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JUGEND/057: Private Kindheit (DJI Bulletin)


DJI Bulletin Nr. 85 - 1/2009
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Private Kindheit
Zwischen Familie und Freunden, zwischen Bildung und Medien - Ist das Private wirklich privat?

Von Karin Jurczyk und Jürgen Barthelmes


Fast alle Kinder wachsen in Familien auf. Familie wird als privater Raum angesehen und die Kindheit als ein geschützter und von äußeren Einmischungen ungestörter Lebensabschnitt. Ist die Vorstellung »private Kindheit« aber nicht eine Fiktion? War Kindheit schon immer »privat«? »Private Kindheit« verleitet mitunter zu romantisierenden Annahmen. Doch das Private ist nicht nur positiv, es hat auch seine Schattenseiten, denkt man nur an Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung. Die Privatheit der Familie, und damit verbunden der Kindheit, kann für Kinder auch zum Risiko werden. Gleichzeitig sind Geborgenheit, Behütetheit sowie bedingungsloses Vertrauen in persönlichen Beziehungen für Kinder ein Fundament ihres Aufwachsens und ihrer Subjektwerdung. Kindheit selbst aber war nie ein Freiraum, waren doch die Grenzen zwischen privat und öffentlich immer fließend.



Was gilt als »privat«?

Im alltäglichen Sprachgebrauch steht »privat« für: eigen, individuell, persönlich, familiär, intim, vertraut, zwanglos, d. h. nicht für die Öffentlichkeit zugänglich und bestimmt. Geht man auf den lateinischen Ursprung »privare = berauben« zurück, so wird bereits deutlich, dass diese Nicht-Zugänglichkeit auch ein Hinweis auf »Mängel« und »Leerstellen« im persönlichen Leben sein kann.

Das Private ist ein abgegrenzter Bereich, ein »heimeliger« Ort der »Vertrautheit« - private Kindheit als abgegrenzter Raum entspricht dem bürgerlichen Ideal der Familie (inklusive der Möglichkeiten und Abgründe des häuslichen Aufwachsens). Private Kindheit bedeutet fürs Erste, den Kindern ihre Einzigartigkeit zuzugestehen, ihnen Rückzüge zu erlauben sowie ihnen ihre Geheimnisse zu lassen (Andresen 2009; 2008). Private Kindheit schließt ferner den Umgang mit Freundinnen und Freunden ein und steht auch für den »Eigensinn der Kinder« sowie für »die Unverfügbarkeit des Kindes«.

Es scheint auf der Hand zu liegen, Familie mit »privat« sowie Privates mit Familie gleichzusetzen. Familie ist aber mehr als nur privat.


Private Kindheit in Familien ist von Ungleichheit geprägt

Dies zeigt sich deutlich am Beispiel der Bildung. Die Familie ist »Basislager« für die Bildungskarrieren der Kinder (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006: Zwölfter Kinder und Jugendbericht). Mit den Bildungserwartungen der Eltern sowie mit den wachsenden Bildungsanforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft wird jedoch das Tor zur Öffentlichkeit aufgestoßen, zumal derzeit die Tendenz vorherrscht, Kindern möglichst von früh an den Besuch von Bildungseinrichtungen zu eröffnen, aber auch von Familien möglichst bildungsrelevante Aktivitäten zu fordern.

Bildung als Unterstützung für den Prozess der Entwicklung eines Kindes hängt jedoch vom sozialen Hintergrund der jeweiligen Familien ab - und hier zeigen sich eklatante Unterschiede. Schlechtere Startchancen haben (entsprechend den Ergebnissen der World Vision Kinderstudie 2007: Hurrelmann u. a. 2007)

Kinder aus unteren sozialen Schichten (geprägt durch einen niedrigeren Bildungsabschluss der Eltern und einen niedrigeren sozio-ökonomischen Status),
Kinder von Alleinerziehenden,
Kinder von Migranten,
Kinder in bestimmten Regionen.

Diese Familien sind auch häufiger von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen, ferner beklagen deren Kinder, dass die Eltern zu wenig Zeit für sie hätten - was nicht zuletzt darauf hinweist, wie wichtig letztendlich ein gut ausgebautes Betreuungssystem ist.

