienten Idealismus" nennen, passt letztendlich auch gut in den Lebenslauf. So schreiben sie die neoliberale Fabel von der Suche nach dem individuellen Glück fort.

Warum verweisen die Zeit-Autoren nicht auf solche Jugendlichen, die sich an kreativen Protestformen beteiligen, um politisch Stellung zu beziehen? Diese Jugend ist politisch und idealistisch. Sie nutzt traditionellerweise den öffentlichen Raum als Plattform des Protests, will aber mit spontanen und ungefragten Aktionen beispielsweise auf Textilproduktion oder die Gefahren der Privatisierung urbaner Räume aufmerksam machen. Mit Flashmobs weisen sie auf die Situation von Arbeiterinnen in Fabriken von Puma oder Nike hin. Mit Tango im Supermarkt demonstrieren sie gegen Ausbeutung in Discountern. Reclaim the Streets-Aktionen wollen städtischen Raum kurzzeitig für die Öffentlichkeit zurückgewinnen. Guerilla Gardening geht ähnliche Wege, indem brachliegendes Gelände in innerstädtische Gärten verwandelt wird. Die Aktionen sind kreativ und suchen stets nach neuen Protestformen, um Einverleibungstendenzen von Werbung und Popkultur zu unterlaufen. Denn das Rebellische ist längst als Marke entdeckt worden, die sich prima verkaufen lässt. Man denke an T-Shirts mit Ché Guevara-Konterfei oder mit Motiven des Streetart-Künstlers Banksy sowie an "Guerilla"-Werbeaktionen, die Ausdrucksmittel von Jugendkulturen imitieren. So warben Sportartikelhersteller im Streetart-Stil mit Schablonengraffitis.

Die Zeit-Feuilletonistin Evelyn Finger fragt in ihrem Beitrag "Die Bombe tickt" (Zeit, 38/2008) berechtigterweise, wie man heute noch rebellisch sein kann, wenn Rebellion Pop ist. In der Fangemeinde des Hip-Hops meint sie, solche jungen Menschen zu entdecken. Angeleitet von den Protagonisten der Szene, begehren sie gegen ihre Stigmatisierung als soziale Verlierer auf. Doch entspricht Fingers problematisches Bild einer rachelüsternen Generation von Ausgeschlossenen wirklich der ganzen Wahrheit? Nach ihr formiert sich die Wut dieser Jugendlichen als Schwelbrand unter der gesellschaftlichen Oberfläche und könne jeden Moment ausbrechen. Doch eine "Massenkultur der Niederlage" zu diagnostizieren, ist gefährlich. Sie erkennt nicht, dass die Positionen, die vom Mehrheitsdiskurs als außerhalb liegende konstruiert werden, genau deshalb mit diesem verbunden sind. Einen nichtverstehbaren Anderen zu kreieren, manifestiert Hierarchien und reproduziert Ausgeschlossene immer wieder als Ausgeschlossene. Zurückschlagende Gewalt kann dann zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden.


Subkultur und Wandel

Warum in keinem der Texte auf Subkulturen verwiesen wird (oder nur so negativ wie in Evelyn Fingers Fall), kann im Rahmen einer Debatte über Jugend nur verwundern. Denn Subkulturen wie beispielsweise Graffiti lassen sich auch als Ausdruck von Protest lesen. Graffiti ist als kreativ-künstlerische Ausdrucksform der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden eine Form von symbolischem Protest. Dass junge Menschen Vorstellungen von Recht und Sicherheit bewusst missachten, indem sie ihre Schriftzeichen im urbanen Raum hinterlassen, wirkt vor dem Hintergrund verstärkter Überwachungsdebatten provozierender denn je. Wenn Kommunen Millionenbeträge für die Beseitigung von Graffiti ausgeben und Writer mit Hubschraubern und Infrarotkameras jagen, dann wird deutlich, wie politisierend symbolischer Protest wirkt. Da sich Herrschaft symbolisch legitimiert, wird Graffiti meist nur über den Kriminalitätsdiskurs sichtbar oder findet - wie in den Artikeln der Zeit - gar keine Erwähnung. Dies zeigt, dass Protest ein bisschen angepasst sein muss, um Diskursparameter verschieben und damit Veränderungen bewirken zu können. Doch er sollte weder mit Oh weh in der Depression noch mit Olé im effizienten Idealismus enden. Deswegen muss immer wieder das Ausgeschlossene in öffentliche Debatten eingeschlossen werden. Darauf aufmerksam zu machen, kann der politische Beitrag (auch) der Jugend sein.


Alessa Brochhagen (* 1980) hat in Tübingen und Dublin Kunstgeschichte und Soziologie studiert. Zurzeit promoviert sie in Berlin zum Thema Street Art. Sie war Praktikantin der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte.
abrochhagen@yahoo.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2009, S. 59-61
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2009