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THEORIE/008: Mut zur Vision - Probleme mit der Prognose (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2009

Mut zur Vision
Probleme mit der Prognose

Von Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer


Was haben die für die interpretativen Sozialwissenschaften typischen Detail- und Fall-Studien eigentlich zu tun mit jenen unweigerlich großflächigen und nicht selten auch grobschlächtigen Gegenwarts- und Zukunftsbildern, die zu malen von uns zumindest dann erwartet wird, wenn wir uns an den Fenstern des akademischen Elfenbeinturmes auch nur zeigen, uns aus diesen hinauslehnen, oder wenn wir das Getürme gar verlassen?


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Um das, was je "Ertrag" unserer konkreten, auf Durchblicke abzielenden empirischen Arbeit ist, einordnen, gewichten und bewerten zu können, verschaffen wir uns durch "wilde", d.h. durch dezidiert assoziative Rezeptionen und Reflexionen aller möglichen, von uns als - potenziell - einschlägig erachteten Informationen einen sozusagen synoptischen Überblick, d.h. eine hinlängliche Kompetenz dafür, in allen Eigenartigkeiten, Unübersichtlichkeiten und Widersprüchlichkeiten der vielfältigen Phänomene, die wir erkunden, auch das Typische bzw. strukturell Gemeinsame zu erkennen. Diese "hintergründige", kaum systematisierbare synoptische Unternehmung zielt in der Kombination mit einem synchronen Vergleichen unserer Forschungsfelder darauf ab, allgemeine Merkmale bzw. Strukturen herauszuarbeiten, um zu abstrakten diagnostischen Aussagen zu gelangen.

Damit wir aus dem, was wir "heute" wissen, eventuell auch etwas über "morgen" lernen können, ist es darüber hinaus erforderlich, die Diagnose in Richtung Prognose weiterzuentwickeln. Die "Logik" dieses Vorgehens besteht grosso modo darin, die im Zuge synchronen Vergleichens unserer Forschungsfelder unter Nutzung der Strukturbeschreibung als Matrix zum Vergleich von Dateninterpretationen gewonnenen Erkenntnisse diachron zu wenden, d.h. auf die Zeitachse umzulegen, um damit nicht nur zu Aussagen über die Gegenwart, sondern - darüber hinausweisend - zu Aussagen über Szenarien des Zukünftigen zu gelangen.

Das impliziert die Einschätzung, dass die Hauptaufgabe interpretativer Diagnostik und Prognostik nicht in Extrapolationen quantifizierbarer Verläufe bzw. statistischer Trends, sondern eben in der Entfaltung von Möglichkeitsräumen liegt; in einer solchen Entfaltung allerdings, die irgendwelchen Rationalitäts- und Validitätsannahmen genügen müsste, um mehr zu sein als "nur" fantasievolle Spekulation. Unbeschadet dieser wissenschaftlich unabdingbaren Disziplinierung lassen sich auch von methodisch kontrollierten interpretativen Diagnosen und Prognosen prinzipiell keine planungsverlässlichen Zukunftsvorhersagen erwarten. Daraus resultiert - gelingenderweise - eher eine Erhöhung der Sensibilität für das, was aus dem je Getanen heraus je sich zu entwickeln beginnt, also - mit anderen Worten - ein stärkeres Interesse an Problemen der Früherkennung.

Schon Igor Ansoff, der Entdecker bzw. Erfinder der sogenannten "schwachen Signale", hat die Grundproblematik der Früherkennung ja pointiert benannt: Einerseits ist man dabei mit ambiguen und ambivalenten Erwartungen, also mit Unsicherheit konfrontiert, andererseits - und das ist das weitaus gravierendere Problem - mit der Erstmaligkeit von Symptomen und Symptomkombinationen, also mit substanzieller Unklarheit. Unweigerlich sind wir bei Früherkennungsambitionen deshalb mit (beträchtlichen) Informationslücken und Interpretationsspielräumen konfrontiert, also mit einem gewissen Grad an strukturellem Nichtwissen. Interpretative Methoden der Diagnose und Prognose haben in diesem Zusammenhang vor allem die Aufgabe, unser strukturelles Nichtwissen so zu "managen", dass Früherkennung - trotzdem - sinnvoll betrieben werden kann.

(Der Bedarf nach) Früherkennung bezieht sich auf Neues. Was "das Neue" ist, bzw.: wodurch "Neues" neu ist, ist strittig. Der Kunstphilosoph Boris Groys hat eine neue Bestimmung des "Neuen" vorgeschlagen, wonach dieses daraus resultiert, dass etwas - sei es eine Idee, ein Konzept, ein Objekt - dann für uns neu ist, wenn es aus seinem ursprünglichen Kontext herausgenommen und in einen anderen Kontext gestellt wird, wenn es also "qualitativ" verändert wird; genauer: wenn und dadurch, dass es reinterpretiert wird. Und Andrew Grove hat darauf hingewiesen, dass wir unweigerlich mit anekdotischen Evidenzen operieren müssen, wenn die Phänomene, die uns interessieren, in diesem Sinne neu sind, wenn sie also einen relativ hohen Grad an Ein- bzw. Erstmaligkeit aufweisen. Denn, so Alois Hahn, "eben damit erzeugen wir gleichzeitig die pragmatische Notwendigkeit und die kognitive Unmöglichkeit richtiger Prognosen".


Der Sinn des Nicht-Wissens

Was also können wir von Zukünftigem, vom (erstmals) Möglichen, bzw. was können wir unter den Bedingungen strukturellen Nichtwissens überhaupt wissen? - Nun, vorherzusagen, was sein wird, ist "eigentlich" gar nicht der Zweck interpretativer Prognostik. Diese soll vielmehr dazu dienen, auf das aufmerksam zu machen, was aus dem resultieren kann, was wir tun. Und dabei wiederum gilt es, den taxonomischen Vorschlag zu beherzigen, den der bekannte Unternehmensstrategie-Berater Paul Schoemaker einmal gemacht hat: "When contemplating the future, it is useful to consider three classes of knowledge: 1. Things we know we know, 2. Things we know we don't know, 3. Things we don't know we don't know". - Dem empfehlen wir, noch eine vierte Wissensform hinzuzufügen: Things we don't know we know - denn womöglich ist gerade dieser Wissens- bzw. genauer: Nicht-Wissenstypus - sogar mehr noch als die drei von Schoemaker genannten - derjenige, dessen Handling des Rekurses auf die interpretative Methodologie und Methodik bedarf.

Der Sinn von Prognosen, so erläuterte sinngemäß Matthias Horx im Spätsommer 2003 im Schweizer Fernsehen, sei nicht, das vorherzusagen, was sein wird, sondern auf das aufmerksam zu machen, was aus dem resultiert (bzw. resultieren kann), was wir tun. Und ganz in diesem Sinne besteht unseres Erachtens auch der Sinn von Diagnosen nicht darin, zu erklären, was ist, sondern zu verstehen, was wir tun. Verstehen zu wollen, was wir tun, um prognostische Vorstellungen davon entwickeln zu können, was das, was wir tun, für uns bedeutet, bedeuten wird und bedeuten könnte, das impliziert folglich, unsere gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen zu re-konstruieren, um das uns je Mögliche zu konstruieren.


Ronald Hitzler (* 1950) ist Professor für Allgemeine Soziologie an der TU Dortmund.
ronald@hitzler-soziologie.de

Michaela Pfadenhauer (* 1968) ist Professorin für Soziologie an der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der TH Karlsruhe.
pfadenhauer@soziologie.uka.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2009, S. 25-27
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2009