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THEORIE/007: Desintegrationstheorie - ein Erklärungsansatz (Uni Bielefeld)


BI.research 30.2007
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Desintegrationstheorie - ein Erklärungsansatz
Die ungenügenden Integrationsleistungen einer modernen Gesellschaft

Von Reimund Anhut


Am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung spielt die soziologisch inspirierte, gleichwohl transdisziplinär angelegte Desintegrationstheorie eine besondere Rolle. Spezifischer Erklärungsgegenstand der Desintegrationstheorie sind die Phänomenbereiche Gewalt(-kriminalität), Rechtsextremismus sowie ethnisch-kulturelle Konflikte in der Form der Abwertung und Abwehr ethnisch Anderer. Desintegration betont dabei die nicht eingelösten Leistungen von gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen, in der Gesellschaft existentielle Grundlagen, soziale Anerkennung und persönliche Unversehrtheit zu sichern. Die Grundthese ist, dass mit dem Grad der Desintegrationserfahrungen und -ängste auch Ausmaß und Intensität der genannten Konflikte zu- und ihre Regelungsfähigkeit abnimmt. Der Desintegrationsansatz erklärt also Gewalt, Rechtsextremismus und die Abwertung und Abwehr ethnisch Anderer oder schwacher sozialer Gruppen mit ungenügenden Integrationsleistungen einer modernen Gesellschaft. Dabei wird kein direkter, deterministischer Zusammenhang auf der individuellen Ebene angenommen, sondern es sind milieuspezifische "Brechungsfaktoren" und Mobilisierungen dazwischen geschaltet.


Soziale Integration auf drei Ebenen

Aus Sicht des Desintegrationsansatzes bedarf es insbesondere der Lösung dreier Aufgabenstellungen, um soziale Integration sicherzustellen. Auf der sozialstrukturellen Ebene (dem Reproduktionsaspekt) stellt sich hiernach das Problem der Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft, was objektiv im Regelfall durch ausreichende Zugänge zu Arbeits-, Wohnungs- und Konsummärkten sichergestellt wird, aber auch subjektiv eine Entsprechung in Form einer Zufriedenheit mit der beruflichen und sozialen Position erfordert. Auf der institutionellen beziehungsweise gesellschaftlich-normativen Ebene (dem Vergesellschaftungsaspekt) geht es zweitens um die Sicherstellung des Ausgleichs konfligierender Interessen, ohne die Integrität von Personen zu verletzen. Dies erfordert aus Sicht des Desintegrationsansatzes die Einhaltung basaler demokratischer Prinzipien, die die moralische Gleichwertigkeit des (politischen) Gegners gewährleisten und die von den Beteiligten als fair und gerecht bewertet werden können. Die Aushandlung und konkrete Ausgestaltung dieser Prinzipien, die im Einzelfall bedingt jedoch ebenfalls entsprechende Teilnahmechancen und -bereitschaften der Akteure. Auf der personalen Ebene (die den Vergemeinschaftungsaspekt umfasst) schließlich geht es um die Herstellung emotionaler beziehungsweise expressiver Beziehungen zwischen Personen zum Zwecke von Sinnstiftung und Selbstverwirklichung. Hier werden erhebliche Zuwendungs- und Aufmerksamkeitsressourcen aber auch die Gewährung von Freiräumen sowie eine Ausbalancierung von emotionalem Rückhalt und normativen Anforderungen benötigt, um Sinnkrisen, Orientierungslosigkeit, eine Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls oder Wertediffusion und Identitätskrisen zu vermeiden. Die Bewältigung der genannten drei Aufgabenstellungen wird innerhalb des Desintegrationsansatzes als individuell-funktionale Systemintegration (sozialstrukturelle Ebene), kommunikativ-interaktive Sozialintegration (institutionelle Ebene) sowie als kulturell-expressive Sozialintegration (sozio-emotionale Ebene) bezeichnet. Eine gelungene Bewältigung der Aufgabenstellungen führt aus Sicht des Desintegrationsansatzes zur Bereitstellung von positionaler, moralischer und/oder emotionaler Anerkennung und einer Selbstdefinition als zugehörig zum entsprechenden sozialen Kollektiv. Auf der Basis sozialer Integration ist dann auch freiwillige Normakzeptanz erwartbar. Unter den Bedingungen von Desintegration hingegen müssen die Auswirkungen des eigenen Handelns auf Andere nicht mehr sonderlich berücksichtigt werden, was die Entwicklung anti-sozialer Einstellungen begünstigt.