Das Private der jeweiligen Familien ist unterschiedlich, angefangen von den ökonomischen Voraussetzungen über Bildungserwartungen bis hin zu den Möglichkeiten eines gelingenden Familienalltages (Andresen 2009; 2008; Lareau 2003):

Eltern (insbesondere die Mütter) der Mittelschicht folgen bestimmten Standards der Erziehung:

die Bereitschaft, Kinder in Gespräche und Entscheidungen einzubeziehen;
elterliche Regeln oder Verbote zu begründen;
die Interessen der Kinder zu fördern;
sich aktiv an den Angelegenheiten der Schule zu beteiligen.

Eltern der Arbeiterklasse (working class) oder ökonomisch benachteiligte Eltern halten eher an der Idee des natürlichen Aufwachsens (»natural growth«) fest:

Die Eltern überlassen (aufgrund familienunfreundlicher Arbeitszeiten oder weiter Wege zum Arbeitsplatz) ihre Kinder weitgehend sich selbst.
Die Kinder dieser Familien leben in ihrer Freizeit mehr im »natürlichen« Umfeld der Nachbarschaft oder Verwandten; dabei haben sie selbst mehr Einfluss auf die Gestaltung ihrer Zeit.
Mütter und Väter, die der Idee des natürlichen Aufwachsens folgen, sehen die elterliche Verantwortung eher in der Fürsorge und weniger in der sensiblen Beachtung der Gefühle, Gedanken und Leidenschaften der Kinder.

Ein weiterer Faktor der Ungleichheit ist der (unterschiedliche) Gebrauch der Sprache (»language use«) (Lareau 2003):

Wie wird in den Familien gesprochen?
Wie entstehen Entscheidungen, wie werden Regeln begründet?
Wird Sprache als Instrument der Disziplin verwendet?
Lernen Kinder, ihre Gefühle und Gedanken zu artikulieren?
Werden sie ermuntert, ihre Meinung zu äußern und ihre Ansprüche zu formulieren?

Kinder aus den unteren sozialen Schichten geben seltener an, dass ihre Auffassungen von den Eltern wertgeschätzt werden (World Vision Kinderstudie 2007: Hurrelmann u. a. 2007). Das Wohlbefinden von Kindern wird aber stark beeinträchtigt, wenn es keine zufrieden stellende Kommunikation in der Familie gibt (UNICEF 2007).


Private Kindheit und Freundschaft

Freunde zu haben und Freundschaften pflegen zu können, trägt für Kinder in hohem Maß zum Wohlbefinden sowie zu Gefühlen des Glücksempfindens bei. Freundschaften zeichnen sich auch dadurch aus, dass die Kinder miteinander Geheimnisse haben (in Form geheimer Orte und Verstecke sowie gemeinsamer, nicht mit Erwachsenen geteilter Erlebnisse und Erfahrungen). Eine gute Freundin ist, »dass man der vertrauen kann und dass sie nicht alles weiter erzählt« (Monique, 11 Jahre; World Vision Kinderstudie 2007: Hurrelmann u. a. 2007). Freundinnen und Freunde stehen auf gleicher Augenhöhe und sind unterstützend bei der Bewältigung von Lebenssituationen. Aber auch für diese »Sphäre« der privaten Kindheit kommt es auf die jeweiligen Bedingungen an:

Welche Gelegenheiten haben die Kinder, Freunde und Freundinnen kennenlernen zu können?
Über welche Fähigkeiten verfügen sie, Freundschaften zu entwickeln und aufrecht zu erhalten?

Beliebt sind insbesondere diejenigen Kinder, die immer zu ihren Freunden halten, die Anderen helfen, die viel lachen und lustig sind. Doch auch Kinderfreundschaften sind »mit Schuld und Scham, mit Verrat und Trauer« verbunden. Freunde und Freundinnen müssen einem auch in der Not beistehen. Das Pflegen von Freundschaften ist demnach eine grundlegende Fähigkeit für ein gelingendes Aufwachsen (Andresen 2009; 2008).

