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JUGEND/061: Wirklich eine zuversichtliche Generation? (spw)


spw - Ausgabe 5/2010 - Heft 180
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Debatte:
Wirklich eine zuversichtliche Generation?
Und wenn ja: Was heißt das?

Von Albert Scherr


Die Shell-Jugendstudien, ehedem das Flaggschiff einer theoretisch fundierten empirischen Jugendforschung, haben sich zunehmend zu einer Meinungs- und Einstellungsforschung über Jugendliche entwickelt, welche die mediale und politische Nachfrage nach einer leicht verständlichen Einschätzung der Situation "der Jugend" bedienen. Entsprechend finden sie regelmäßig breite öffentliche Resonanz und beeinflussen die öffentliche Einschätzung der Lage der nachwachsenden Generation. Dieser Erfolg hat durchaus seinen Preis: Schon die durchaus diskussionswürdige Frage, ob es sinnvoll und zulässig ist, die Altersgruppe der 12-25jährigen vereinheitlichend als eine Gruppe zu fassen, über die man sinnvoll Aussagen treffen kann, wird nicht gestellt. Und von internen Differenzierungen dieser Altersgruppe (etwa: prädoleszente, adoleszente und postadoleszente) wird ebenso weitgehend abgesehen wie von sozialen Diffenzierungen. Dem in der Jugendforschung unstrittigen Faktum sozial höchst ungleicher Jugenden wird nur mit einem recht groben Schichtungsindex Rechnung getragen. Vernachlässigt werden damit nicht nur Milieuunterschiede, sondern auch regionale Disparitäten.

Auch unabhängig hiervon sind die Kernbotschaften der jeweiligen Shell-Studien durchaus diskussionsbedürftig: Die 1997 erschienene 12. Studie stellte die Einschätzung ins Zentrum, dass "die gesellschaftliche Krise die Jugend erreicht" hat. Betont wurde, dass die Zeiten eines Aufwachsens jenseits der Sorgen der Erwachsenengesellschaft vorüber seien und Furcht vor Arbeitslosigkeit schon bei jüngeren Jugendlichen festzustellen sei. Eine Einschätzung, an der der Verfasser dieser Studie auch in aktuellen Veröffentlichungen noch festhält. Demgegenüber stellte bereits die 13. Studie (2000) "eine deutlich gewachsene Zuversicht in Bezug auf die persönliche wie auch in Bezug auf die gesellschaftliche Zukunft fest". In der kürzlich publizierten 16. Studie wird nunmehr als Kernbotschaft eine optimistische Grundhaltung diagnostiziert, wobei einschränkend angemerkt wird, dass dies auf Jugendliche aus der Unterschicht so nicht zutrifft.

Welche Daten liegen diesen Aussagen zu Grunde? Die statistischen Werte zur Einschätzung der persönlichen Zukunft verändern sich im Zeitverlauf zwar erheblich, aber keineswegs geradlinig: Der Anteil der Zuversichtlichen betrug in den Shell-Studien 1985 47%, 1992 61% (West) bzw. 53% (Ost), 1997 35%, 2000 50%, 2002 56%, 2006 50% und nunmehr 2010 59%, ist also nur wenig höher als 1992 und 2002. Ein gravierender Bruch scheint sich zwischen 1992 und 1997 (Abnahme) sowie dann erneut zwischen 1997 und 2000 (Zunahme) vollzogen zu haben. Bevor hieraus Rückschlüsse auf Jugendliche gezogen werden, wäre nicht nur zu klären, was dieseVerschiebungen veranlasst hat,sondern auch zu prüfen, ob sich parallele Entwicklungen auch bei Erwachsenen vollziehen.(1) Diskussionsbedürftig ist zudem, ob solche Zahlen etwas über biografisch einigermaßen stabile Mentalitäten, oder aber nur über instabile Stimmungslagen aussagen.

