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MELDUNG/2058: Weltmeister in Abwesenheit? (SB)



Billy Joe Saunders blockiert den WBO-Titel im Mittelgewicht

Billy Joe Saunders, Champion der WBO im Mittelgewicht, könnte gut und gern auch Weltmeister in Abwesenheit genannt werden. In einer attraktiven Gewichtsklasse, die von Gennadi Golowkin dominiert wird, blockiert der Brite seit seinem Titelgewinn am 19. Dezember 2015 kampflos die Gürtelvergabe eines Verbands. Verhandlungen mit dem Team des Kasachen, der ihm gern im Frühjahr 2016 den Titel abgenommen hätte, um seine Trophäensammlung zu komplettieren, zerschlugen sich unter merkwürdigen Umständen. Wenngleich Saunders tönte, er wünsche nichts sehnlicher, als GGG zu entzaubern, ließ er die Gespräche platzen, indem er plötzlich eine astronomische Börse verlangte. Kaum war diese Option vom Tisch und der Brite in Sicherheit vor der absehbar desaströsen Niederlage, als er auch schon wieder mit der abstrusen Behauptung hausierte, er werde Golowkin bald die Leviten lesen.

Die Glaubwürdigkeit des WBO-Weltmeisters nahm weiteren Schaden, als er für seine am 30. April in London geplante erste Titelverteidigung mit Max Bursak einen vergleichsweise schwachen Gegner wählte. Der Kampf fiel jedoch ins Wasser, da sich Saunders im Training eine Verletzung an der Hand zuzog, die ihn längere Zeit außer Gefecht setzte. Als er schließlich für den 22. Oktober seine Rückkehr ankündigte, löste dies nicht gerade Begeisterungsstürme aus, da er sich dafür Artur Akavow ausgesucht hatte. Dieser hat zwar 16 Kämpfe gewonnen und nur einen verloren, wird aber in der WBO-Rangliste erst an Nummer elf geführt und ist relativ unbekannt. Auch diesen Auftritt mußte der Brite zunächst absagen, nachdem ihm eine Muskelverletzung in die Quere gekommen war. Als neuer Termin wurde der 26. November anberaumt, und man darf gespannt sein, ob der 27jährige Champion tatsächlich wie geplant in Cardiff antreten wird.

Wenngleich man Saunders die Verletzungen natürlich nicht zur Last legen kann, verstärken sie doch das ungute Gefühl, ein schwacher Weltmeister versperre durch Untätigkeit den Weg. Der Brite ist zwar in 23 Kämpfen ungeschlagen, hat aber in seiner Karriere kaum Bäume ausgerissen. Sein erster bedeutender Erfolg war im November 2014 ein hauchdünner Punktsieg gegen seinen britischen Rivalen Chris Eubank jun., bei dem Saunders in der zweiten Hälfte des Kampfs erschreckend abbaute. Der Eindruck, daß er ein Boxer für nur sechs Runden sei, verfestigte sich in den folgenden Auftritten. Im Juli 2015 setzte er sich in der Wembley Arena vorzeitig gegen den überforderten Yoann Bloyer durch, worauf es schließlich im Dezember zum Titelkampf mit Andy Lee kam.

Der favorisierte Ire ließ sich in Manchester recht früh von zwei Kontern des Briten überraschen, die ihn zu Boden schickten. Das focht den Titelverteidiger nicht sonderlich an, da er davon ausging, den Gegner früher oder später mit einem Volltreffer erledigen zu können. Saunders lief die folgenden acht Runden lang jedoch nur noch davon und rettete schließlich einen Punktsieg ins Ziel, da es Lee versäumt hatte, ihm energisch nachzusetzen. Auch in diesem Fall schien der Brite in der stürmischen Anfangsphase sein Pulver verschossen zu haben, was zur allgemeinen Enttäuschung über den Kampfverlauf und den neuen Weltmeister beitrug.

Da Billy Joe Saunders seinen Titel noch kein einziges Mal verteidigt hat, ist der Verband gefordert, frischen Wind in die leidige Stagnation zu blasen. Die WBO hat nun verfügt, daß die freiwillige Titelverteidigung gegen Akavow über die Bühne gehen darf, Saunders aber im Anschluß zweimal nacheinander gegen einen Pflichtherausforderer antreten muß. [1] Das mutet auf den ersten Blick wie eine weise Entscheidung an, die den Weltmeister unter Druck setzt, seinen Titel künftig gegen stärkere Kandidaten aufs Spiel zu setzen.

Die WBO-Rangliste wird schon geraume Zeit von Avtandil Khurtsidze angeführt, einem in Brooklyn lebenden Georgier. Der 37jährige Pflichtherausforderer mit einer Bilanz von 32 Siegen, zwei Niederlagen und zwei Unentschieden ist nicht nur wesentlich erfahrener als Saunders, sondern gilt auch als konditions- und kampfstark. Sollte es zu diesem Aufeinandertreffen kommen, droht dem Briten mit steigender Rundenzahl eine Treibjagd, die ihn durchaus zur Strecke bringen könnte.

Nicht auszuschließen ist andererseits, daß die WBO Saul "Canelo" Alvarez an die Spitze der Rangliste katapultiert, in der er aktuell nicht unter den Top 15 vertreten ist. Der Mexikaner hat einen Abstecher ins Halbmittelgewicht gemacht und sich dort durch einen Sieg über den Briten Liam Smith den WBO-Titel gesichert, will aber künftig wieder in der höheren Gewichtsklasse antreten und sich angeblich sogar im Herbst 2017 mit Gennadi Golowkin messen. Da "Canelo" in Hinsicht auf seine Popularität und den finanziellen Ertrag seiner Auftritte in einer anderen Liga als der Georgier boxt, könnte der Verband geneigt sein, ihm einen Titelkampf gegen Saunders zu bescheren und Khurtsidze damit zu übergehen.

Der Brite stünde gegen "Canelo" auf verlorenem Posten, könnte aber sehr viel mehr Geld einstreichen als im Falle des Georgiers. Wenngleich der Mexikaner wohl wie üblich auf eine vereinbarte Gewichtsgrenze knapp über dem Halbmittelgewicht bestehen würde, bliebe Saunders kaum eine andere Wahl, als dem zuzustimmen. Saul Alvarez und dessen Promoter Oscar de la Hoya säßen definitiv am längeren Hebel und würden den Briten kurzerhand am Wegesrand liegenlassen, sollte er sich ihren Wünschen versperren.

Für Saunders steht indessen zunächst einmal an, den Kampf gegen Artur Akavow tatsächlich auszutragen und zu gewinnen. Käme dem Briten erneut eine Verletzung in die Quere, wäre die WBO gehalten, Konsequenzen zu ziehen. Da sie dem Champion bereits zwei Pflichtverteidigungen in Folge auferlegt hat, wäre der nächste Schritt, ihm den Titel abzuerkennen. Nun ist Saunders natürlich nicht der erste und einzige Weltmeister, der seinen Gürtel ein Jahr lang in der Vitrine deponiert hat, ohne ihn zu verteidigen. Viel wird davon abhängen, ob sein Promoter Frank Warren noch immer genügend Einfluß beim Verband ins Feld führen kann, um die bislang unrühmliche Regentschaft seines Mittelgewichtlers zu strecken.


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2016/10/wbo-orders-saunders-fight-two-mandatory-challengers-back-back/#more-219666

23. Oktober 2016


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