Die Freundschaften als privater Bereich tangieren aber auch die Öffentlichkeit: Kinder und Jugendliche lernen ihre Freunde/Freundinnen nicht nur in der Nachbarschaft kennen, sondern insbesondere auch durch die Gleichaltrigen-Gruppen in den Institutionen der Bildung (Kindergarten, Schule, Vereine). Dennoch: Die Sphäre der Freundschaften ebenso wie das, was innerhalb der Familie geschieht, ist Ausdruck von privater Kindheit, und dieser Bereich schließt auch den Eigensinn der Kinder mit ein. Im Privaten können sie ihre jeweilige Eigenart zum Ausdruck bringen.


Privatheit hat verschiedene Ebenen

Von der lokalen Privatheit, die sich auf gesellschaftliche Sphären bezieht, unterscheidet Beate Roessler (2001) die dezisionale Privatheit (d. h. »ich entscheide selbst für mich«; »ich bin Herr oder Frau über mein Leben«), zum anderen die informationelle Privatheit (d. h. das Recht auf Selbstverfügung über Daten; der Schutz des privaten Lebens, indem beispielsweise über mich keine Informationen weiter gegeben werden dürfen). Beide Ebenen von Privatheit sind am Individuum und nicht an Sphären angelagert.

Lassen sich diese Bestimmungen von Privatheit, die sich eher auf Erwachsene beziehen, aber auch auf Kinder bzw. die Kindheit übertragen?

Es hängt vom Stil der Erziehung und der Kommunikation ab, inwieweit und in welcher Form Kinder in die Entscheidungen der Familie mit einbezogen werden bzw. ein Selbstbestimmungsrecht haben. Die informationelle Privatheit fängt heute bereits im Kindesalter an, zumal Kinder zunehmend die Angebote der Medien nutzen und hierbei die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit überschreiten. Medien (Computer, Fernsehen, Handy, Internet) tragen zur Verwischung dieser Grenzen bei: sie sind einerseits öffentliche sowie öffentlich gemachte, allen zugängliche Angebote, andererseits werden sie privat und im Privaten genutzt (Hengst/Zeiher 2008; Meyrowitz 1987).

Medien sind Orte für Kinder, in denen sie

für sich sein können,
ihre Stile des Umgangs sowie ihre Geschmacksvorlieben ausbilden,
sich mit ihrer eigenen Medienkompetenz von den Eltern absetzen,
Kontakte zu anderen Kindern (ohne Kontrolle der Eltern) aufnehmen.

Insbesondere die Medienwelten (mit ihren Spielen, Filminhalten, Internetkontakten, Lesestoffen) sind für Kinder zu Säulen der privaten Kindheit in der Moderne geworden und gewähren Kindern Räume der Muße, des Vergnügens und des Lernens. Gleichzeitig weisen rasant zunehmende Phänomene, wie im Internet veröffentlichte Selbstdarstellungen (z. B. per YouTube) auf die ambivalente Erosion der Grenzen von Privatem und Öffentlichem hin (Weiß 2008).


Private Kindheit und Zeit

Erleben aber Kinder »Privatheit« möglicherweise nur dann, wenn sie Zeit für Muße haben, »ganz für sich sein können« (insbesondere beim Lesen, Musikhören, Fernsehen, Computerspielen, Sitzen im Baumhaus oder Spielen mit einem Tier)?

Haben Kinder Zeit für sich, dann wird dies in der Regel als etwas Privates und zugleich Intimes angesehen - denn Zeit wird mit Privatheit gleich gesetzt (Andresen 2009; 2008).

Kinder und Erwachsene haben eine private Zeit (»meine Eigenzeit«, »meine Zeit mit ...«). Doch diese Eigenzeit kann gestoppt, begrenzt, gestört, verhindert werden, beispielsweise: Wenn Eltern beim Kind die Zeit des Spielens unterbrechen (weil sie mit dem Kind etwas anderes machen möchten oder vorhaben), verfügen sie über die Zeit des Kindes, d. h. die Zeit der Eltern verfügt über die Zeit der Kinder. Ebenso sind die Öffnungszeiten von Kindergarten und Schule sowie die Arbeitszeiten der Eltern eine ganz und gar nicht selbstbestimmte Limitierung und Strukturierung der Zeit von Kindern (Lange 2006). Demnach ist Zeit nicht einfach etwas Privates, sondern immer eine Mischung von Privatem und unterschiedlich Öffentlichem (Jurczyk 2009; 2008).