Instruktiv sind bezüglich der Frage, wie solche Daten zu interpretieren sind, Ergebnisse einer im Jahr 2000 durchgeführten Befragung von Jugendlichen die überwiegend die Hauptschule besuchen bzw. besucht haben und sich nunmehr in BVJ- und BEJ-Klassen vorfinden.(2) 81% dieser Jugendlichen beantworten die Frage, ob sie mit ihrem Leben insgesamt zufrieden sind, positiv;(3) auch die Frage nach ihrer Zufriedenheit mit ihren beruflichen Zukunftsaussichten beantworten 72,2% mit vollkommen oder eher zufrieden. Aber nur 54,8% dieser Jugendlichen stimmen zugleich der Aussage zu "Ich kann mir den Beruf nicht aussuchen. Ich muss froh sein, wenn ich überhaupt eine Lehrstelle bekomme." Und 44,3% sind sich unsicher, ob sie eine Arbeits- oder Ausbildungsstelle erhalten werden. Der Zusammenhang zwischen der Einschätzung der eigenen Chancen auf einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz und der allgemeinen Lebenszufriedenheit ist dabei zwar statistisch signifikant, aber schwach. Und es zeigt sich kein Zusammenhang zwischen der allgemeinen Lebenszufriedenheit und der Einschätzung der Chance, das Recht auf Berufswahl realisieren zu können.

Was folgt daraus? Die prekären Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen benachteiligter Jugendlicher übersetzen sich mehrheitlich nicht in eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben. Sie verbinden sich eher mit einem erzwungenen Realismus, d.h. einer Anpassung der eigenen Orientierungen an die gegebenen Verhältnisse sowie einer zweckoptimistischen Überschätzung der eigenen Chancen. Hinzu kommt im Fall der von uns befragten Jugendlichen eine individualisierende Deutung der Bedingungen des eigenen (Miss-)Erfolges: Über 95% stimmen der Einschätzung zu, dass beruflicher Erfolg vor allem von den eigenen Kenntnissen und Fähigkeiten abhängt, 90% rechnen diesen dem eigenen Einsatz zu, aber nur knapp 55% betrachten die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen als bedeutsam.

Generelle Einschätzungen der eigenen Situation und Zukunftsaussichten sind so betrachtet kein direkter Effekt der gesellschaftlichen Situation und ihrer Auswirkungen auf die eigenen Lebensbedingungen und Chancen. Es handelt sich vielmehr um das Ergebnis eines voraussetzungsvollen Wahrnehmungs- und Deutungsprozesses der eigenen Situierung in einem gesellschaftlichen Kontext, der für benachteiligte und privilegierte Jugendliche zweifellos höchst unterschiedliche Rahmenbedingungen der Lebensführung impliziert.


ANMERKUNGEN

(1) Möglicherweise handelt es sich im ersten Fall um einen keineswegs jugendspezifischen Effekt der negativen Stimmungslage, der entstand, nachdem deutlich wurde, dass die versprochenen blühenden Landschaften nicht in Sicht waren.
(2) Es handelt sich um das Projekt 'Jugend mit Chancen', das aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds im Rahmen des operativen Landesprogramms Baden-Württemberg durchgeführt wird.
(3) Das entspricht dem Durchschnittswert der aktuellen Shell-Studie, liegt aber erheblich über dem dort angegeben Wert für die dort sog. "unterste Herkunftsschicht", der die von uns Befragten mehrheitlich zuzurechnen sind.


Prof. Dr. habil. Albert Scherr, geb. 1958, lehrt und forscht am Insititut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Arbeitschwerpunkte: Jugendforschung, Migrations- und Diskriminerungsforschung, Soziologie und Theorie der Sozialen Arbeit. Aktuelle Veröffentlichungen u.a.: Jugendsoziologie, 9. Aufl., Wiesbaden 2009; Transdisziplinäre Jugendforschung, Wiesbaden 2010.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2010, Heft 180, Seite 9-10
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2010