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MELDUNG/2057: Ein Tortenstück im Schwergewicht (SB)



Joseph Parker und Andy Ruiz kämpfen um den WBO-Titel

Die World Boxing Organization (WBO) hat einen Kampf zwischen Joseph Parker und Andy Ruiz um den vakanten Titel im Schwergewicht angeordnet, nachdem Tyson Fury kürzlich seine Gürtel zurückgegeben hat. Der Sieger soll dann binnen vier Monaten gegen David Haye antreten, der an Nummer vier der WBO-Rangliste geführt wird. Macht der Brite von diesem Vorrecht keinen Gebrauch, kommt der nächstplazierte Kandidat an die Reihe. Das wäre nach aktuellem Stand Hughie Fury, den diese Aufgabe absehbar überfordern würde. Sollte es überhaupt dazu kommen, könnte sein Vater und Trainer Peter Fury erneut Vernunft walten lassen und Verzicht üben, wie er es schon im letzten Jahr bei einem Angebot des WBC-Weltmeisters Deontay Wilder getan hat. [1]

Der auf dem WBO-Konvent in San Juan beschlossene Schritt, den in 21 Kämpfen ungeschlagenen Neuseeländer Joseph Parker gegen den in 29 Auftritten siegreichen Puertoricaner Andy Ruiz antreten zu lassen, kam nicht unerwartet. Die Verbandsführung hatte bereits zuvor signalisiert, daß sie den Gürtel nicht für einen möglichen Kampf zwischen IBF-Champion Anthony Joshua und dem ehemaligen Weltmeister Wladimir Klitschko zur Verfügung stellen würde. Damit hebt die WBO ihre Eigenständigkeit hervor und bringt insofern frischen Wind in die Szene, als sie einer erneuten Konzentration der Titel vorbeugt, die in der langen Ära Klitschkos zur Stagnation im Schwergewicht beigetragen hatte.

Als Ranglistenerster der IBF ist Joseph Parker Pflichtherausforderer Anthony Joshuas, dessen Promoter Eddie Hearn diesen Kampf im Frühjahr 2017 austragen wollte. Für den 24jährigen Neuseeländer dürfte jedoch ein Duell um den WBO-Titel mit Andy Ruiz, das voraussichtlich am 10. Dezember in Neuseeland über die Bühne gehen wird, nicht nur die leichtere, sondern wohl auch lukrativere Option sein. Vor allem aber hat Parker vor heimischem Publikum wesentlich bessere Chancen, im Falle eines knappen Verlaufs nicht benachteiligt zu werden, als bei einem Auftritt gegen Joshua in England, der dort eine riesige Fangemeinde mobilisieren kann. Davon abgesehen könnte ein Kampf zwischen Parker und Joshua zu einem späteren Zeitpunkt unter wesentlich günstigeren Konditionen für den Neuseeländer stattfinden, sofern es ihm gelingt, sich den WBO-Titel zu sichern.

Für David Haye eröffnet sich die Gelegenheit, ohne weitere Hürde einen Titelkampf zu bekommen. Seit der Wiederaufnahme seiner Karriere nach mehrjähriger Unterbrechung hat er mit Mark de Mori und Arnold Gjergjaj zwei weithin unbekannte Gegner auf die Bretter geschickt. Ein Kontrahent vom Kaliber Joseph Parkers wäre ein ungleich härterer Prüfstein für den 36jährigen Briten, da der Neuseeländer größer und jünger ist, wie auch eine enorme Schlagwirkung entfalten kann. Letzteres gilt auch für Haye, doch stellt sich die Frage, ob er mit seinen gewaltigen Schwingern an Parker herankäme. Dieser hat kürzlich mit Alexander Dimitrenko kurzen Prozeß gemacht, der binnen drei Runden die Segel streichen mußte. David Haye ist also gewarnt, daß es ihm ähnlich ergehen könnte, sofern der Neuseeländer seine verheerenden Uppercuts anbringen kann.

Die Zeitvorgabe der WBO durchkreuzt die Pläne Hayes, sich am 4. März mit seinem Landsmann Tony Bellew zu messen, dem WBC-Weltmeister im Cruisergewicht. Diese Option favorisieren Bellew und dessen Promoter Eddie Hearn, da sich der Kampf bei Sky Box Office im britischen Pay-TV ausgezeichnet vermarkten ließe. Für Haye, der seit Jahren im Schwergewicht antritt, ist der Titel im Cruisergewicht zwar nicht sonderlich attraktiv, doch wäre der zur Selbstüberschätzung neigende Bellew ein idealer Gegner, den spektakulär auf die Bretter zu schicken durchaus gelingen könnte.

Zieht Haye den Titelkampf bei der WBO vor, der nach Maßgabe des Verbands im März 2017 stattfinden soll, wird es für Tony Bellew eng. Dann müßte er sich seinem Pflichtherausforderer Mairis Briedis stellen, sofern es Eddie Hearn nicht ein zweites Mal gelangt, mit der WBC-Führung eine Galgenfrist auszuhandeln. Bellew durfte seinen Titel kürzlich freiwillig gegen BJ Flores verteidigen, der an Nummer vierzehn der Rangliste stand. Der Brite versetzte seinem Gegner in der zweiten Runde einen klaren Tiefschlag, der jedoch vom Ringrichter in einer krassen Fehlentscheidung nicht moniert wurde. Dies gab Bellew Gelegenheit, weiter über Flores herzufallen und damit eine Vorentscheidung herbeizuführen. Der Herausforderer erholte sich augenscheinlich nicht mehr, geriet immer mehr in die Defensive und mußte sich vorzeitig geschlagen geben. Dennoch wies die Deckung des Briten erschreckende Löcher auf, die ein frischerer und stärkerer Gegner weidlich ausgenutzt hätte.

Der in 21 Kämpfen ungeschlagene Mairis Briedis würde sich bei einem Auftritt in England nicht auf das Kampfgericht verlassen, sondern mit seinen Fäusten überzeugende Argumente ins Feld führen. Bellew könnte entweder das Weite suchen, bis ihn der Herausforderer stellt, oder den Schlagabtausch suchen, in dem er offen wie ein Scheunentor für den hart schlagenden Briedis wäre. Mit der absehbaren Niederlage im Gepäck und ohne Titel wäre Bellew für Haye und das britische Publikum wohl kein Thema mehr.

Daher dürfte Eddie Hearn geneigt sein, einen Kampf gegen den 37jährigen WBA-Weltmeister Denis Lebedew auf die Beine zu stellen. Da es sich um ein Duell zweier Titelträger handeln würde, könnte das WBC eher zustimmen, Bellews Pflichtverteidigung gegen den Balten noch einmal zu verschieben. Der Brite würde auf diese Weise eine ansehnliche Börse einstreichen, aber höchstwahrscheinlich auch gegen den Russen auf verlorenem Posten stehen. Somit bliebe für Bellew noch die Alternative, den WBC-Titel niederzulegen, im März einen schwachen Gegner zu besiegen und auf einen hochdotierten Kampf gegen David Haye im Sommer zu hoffen. Wahrscheinlich ist er aber so von sich überzeugt, daß ihm gar nicht in den Sinn kommt, einen Ausweg nötig zu haben.


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2016/10/joseph-parker-vs-andy-ruiz-ordered/#more-219601

21. Oktober 2016


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