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MELDUNG/2353: Halbschwergewicht - kalkuliertes Abenteuer ... (SB)



Saul "Canelo" Alvarez steigt zu Sergej Kowaljow auf

Saul "Canelo" Alvarez steigt zwei Gewichtsklassen auf, um Weltmeister im vierten Limit zu werden. Der 29jährige Mexikaner trifft am 2. November in der MGM Grand Garden Arena in Las Vegas auf den sieben Jahre älteren Russen Sergej Kowaljow, Champion des Verbands WBO im Halbschwergewicht. Der Kampf wird vom Streamingdienst DAZN übertragen. "Canelo", der unter der Regie seines Promoters Oscar de la Hoya zum Superstar der Branche avanciert ist, geht mit diesem Manöver das Risiko ein, sich mit einem deutlich größeren Gegner zu messen. Wesentlich leichter als Kowaljow wird er aber kaum in den Ring steigen, da er bislang vor seinen Auftritten zwischen dem offiziellen Wiegen und dem Kampf durch nächtliche Rehydration ungewöhnlich viel Gewicht zuzulegen pflegte. Er hat diese Praxis, die ihm oftmals beträchtliche körperliche Vorteile gegenüber seinen Kontrahenten verschaffte, erstaunlich gut verkraftet, mußte ihr allerdings in konditioneller Hinsicht Tribut zollen. Auf diesen strapaziösen Winkelzug kann er gegen den Russen natürlich verzichten.

Saul Alvarez und die Golden Boy Promotions konnten dank der riesigen mexikanischen Fangemeinde beiderseits der Grenze stets mit dem Pfund eines enormen Publikumsinteresses wuchern, das die großen Veranstaltungsorte in Las Vegas füllte und für satte Fernsehquoten sorgte. Damit wurden sie tonangebend im US-amerikanischen Boxgeschäft und konnten den Karriereweg optimal aussteuern. Sie vermieden die gefährlichsten Rivalen und verstanden es dennoch, immer wieder Kämpfe zu bestreiten, die sich als bedeutsame und attraktive Auftritte verkaufen ließen. "Canelo" ist zweifellos ein sehr guter Boxer, aber keineswegs die Ausnahmeerscheinung, als die er erfolgreich vermarktet wird. Theoretisch ist der Mexikaner inzwischen im Mittelgewicht zu Hause, doch machte er bei Bedarf Abstecher ins Halbmittel- oder Supermittelgewicht, um sich dort von dem jeweils schwächsten Weltmeister einen Titel zu holen. Das hat er nun auch mit Kowaljow vor, dessen stärkste Zeit schon einige Jahre zurückliegt, so daß die drei anderen Titelträger im Halbschwergewicht gefährlicher einzuschätzen sind.

Während die zahlreichen Bewunderer "Canelos" also von einem außerordentlich mutigen Schritt sprechen, es wie David mit einem Goliath aufzunehmen, machen Kritiker geltend, daß sich der Mexikaner wie immer das schwächste Glied in der Kette der Weltmeister aussuche, um Ruhm einzuheimsen und sich mit einem weiteren Gürtel zu schmücken. Deutungsmacht zu erringen ist in diesem Geschäft mehr als die halbe Miete, was im Falle "Canelos", der in Las Vegas als relevanter Wirtschaftsfaktor protegiert wird, besonders deutlich zutage tritt. Das bekam auch Gennadi Golowkin zu spüren, der dort von den Punktrichtern über den Tisch gezogen wurde, die Saul Alvarez im ersten Kampf mit einem dubiosen Unentschieden beschenkten. Damals sprachen die meisten Experten von einem Fehlurteil, doch schlug die Stimmung nach "Canelos" Punktsieg bei der Revanche um, obgleich man auch in diesem Fall geltend machen konnte, daß der Lokalmatador bevorteilt wurde. Heute behauptet der Mexikaner steif und fest, er habe den Kasachen zweimal klar besiegt, weshalb der vielfach geforderte dritte Kampf für ihn kein Thema mehr sei.

Daraus läßt sich durchaus ableiten, daß Sergej Kowaljow in Las Vegas keinesfalls gewinnen kann, sofern er "Canelo" nicht geschlagen auf die Bretter schickt oder zumindest so klar dominiert, daß es die Punktrichter nicht wagen, den Mexikaner abermals zu protegieren. Da der Russe in den Verhandlungen am kürzeren Hebel saß und mit geschätzten 12 Millionen Dollar die mit Abstand höchste Börse seiner Karriere einstreichen kann, waren ihm zwangsläufig die Hände gebunden, sich einem Heimspiel "Canelos" zu verweigern und einen neutralen Ort zu fordern. Im Falle eines halbwegs engen Kampfverlaufs hat der Mexikaner also den Sieg bereits in der Tasche, während der Russe den Ausklang seiner Laufbahn zumindest noch einmal gehörig versilbern kann.

Kowaljows stärkste Waffe ist ein hart geschlagener Jab, der einen Gegner von den Beinen holen kann. Gelänge es dem Titelverteidiger, "Canelo" dank seiner größeren Reichweite auf Abstand zu halten und auf diese Weise ständig mit der Linken zu traktieren, wäre sein Sieg nicht auszuschließen. Der Mexikaner muß auf der Hut sein, sich der nach wie vor enormen Schlagwirkung des Champions nicht auszusetzen. Allerdings ist der Russe längst nicht mehr so beweglich wie auf dem Höhepunkt seines Könnens und pflegt nach der Hälfte des Kampfs konditionell abzubauen. Bei seinem letzten Auftritt am 24. August gegen den Außenseiter Anthony Yarde stand er zwischenzeitlich hart am Rande eines Niederschlags und konnte das Blatt gerade noch einmal zu seinen Gunsten wenden, als er mit der zweiten Luft gegen Ende noch einmal die Oberhand gewann und dem Herausforderer in der elften Runde das Nachsehen gab.

