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MELDUNG/2356: Schwergewicht - Debüt mit Fragezeichen ... (SB)



Oleksandr Ussyk verschleißt Chazz Witherspoon

Oleksandr Ussyk hat sein Debüt im Schwergewicht gewonnen. Der ehemalige Weltmeister aller vier Verbände im Cruisergewicht aus der Ukraine setzte sich vor gut 9000 Zuschauern in der Wintrust Arena in Chicago gegen den in letzter Minute als Ersatz verpflichteten US-Amerikaner Chazz Witherspoon in der siebten Runde durch. Der Kampf wurde vom Streamingdienst DAZN übertragen. Während der 32jährige Ussyk damit in 17 Auftritten ungeschlagen ist, stehen für seinen sechs Jahre älteren Gegner nunmehr 38 Siege und vier Niederlagen zu Buche. [1]

Dem "Boxer des Jahres 2018" gelang damit zumindest der erste Schritt, es seinem erklärten Vorbild Evander Holyfield gleichzutun, der einst unangefochtener Weltmeister im Cruiser- und Schwergewicht geworden war. Ursprünglich sollte sich der beim britischen Promoter Eddie Hearn von Matchroom Boxing unter Vertrag stehende Ussyk am 25. Mai mit Carlos Takam messen, doch mußte er den Kampf wegen einer Verletzung am rechten Bizeps absagen. Daraufhin wurde der früher als Kickboxer erfolgreiche Tyrone Spong verpflichtet, der in 14 Auftritten unbesiegt war. Nachdem ihn jedoch die Anti-Doping-Agentur VADA in zwei Proben positiv auf eine verbotene Substanz getestet hatte, kam er nicht mehr in Frage. Daraufhin fiel die Wahl kurzfristig auf Chazz Witherspoon, der diese unverhoffte Gelegenheit natürlich wahrnahm.

Der Cousin zweiten Grades des früheren zweifachen Weltmeisters Tim Witherspoon aus Philadelphia konnte mit einer Serie von acht Siegen in Folge aufwarten, die er jedoch mit sporadischen Auftritten gegen weithin unbekannte Gegner erzielt hatte. Der Wendepunkt in seiner Karriere war im Grunde die Niederlage gegen den damals aufstrebenden Seth Mitchell im Jahr 2012, da er seither keine nennenswerte Rolle in den oberen Rängen des Schwergewichts mehr gespielt hatte. Er stieg daher als klarer Außenseiter in den Rang, wobei er zumindest größer und wesentlich schwerer als der Ukrainer war.

Er war jedoch den technischen Fertigkeiten und der konditionellen Überlegenheit des Olympiasiegers von 2012 nicht gewachsen, der auf eine glänzende Amateurlaufbahn zurückblicken kann und im Profilager zu den besten Akteuren der Branche gehört. Da der in der Rechtsauslage boxende Ussyk aber elf Monate nicht mehr im Ring gestanden hatte, brauchte er einige Runden, um richtig in Fahrt zu kommen. Dann etablierte er jedoch seinen blitzschnellen Jab in die linke Gerade gegen Witherspoon, der schlichtweg zu langsam war, um einen Vorteil aus seiner körperlichen Überlegenheit zu ziehen.

Der Ukrainer kam mit zahlreichen Schlägen zu Kopf und Körper durch und schien den Gegner in der fünften Runde an den Rand eines Niederschlags zu bringen, als er ihn mit der Linken traf, in die Ecke trieb und dort mit weiteren Schlägen eindeckte. Witherspoon konnte sich gerade noch aus der Affäre ziehen und überstand auch den folgenden Durchgang. In der siebten Runde ging es jedoch mit ihm bergab, da ihm endgültig die Luft wegblieb und er sich immer wieder in die Seile zurückzog, wo er Körpertreffer in Serie einstecken mußte. Gegen Ende der Runde setzte Ussyk seinem Gegner derart zu, daß Ringrichter Hector Afu das Geschehen aus nächster Nähe verfolgte und offenbar kurz davor war, den Kampf abzubrechen. Witherspoon rettete sich in die Pause, ließ sich schwer auf seinen Hocker fallen und gab dem Referee zu verstehen, daß er nicht mehr weitermachen könne.