Die Kontrolle über Zeit als ein Mittel der Disziplinierung ist ein Übergriff der Öffentlichkeit in den Bereich des Privaten. Über das Regulieren von Zeit haben Eltern Zugriff auf die Privatheit ihrer Kinder, zumal die Kontrolle über Zeit meist auf Leistung und Effizienz abzielt (beispielsweise Hausaufgaben, Tätigkeiten außer Haus, Forderungen an die Kinder aufgrund von gewünschten Leistungen bzw. Bildungserwartungen vonseiten der Eltern).


Die Eigensinnigkeit der Bildungsprozesse in der Familie

Die Bildungsleistungen vieler Eltern im alltäglichen privaten Miteinander und Gegeneinander werden jedoch häufig abgewertet und als nicht anerkennungsfähig (weil nicht prüfbar und schulisch nicht verwertbar) eingestuft. Dies ist insbesondere deshalb ein Problem, weil man inzwischen von einem erweiterten Bildungsverständnis ausgeht und neben dem formalen auch das non-formale und vor allem das informelle Bildungsgeschehen im Kindesalter in den Blick nimmt (Büchner 2008). Eine Vielzahl von Studien zeigt, dass ein großer Teil des Wissens nicht in der Schule gelernt wird (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006).

Kindheit wird in hohem Maße auch weiterhin Familienkindheit sein, da der allergrößte Teil der Kinder in Familien aufwächst. Die Herkunftsfamilie erweist sich als ein bildungsbiografischer Raum, in dem grundlegendes kulturelles Kapital erworben wird, um den Kindern eine anschlussfähige soziale und kulturelle Teilhabe in Familie und Gesellschaft zu ermöglichen (Büchner 2009).

Bildungsprozesse in der Familie gründen insbesondere auf Bildungsepisoden, wie

die gemeinsamen Mahlzeiten in der Familie, verbunden mit Kochen, Tischdecken und dem Erlernen von Benimmregeln;
das Vorlesen oder Spielen;
das Helfen bei Hausaufgaben;
die Körperpflege und damit verbunden das Erlernen von Regeln der Hygiene und Gesundheit;
das Instandhalten der Wohnung;
die Wochenendgestaltung.

Dies alles sind Tätigkeiten, bei denen in der Familie beiläufig und nebenbei gelernt wird (Demszky von der Hagen 2006).

Eltern investieren in kindliche Bildung, weil sie aufgrund ihrer eigenen Lebenserfahrung bestimmte Bildungserwartungen haben und sich diese für die Entwicklung ihres Kindes wünschen. Aufgrund von kulturellen Ungleichheiten wird in der Privatheit der Familien jedoch entweder Exklusivität oder potenzielle Bildungsarmut hergestellt (Büchner 2009).

Die Differenzen der Milieus von Familien zeigen sich (nach Bremer 2004) in folgenden Grundmustern der Bildungsmotivation bzw. in Grundprinzipien der Bildungsstrategie (s. Abb.).


Grundformen der Bildungsstrategien nach sozialen Milieus


Grundmuster
der Bildungsmotivation
Grundprinzip
der Bildungsstrategien
Bildungsnahe
Milieus
Selbstverwirklichung
und Identität
Kulturelle und
ökonomische Hegemonie
Aufstiegsorientierte
Milieus
Nützlichkeit
und Anerkennung
(Mehr) Autonomie

Bildungsferne
Milieus
Notwendigkeit
und Mithalten
Vermeidung
von Ausgrenzung

Quelle: Bremer 2004



Das Bildungsgeschehen im Privatraum der Familie ist nicht privat

Bei Bildung geht es insbesondere um die Anerkennung der Leistungen von Kindern. Nicht alle erbrachten privaten Bildungsleistungen werden jedoch vorbehaltlos öffentlich anerkannt (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006). Über einen »Bildungshabitus«, der im Schulalltag auch entsprechend anerkannt und honoriert wird, verfügen vor allem Mittelschichtskinder. Dagegen werden andere Kinder eher als bildungsarm wahrgenommen und geraten unter Marginalisierungsdruck, da ihr Bildungshabitus als weniger anerkennungsfähig gilt (Edelstein 2006).