Individueller Umgang mit Desintegrationserfahrungen

Nicht jede Desintegrationserfahrung übersetzt sich aus dieser Sicht bruchlos in anti-soziale Einstellungen oder Verhaltensweisen. Auf der individuell-biographischen Ebene entscheiden vielmehr individuelle soziale Kompetenzen, Verantwortungszuschreibungen und soziale Vergleichsprozesse darüber, wie mit Desintegration umgegangen wird. Je nach dem Grad ihrer sozialen Kompetenz sind Menschen zum Beispiel unterschiedlich gut oder schlecht in der Lage, desintegrative, mit dem Schicksal persönlichen Scheiterns verbundene Erfahrungen zu verarbeiten. Personen mit hoher sozialer Kompetenz verfügen nicht nur über bessere Anpassungsstrategien, sondern auch über ein aktives Umweltmanagement, so dass es ihnen leichter fällt, erlittene Frustrationen zu ertragen, abzuwehren oder umzuwandeln. Im Falle individueller Verantwortungszuschreibungen (die Personen rechnen sich die Ursache des Versagens selbst zu), wären zum Beispiel eher Apathie und Resignation erwartbare Reaktionsmuster; während kollektive Verantwortungszuschreibungen eher Vorurteile oder Feindbilder begünstigen, weil sie den Individuen helfen, angesichts bestehender Belastungen und innerer Spannungen ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten.

Welches konkrete Handlungsmuster im Einzelfall gewählt wird, entscheidet sich neben dem Zusammenwirken der Anerkennungsverletzung mit biographischen Erfahrungen aber auch aus den jeweiligen Gelegenheitsstrukturen (unter anderem Bezugsgruppenorientierungen, Einbindung in soziale Milieus) und der spezifischen Funktion, die dem gewählten Handlungs- beziehungsweise Einstellungsmuster für die Kompensation der Anerkennungsbeschädigung zukommt. Je schlechter die Beurteilung der Integrationsqualität in den drei genannten Integrationsdimensionen ausfällt, d.h., je unsicherer und labiler die Lebensbedingungen, je unklarer die Perspektiven, je weniger verlässlich und je instrumenteller die vorgelegten Handlungsmuster ausfallen, desto mehr muss mit Verunsicherung und Akzeptanz dysfunktionaler Problembearbeitungsmuster gerechnet werden.


Dr. Reimund Anhut ist wissenschaftlicher Angestellter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und lehrt an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Gerechtigkeitsforschung, Gewaltursachen und Gewaltprävention, Konflikttheorie und soziale Desintegration.



Integrationsdimensionen, Integrationsziele und Beurteilungskriterien für erfolgreiche soziale Integration
Integrationsdimension:

strukturell: individuell-funktionale
Systemintegration
institutionell: kommunikativ-interaktive
Sozialintegration
sozio-emotional: kulturell-expressive
Sozialintegration
Lösung folgender
Aufgabenstellung:
Teilhabe an materiellen und
kulturellen Gütern
Ausgleich konfligierender Interessen

Herstellung emotionaler Beziehungen

Beurteilungskriterien:



Zugänge zu Teilsystemen (objektiv),
Soziale Wertschätzung (subjektiv)


Teilnahmechancen / Teilnahmebereitschaft
[am Entscheidungsprozeß]
Einhaltung von Grundprinzipien
(Fairness, Gerechtigkeit, Solidarität)
Anerkennung personaler Identität
Akzeptanz kollektiver Identitäten
und Symbolik

Anerkennungsformen:

positionale Anerkennung
(wie zum Beispiel berufliche Stellung)
moralische Anerkennung
(zum Beispiel politische Mitsprache)
emotionale Anerkennung
(aus dem engen sozialen Umfeld)

Quelle: Anhut und Heitmeyer: 2000



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Quelle:
BI.research 30.2007, Seite 55-58
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld,
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Informations- und Pressestelle in Zusammenarbeit mit dem
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BI.research erscheint zweimal jährlich


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. September 2007