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KULTUR/038: Warum Menschen sich verstehen - oder auch nicht (forsch - Uni Bonn)


forsch 3/2007 - Juli 2007
Bonner Universitäts-Nachrichten

Ein kompliziertes Geflecht
Warum Menschen sich verstehen - oder auch nicht

Von Ulrike Eva Klopp


Wieso reagiert der jetzt so? Diese Frage stellt sich schon im eigenen Umfeld häufig. Umso komplizierter wird es, wenn Menschen ganz unterschiedlicher Kulturkreise sich nicht nur verständigen, sondern auch verstehen wollen. Vom privaten oder beruflichen Kontakt bis zu Politik und Diplomatie auf höchster Ebene: Immer bestimmt ein kompliziertes Geflecht das soziale Miteinander. Disziplinen der Geisteswissenschaften vermitteln, wie das funktioniert - oder warum es zu Irritationen kommt.

Der Tourist in Nordamerika interessiert sich ehrlich für die American Indians. Er schaut dem Navajo gerade in die Augen, fischt nach seiner Hand und drückt sie fest. "Darf ich bei Ihrer exotischen Zeremonie fotografieren?" will er wissen. Sein Gegenüber versteinert. Die American Indians empfinden soviel Direktheit als aggressives Verhalten. Dr. Andrea Grugel hat während ihrer Doktorarbeit über wirtschaftliche Entwicklung und kulturelle Perspektiven bei den Pueblo-Indianern dauerhafte Kontakte in New Mexico/USA geknüpft. "Jeder Weiße macht hier erstmal dieselben Fehler", weiß sie inzwischen. "Aber im Hinblick auf das Arbeitsleben außerhalb der Reservationen müssen andererseits die Indianer über ihren Schatten springen." Das heißt: Bei einem Vorstellungsgespräch Blicken nicht ausweichen, um nicht unsicher oder desinteressiert zu wirken, klare Fragen zu Arbeitsfeld und Verdienst stellen. Anpassung von beiden Seiten ist nötig. Das gilt auch für das sehr vertrauliche Gegenteil, das nicht jedermanns Sache ist: Südamerikaner führen gern Gespräche "Nase an Nase". Zurückweichen und Nachsetzen können - mehrfach wiederholt - ebenfalls zu Missverständnissen führen.


Crashkurs reicht nicht

In China - wie auch in anderen asiatischen Ländern - gilt das Vermeiden von Augenkontakt ebenfalls als Zeichen von Respekt. Die erste Begegnung ist stark formalisiert, danach folgt gegenseitigem Kennenlernen und dann erst das Geschäft. "Also Zeit mitbringen, nicht schon am nächsten Tag den Weiterflug buchen", sagt Jari Grosse-Ruyken von der Abteilung für Sprache und Geschichte Chinas, Vorsitzender der Bonner Gesellschaft für China-Studien Er kennt nicht nur das und seine Menschen sondern war schon häufig als Dolmetscher und "Kulturtrainer" tätig. Er weiß: "Crashkurse und Interkulturelle Trainings, die sich auf die Vermittlung von 'do und don't'-Listen beschränken, bringen nicht viel."

Dass Visitenkarten für die Person stehen und mit Achtsamkeit behandelt werden sollten, dass Rang, Titel und Seniorität eine größere Bedeutung haben als bei uns, und dass es auch bei Präsenten und ihrer Verpackung zahlreiche Fettnäpfchen gibt, das sind inzwischen weitverbreitete Grundkenntnisse.