In diesem Kampf zeichnete sich wiederum deutlich ab, daß Kowaljow große Probleme mit Körpertreffern hat, die offensichtlich seine Schwachstelle sind. Als Yarde begann, verstärkt zum Körper des Russen zu schlagen, sah dieser schlecht aus und wäre um ein Haar daran gescheitert. Der WBO-Weltmeister ist aus der Distanz gefährlich, aber aus der Halbdistanz und im Infight zu besiegen, sofern sein Gegner dort versiert zu Werke geht. Das gilt zweifellos für "Canelo", dessen Spezialität der sogenannte mexikanische Stil mit vermehrten Angriffen zum Körper ist. Auch dies trägt zur Erklärung bei, warum er sich Kowaljow als Gegner ausgesucht hat. Sollte sich dieser wenig bewegen, böte er ein ideales Ziel für die bevorzugte Kampfesweise "Canelos".

Im Unterschied zu seinem legendären Landsmann Julio Cesar Chavez ist Saul Alvarez allerdings kein Boxer, der rückhaltlos durch die Schläge des Gegners marschiert und sich dabei treffen läßt, um ihm zu Leibe zu rücken und seinen Körper zu traktieren. Das müßte er jedoch in gewissem Ausmaß riskieren, um dem Russen seine Kampfesweise aufzuzwingen. Da diese Ausgangslage den beiderseitigen Teams natürlich bekannt ist, werden sie in der Vorbereitung alles daransetzen, um sie mit taktischen Varianten anzureichern, die für unerwartete Manöverlagen sorgen. Daher steht durchaus ein attraktiver Auftritt zu erwarten, die für Überraschungen gut ist. [1]

In ihren öffentlichen Trainingseinheiten demonstrierten "Canelo" und sein Trainer Eddy Reynoso heftige Angriffe zum Körper, die durchaus geeignet schienen, einen Gegner von den Beinen zu holen. Dies trug dem Umstand Rechnung, daß es sich der Mexikaner nicht leisten kann, aus der Distanz Schläge mit Kowaljow auszutauschen, der dabei die besseren Karten hätte. Man führte also die Stärken "Canelos" vor, um den Kontrahenten vorab zu verunsichern, möglicherweise aber auch zu dem Zweck, ihn auf die falsche Spur zu locken, daß er im Kampf genau das und nichts anderes zu erwarten habe.

Für Irritationen sorgte Oscar de la Hoya mit der Aussage, fürs erste wolle man sich voll und ganz auf den kommenden Kampf konzentrieren, auf den dann im nächsten Jahr definitiv ein dritter Kampf gegen Golowkin folgen werde. Dem widersprach "Canelo" umgehend, indem er erklärte, Oscar sage viele Dinge, die keinen Sinn machten. Der Mexikaner hat erklärtermaßen das Interesse an dem Kasachen verloren, weil er der Auffassung ist, ihm zweimal das Nachsehen gegeben zu haben. Auch hat Golowkin seit der Niederlage in ihrem zweiten Kampf keine Bereitschaft erkennen lassen, sich andere hochklassige Gegner vorzunehmen, sondern mit dem Kanadier Steve Rolls einen wenig bekannten Kandidaten rasch in die Schranken gewiesen. In seinen nächsten Kampf trifft er auf Sergej Derewjantschenko, der ebenfalls nicht der allerhöchsten Kategorie im Mittelgewicht angehört. [2]

Dafür mußte er reichlich Kritik einstecken, die sich allerdings nicht die Mühe macht, die Situation aus seiner Sicht auszuleuchten. Geht man davon aus, daß Golowkin in erster Linie einen dritten Kampf gegen "Canelo" anstrebt, macht es durchaus Sinn, die Tür dafür offenzuhalten. Rolls stellte eine überschaubare Aufgabe dar, die nicht das Risiko barg, durch eine Niederlage indiskutabel für den Mexikaner zu werden. Und gegen Derewjantschenko kämpft der Kasache um einen vakanten Titel im Mittelgewicht, den er benötigt, um "Canelo" zu locken. Der hatte nämlich vor einiger Zeit erklärt, daß Golowkin nur dann von Interesse für ihn wäre, sollte dieser einen Gürtel mitbringen.

Was Saul Alvarez und Oscar de la Hoya tatsächlich planen, weiß Golowkin ebensowenig wie irgend jemand sonst. Möglicherweise bringt der Promoter einen dritten Kampf nur deshalb ins Gespräch, um Interesse vorzutäuschen und all jene zu beschwichtigen, die vehement auf diese Option drängen. Andererseits ist ein Sinneswandel "Canelos" nicht auszuschließen, der sich plötzlich doch wieder für seinen Erzrivalen erwärmen könnte, um den verbliebenen Makel loszuwerden, er habe ihn nur durch Protektion bezwungen. Daß Saul Alvarez und sein Promoter derart aneinander vorbeireden, wie dies mitunter den Anschein hat, muß man nicht für bare Münze nehmen. Was immer De la Hoya vor dem Kampf gegen Kowaljow sagt, ist sicher kein bloßes Zufallsprodukt, sondern sein wohlbedachter Beitrag zur Karriereplanung des prominentesten und einträglichsten Boxers, den er je unter Vertrag hatte.


Fußnoten:

[1] www.boxingnews24.com/2019/09/oscar-de-la-hoya-kovalevs-jab-will-give-canelo-problems/

[2] www.boxingnews24.com/2019/09/canelo-looking-powerful-working-on-mitts-throwing-body-shots/

22. September 2019


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