In öffentlichen Bildungsinstitutionen herrscht ein Wettbewerbsdenken vor. Die Familie wird demgegenüber als (privater) Ort des Ausgleichs gegenüber Konkurrenz, Härte und Durchsetzung in der »rauen Wirklichkeit« angesehen - doch dieser Schein trügt. Das Ziel »Bildung von Anfang an« bedeutet für eine Familie Stimulus und Beruhigungsmittel. Es verspricht zum einen soziale Anerkennung sowie eine gesicherte Zukunft, ist aber zum anderen gleichzeitig auch »falscher Trost«, insbesondere für diejenigen, die bezüglich der Bildung nicht das einlösen können, was eigentlich für alle versprochen worden ist, nämlich kulturelle Teilhabe und soziale Anschlussfähigkeit an eine sogenannte Wissensgesellschaft (Büchner 2009).


Bildung bedeutet: Status und Habitus

Um Ausschluss von Bildungsmöglichkeiten (Exklusion) zu vermeiden und inklusive Bildung angemessen zu gestalten, ist neben einer »statusherstellenden« Bildungspolitik und, damit verbunden, einer präventiven Bildungssozialpolitik (Allmendinger 1999) auch eine »habitusherstellende« Bildungspolitik (Edelstein 2006) erforderlich: Bildung ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Arbeitsmarktes bedeutsam, sondern insbesondere auch unter dem Aspekt der Lebensführung und den damit verbundenen Kompetenzen, d. h. den so genannten Daseinsqualifikationen. Das bedeutet, Bildungsmöglichkeiten für (alle) Kinder zu schaffen, die nicht von Anfang an jene (an der Kultur der Mittelschicht orientierten) Basiskompetenzen entwickeln konnten bzw. können. Dies sind Kompetenzen, die in der Schule nicht entsprechend und selbstverständlich anerkannt und honoriert werden wie beispielsweise sozial kompetente Interaktionsformen, kompetentes Zeitmanagement, Belohnungsaufschub, Neugierverhalten, Eigeninitiative (Edelstein 2006). Eine habituserstellende Bildungspolitik muss jedoch durch kinder- und jugendpolitische Maßnahmen unterstützt werden (Albright/Luke 2008).


Private Kindheit - ein Trugbild?

Das Private ist nichts Unnennbares und Unsichtbares, denn das Private steht in Bezug zum Öffentlichen, es ist dessen »andere«, ihr gegenüber verborgene Seite, die jedoch gerade in dieser Eigenart ersichtlich und erkennbar wird (Jurczyk/Oechsle 2008). Dabei geht es immer auch um die Frage, welche Leistungen und Werte zwar privat von der Familie erbracht werden, jedoch in der Öffentlichkeit Eingang finden. Im Privaten verbergen sich die Eigenschöpfungen der Familien, die im Öffentlichen bestehen müssen.

Die »Anerkennung des Kindes« (Andresen 2009; 2008) sowie die Anerkennung der Bildungsleistungen in der Familie (Büchner 2009) markieren einen Wert des Privaten. Doch derzeit ist ein Defizitblick auf die Familie en vogue: Familie in ihrer Privatheit wird überwiegend als ein Ort des Mangels, der Armut, der Gefährdung, des Verlustes gesehen. Eltern seien den Aufgaben der Erziehung und Bildung nicht gewachsen, die Privatheit der Familie löse die Anforderungen nicht ein und aus diesem Grunde müssten die Kinder vom ersten Tag ihres Lebens an öffentlich betreut sowie von früh bis abends beschult werden (Jurczyk 2009; 2008).

Zwar muss auch die Frage nach den Risiken des Privaten gestellt werden, doch die Privatsphäre der Familie und somit auch die der Kinder nur als defizitär anzusehen, verkennt die Ambivalenz und die Unverzichtbarkeit ihrer Eigensinnigkeit (Freundschaften, Geheimnisse, Heimlichkeiten, Verstecke, Fantasiefiguren, innere Begleiter). Ferner negiert sie die Eigenkraft der Freiräume für Kinder jenseits der institutionellen Bildung.

Umso dringlicher ist es, das Alltagsleben heutiger Familien und heutiger Kinder genauer zu erforschen und dabei die unterschiedlichen privaten Räume, Milieus und Lebensformen zur Kenntnis zu nehmen.