Noch immer könne man im Umgang mit dem Fremden und dem Thema Kultur aber zwei Extreme beobachten: "Kultur- und Sprachkompetenz werden als reine 'nice to haves' betrachtet, die sich in der Unternehmenspräsentation gut machen, aber in der Praxis selten wirklich berücksichtigt werden". Das andere, oft von Beratern und Trainern vertretene Extrem besteht in einer Mystifizierung der fremden Kultur. "Da muss der arme Konfuzius dann für allerhand Unsinn herhalten". In beiden Fällen drohen persönliche Frustration, Effizienzeinbußen und handfester wirtschaftlicher Schaden. "Nichtmystifizieren, sondern verstehen: Wie ist die heutige Gesellschaft entstanden, welche Rolle spielen Geschichte, Religion, Kultur, Politik?" Die Beschäftigung mit Konfuzius kann dabei - seriös betrieben - dann doch sehr hilfreich sein. "So wie man von Platon und dem Christentum eine Menge über die bis in die Gegenwart gültigen Grundlagen abendländischen Denkens lernen kann, so gibt die Beschäftigung mit dem altchinesischen Weisen Einblick in eine grundlegend andere Sicht von Mensch und Welt. Und wer dann noch Sprachkenntnisse und ein anthentisches Auftreten mitbringt, dem werden unvermeidliche Fehler eher nachgesehen."


Sprache - und Missverständnisse

In Dublin schleppt sich ein deutscher Tourist mit mehreren Gepäckstücken ab. Ein irischer Passant fragt: "Kann ich Ihnen helfen?" "Nein danke." "Sind Sie sicher?" "Ja!" Der Deutsche fühlt sich schon fast belästigt. Der Ire seinerseits wundert sich über die abweisende Reaktion. Für ihn und seine Landsleute ist ein zweites Angebot eine Sache der Höflichkeit und wird oft auch erst dann angenommen. Deshalb sollte er in Deutschland mit seiner ersten Ablehnung aufpassen - dort folgt ein zweites Angebot eher nicht und dann steht er mit seinen Koffern alleine da...

Dr. Anne Barron vom Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie hat Unterschiede vor allem zwischen englischsprachigen Ländern, aber auch zu Deutschland untersucht. "Solche Unterschiede haben oft schwerwiegende Konsequenzen für zwischenmenschliche Beziehungen. Man bedenkt nicht, dass sie mit Sprache und Kultur zusammenhängen, sondern hält den Gesprächspartner einfach für unhöflich", sagt sie. "Man muss zwar nicht in jeder Situation wissen, wie sich Sprecher einer bestimmten Kultur verhalten - aber das Bewusstsein, dass es Unterschiede gibt, gehört zur interkulturellen Kompetenz." Zwar gibt es durchaus Gemeinsames: Floskeln, Indirektheit und Abschwächung sind Ausdruck von Höflichkeit. Auch den Grundsatz, die Sprache dem jeweiligen Umfeld anzupassen, kennen alle Kulturen - allerdings nicht immer nach dem gleichen Muster. Schon in der Muttersprache trifft man nicht immer den richtigen Ton, wird mit einem "Etikett" versehen und abgelehnt. Umso schwieriger ist das in einer Fremdsprache.

So ist in Japan oder China ein hoher gesellschaftlicher Status wichtiger als in den USA - das beeinflusst auch die Sprachebene. "Wer nach Japan geht, muss außerdem wissen, dass es selbst innerhalb ein und derselben Branche unterschiedliche Unternehmens- und damit Sprachkulturen gibt, von westlich orientiert bis konservativ-ritualisiert", sagt der Japanologe Dr. Günter Distelrath. "Das erleben auch unsere Studierenden bei ihren Unternehmenspraktika vor Ort. Ansonsten gibt es viele Ebenen vom 'Kneipenjapanisch' bis zu einem sehr gehobenen Stil. Dies drückt sich auch in der begleitenden Körpersprache aus: Ob man nun drei oder nur eine Verbeugung macht, hängt von der jeweiligen Situation ab, ist aber auch eine Generationenfrage." Er räumt auch gleich mit dem Missverständnis auf, Japaner seien immer zurückhaltend: Im Parlament gehe es schon mal richtig deftig zu.


Soziale Systeme

Nicht nur Missverständnisse im Alltag, sondern auch fatale Fehleinschätzungen im Krisenfall können entstehen, wenn das Wissen über die Vergangenheit eines Volkes, über soziale und politische Systeme, Werte und Religion lückenhaft ist. "Schon bei anscheinend Alltäglichem wie einem gemeinsamen Essen kann man viel falsch machen", sagt der Religionswissenschaftler und Kustos des Instituts für Orient- und Asienwissenschaften Ulrich Vollmer. Das reicht von der Multikulti-Studenten-WG bis zum politischen Parkett: "Manche Religionsgemeinschaften verzichten zum Beispiel zu bestimmten Zeiten auf bestimmte Nahrungsmittel. Manche sogar generell. Wenn also eine westliche Botschaft in Delhi ein Festessen ausrichtet, muss der Küchenchef unbedingt wissen: In Indien gibt es Moslems und Hindu. Moslems essen kein Schweinefleisch, Hindu kein Rind. Also könnte Huhn oder Lamm serviert werden - es sei denn, man hat Vegetarier am Tisch, was in Indien sehr häufig ist. Die essen beides nicht und auch keinen Fisch..." Und wenn der westliche Gast Rinder wie zu Hause einfach von der Landstraße hupt, so ist das in Indien ein ebensolcher Affront wie in Thailand einem Kind über den Kopf zu streicheln oder im arabischen Raum mit der "unreinen" linken Hand zu winken oder Nahrungsmittel zu berühren.

Aktuell zeigt sich die Fremdheit von Systemen in der Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Und: "Das Debakel der USA im Irak hängt auch damit zusammen, dass die Amerikaner die militärische Lage vielleicht richtig, aber die politische und kulturelle Situation vollkommen falsch eingeschätzt haben", sagt Professor Dr. Jürgen Fohrmann. Der Dekan der Philosophischen Fakultät kennt ganz verschiedene Kulturkreise aus eigener Erfahrung: Er lehrte und forschte in Australien, den USA, Israel und Japan.

Ein anderes Beispiel untersuchte Lisanna Görtz in ihrer Magisterarbeit: die Rhetorik von US-Präsident George W. Bush im Laufe des Irakkrieg und ihre - auch kulturell bedingt - verzerrte Wahrnehmung in Deutschland.


Historische Empfindlichkeiten

Jedes Volk hat seine Geschichte und damit seine Empfindlichkeiten. Das prägt die Begegnung: Äußerungen werden auf die Goldwaage gelegt, Missverständnisse haben weitreichende Folgen. "Auch wenn viele Konflikte beigelegt scheinen, Zeitzeugen nicht mehr leben und die jüngeren Generationen unbefangener aufeinander zugehen - alte Wunden können immer wieder aufbrechen", sagt der Historiker Dr. Christoph Studt. In den USA sind das die Sklaverei und die Vertreibung beziehungsweise schlechte Behandlung der indianischen Ureinwohner. Und Deutschland wird für immer mit der Schuld des "Dritten Reichs" und des Zweiten Weltkriegs verbunden bleiben.

Beispiel Polen: "Die Vertreibung der nationalsozialistischen Okkupanten aus dem Land ist 1945 gelungen", sagt Studt. "Heute gehört es - wie Deutschland - zur EU. Wenn die jüngere Generation für wenig Geld als Erntehelfer in Deutschland arbeitet, ist das für sie ein Stück Normalität, für die Älteren jedoch gewiss auch eine Schmach."

Als weiteres Beispiel nennt Dr. Studt Oradour-sur-Glane in Frankreich. Dort hatte die SS 1944 als "Vergeltungsmaßnahme" die Zivilbevölkerung ermordet und das Dorf zerstört. Neben dem neu entstandenen Oradour stehen die Ruinen des alten und ein Museum. Deutsche Besucher können bis heute nicht unbedingt mit wohlwollendem Empfang rechnen; trotz Pflege der deutsch-französischen Freundschaft steht das "pourquoi - warum?" immer noch im Raum.