Kontakt:
Dr. Karin Jurczyk, jurczyk@dji.de
Dr. Jürgen Barthelmes, barthelmes@dji.de

Vorträge zu »Private Kindheit« auf der DJI-Tagung »Kinder in Deutschland«, Berlin:
Sabine Andresen: Was ist »private Kindheit«? Perspektiven der Forschung
Peter Büchner: Bildung im Kindesalter - eine Privatsache? Oder: Bildung von Anfang an - ein Anspruch ohne Realität?
Karin Jurczyk: Kommentar zu »Private Kindheit«


Literatur:

Albright, James / Luke, Allen (2008): Pierre Bourdieu and Literacy Education. New York

Allmendinger, Jutta (1999): Bildungsarmut. Zur Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik. In: Soziale Welt 50, S. 35-50

Andresen, Sabine (2008): Strukturelle Gefährdungen der Familie im Blick der Forschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Geschichte der Familienforschung als Probleme ihrer Theorie. In: Ecarius, Jutta / Groppe, Carola / Melmede, Hans (Hrsg): Familie und öffentliche Erziehung. Theoretische Konzeptionen, historische und aktuelle Analysen. Wiesbaden

Andresen, Sabine (2009): Was ist »private Kindheit«? Perspektiven der Forschung. In: Kinder in Deutschland (Themenband; erscheint Sommer 2009)

Bremer, Helmut (2004): Der Mythos vom autonomen Subjekt. In: Engler, Steffanie / Krais, Beate) (Hrsg.): Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen. Weinheim/München, S. 189-213

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.; 2006): Zwölfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin

Büchner, Peter (2009): Bildung im Kindesalter - eine Privatsache? Oder: Bildung von Anfang an - ein Anspruch ohne Realität? In: Kinder in Deutschland (Themenband; erscheint Sommer 2009)

Demszky von der Hagen, Alma-Mira (2006): Netzwerke alltäglicher Lebensführung in einer großstädtischen Wohnsiedlung. Munden/Mering

Edelstein, Wolfgang (2006): Bildung und Armut. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation. H. 26, S. 120-134

Hengst, Heinz / Zeiher, Helga (2005): Kindheit soziologisch. Wiesbaden

Hurrelmann, Klaus / Andresen, Sabine / TNS Infratest Sozialforschung (2007): Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie. World Vision Deutschland e. V. (Hrsg.). Frankfurt am Main

Jurczyk, Karin (2008): Familie - Verschwinden oder Neustrukturierung des Privaten. In: Vorgänge, Nr. 183, H. 3, S. 4-15

Jurczyk, Karin (2009): Kommentar zu »Private Kindheit«. In: Kinder in Deutschland (Themenband; erscheint Sommer 2009)

Jurczyk, Karin / Oechsle, Mechtild (Hrsg.) (2008): Das Private neu denken. Erosionen, Ambivalenzen, Leistungen. Münster

Lange, Andreas (2006): Arbeits- und Familienzeiten aus Kinderperspektive. Wem gehört die Familie der Zukunft? In: Bertram, Hans / Krüger, Helga / Spieß, Katharina C. (Hrsg.): Expertisen zum 7. Familienbericht der Bundesregierung. Opladen, S. 125-143

Lareau, Annette (2003): Unequal childhoods. Class, race and family. Berkely

Meyrowitz, Joshua (1987): Die Fernseh- Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Weinheim/Basel

Rössler, Beate (2008): Der Wert des Privaten: Liberale Theorie und Gesellschaftskritik. In: Jurczyk, Karin / Oechsle, Mechtild (Hrsg.): Das Private neu denken. Erosionen, Ambivalenzen, Leistungen. Münster, S. 282-300

UNICEF (2007): Child poverty on perspective: An overview of child well-being in rich countries. Innocenti Report Card No. 7. UNICEF Innocenti Research Centre. Florence

Weiß, Ralph (2008): Das medial entblößte Ich - verlorene Privatheit? In: Jurczyk, Karin / Oechsle, Mechtild (Hrsg.) (2008): Das Private neu denken. Erosionen, Ambivalenzen, Leistungen. Münster, S. 174-191


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft Nr. 85, 1/2009 , S. 9-12
Herausgeber:
Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI)
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Tel.: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: barthelmes@dji.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. August 2009