Einfluss der Medien

"Die mediale Vermittlung spielt eine große Rolle: So mache ich mir ein Bild von einer Gesellschaft, wenn ich sie selbst noch nicht kennen gelernt habe", sagt Lars Winterberg von der Kulturanthropologie/Volkskunde. "Wer einen Fernsehbericht darüber sieht, dass man in Korea oder Südchina Hunde als Delikatesse betrachtet - des Deutschen liebste Haustiere - ist schon befremdet, ohne wirklich etwas über diese Kultur zu wissen. Stereotypen, wie sie auch in 'Manuals' für Manager verwendet werden, sind überhaupt das Problem: Je nach Ort, Zeit und sozialem Umfeld begegnen wir unterschiedlichen Gruppen in einem fremden Land."

Für die jüdische Soziologiestudentin Hanna Loginow aus der Ukraine ist die historische Belastung für Menschen ihres Glaubens in Deutschland kein Thema. Eher, dass Viele ihre Heimat mit Russland gleichsetzen. Im Studium untersucht sie, wie die Medien Wissen und Meinungen über andere Länder beeinflussen, und stellt gleichermaßen betroffen wie amüsiert fest: "Erst seit dem überraschenden Erfolg beim Eurovision Song Contest 2005 oder seit Joschka Fischers Visa-Affäre wissen die Leute in Deutschland, dass die Ukraine kein Teil Russlands ist, sondern ein Nachbarland."


Geselligkeit

"Komm mal vorbei!" sagt der Student seinem afrikanischen Kommilitonen nach dem Seminar. Wenn der das spontan tut und ungelegen kommt, fühlt er sich abgewiesen: "Ihr Deutschen braucht immer eine Verabredung..." In seiner Heimat wie auch im arabischen Raum ist Gastfreundschaft das Gebot der Stunde - jederzeit. Und über die Gastfreundschaft der Mongolen berichteten nicht nur chinesische Gesandte im 13. Jahrhundert, auch die apl. Professorin Dr. Veronika Veit, Mongolei-Expertin am Institut für Orient- und Asienwissenschaften, erlebt sie immer wieder. "Ob Landsleute oder Europäer - man kommt an keiner Jurte vorbei." Ob es dann zu Missverständnissen kommt, hängt weniger von Sprachkenntnissen als dem Verhalten ab: "Hier gibt es zwei Schlüsselworte: yostoj und yosguj. Das erste bedeutet soviel wie 'Dieser Mensch ist ein Mensch, der weiß, was sich gehört', das zweite '... von dem man besser die Finger lässt'." Dazu gehört Respekt vor Älteren - auch wenn der Unterschied nur ein Jahr beträgt. Problem: Wie erkenne ich das? Gespannt ist Professorin Veit auf die wissenschaftliche Arbeit einer ihrer Studentinnen, die sich gezielt mit der Begegnung zwischen Mongolen und Deutschen beschäftigt.

Auch das Dezernat für Internationale Angelegenheiten lädt regelmäßig zur Sensibilisierung ein: "Meet the Germans" bereitet ausländische Gäste auf unvertraute Verhaltensweisen vor, die zu Missverständnissen führen können. So vergibt zum Beispiel ein Deutscher "Very good!" als hohes Kompliment - der Amerikaner hätte "Excellent" oder gar "Absolutely outstanding!" gesagt und fühlt sich gar nicht gelobt. Hanna Zimmermann bringt auf den Punkt, wie Kontakte nicht nur Gast und Gastland einander näher bringen, sondern auch Missverständnisse beilegen helfen: "Manche Nationen können normalerweise nicht besonders miteinander - aber gemeinsam in der Fremde entdecken sie plötzlich, was sie verbindet."


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Quelle:
forsch - Bonner Universitäts-Nachrichten Nr. 3, Juli 2007,
Seite 8-11
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2007