Über dem rechten Auge des Ukrainers waren Spuren der Schläge zu sehen, die ihm der Gegner in der Anfangsphase gelegentlich versetzt hatte, wenn er allzu unbedacht auf ihn losging. In einer statischen Situation konnte Witherspoon kräftig zuschlagen, so daß er zu Beginn seine besten Szenen hatte. Von der fünften Runde an ließ er jedoch konditionell nach und mußte in die Seile zurückweichen, so daß er in zunehmendem Maße zum Spielball des Favoriten wurde. Wie ungleich der Kampf verlaufen war, belegt auch die Statistik von CompuBox, der zufolge Ussyk 139 von 347 Schlägen ins Ziel gebracht hatte (40 Prozent), während Witherspoon lediglich 21 Treffer bei 208 Versuchen gelungen waren (10 Prozent). Die beste Ausbeute des US-Amerikaners waren sechs erfolgreiche Schläge in der vierten Runde und in vier Durchgängen glückten ihm nicht mehr als jeweils zwei Treffer.

Ussyk machte mitunter Eindruck, als sei er in der Lage, Witherspoon geschlagen auf die Bretter zu schicken, halte sich aber an eine Anweisung seiner Ecke, nichts zu überstürzen. Wie er hinterher bestätigte, habe er die Vorgabe seines Trainers befolgt, den Kampf mit boxerischen Mitteln zu führen, aber durchaus einen Schritt weiterzugehen, sollte sich die Gelegenheit dazu bieten. Wie er einräumte, sei der zweifache Wechsel des Gegners nicht spurlos an ihm vorübergegangen, auch wenn er das für sich behalten habe. Außerdem habe er zwar als Amateur im Schwergewicht gekämpft, doch lasse sich das nicht ganz mit den Verhältnissen im Profilager vergleichen. Er habe den Unterschied zum Cruisergewicht durchaus gespürt. [2]

Der Einstand in der Königsklasse ist erfolgreich über die Bühne gegangen, und so konnte Ussyk den Sieg und mit seinem langjährigen Manager Egis Klimas dessen 55. Geburtstag feiern. Allerdings waren die Meinungen durchaus geteilt, wie der Auftritt des Ukrainers zu bewerten sei. Er hatte den physisch überlegenen Kontrahenten klar dominiert, nie zur Entfaltung kommen lassen und vorzeitig besiegt. Andererseits war Witherspoon so langsam und von derart schwacher Kondition, daß Ussyk fast nach Belieben schalten und walten konnte. Doch obgleich der Gegner immer wieder an den Seilen eingekeilt stand, reichten die härtesten Schläge des Ukrainers nicht aus, ihn von den Beinen zu holen. Daher steht zu vermuten, daß ein Gang mit jüngeren und stärkeren Kontrahenten wie Deontay Wilder, Andy Ruiz oder Anthony Joshua ganz anders verlaufen könnte. [3]

Wie der Ukrainer erklärte, gehe er keinem Gegner aus dem Weg. Sollte es sich um einen Titelkampf handeln, sei er selbstverständlich auch dazu bereit. Er war vordem unter anderem Weltmeister der WBO im Cruisergewicht, was dazu führte, daß ihn dieser Verband nach dem Wechsel ins Schwergewicht dort sofort zum Pflichtherausforderer des Champions erklärte. Man kann diese Politik durchaus in Zweifel ziehen, da der Ukrainer ohne einen einzigen Auftritt und an allen dort Schlange stehenden Kandidaten vorbei in diese Position befördert wurde. Ussyk ist zweifellos ein hervorragender Boxer, was er im Cruisergewicht hinlänglich unter Beweis gestellt hat, als er im Finale der World Boxing Super Series im Juli 2018 Murat Gassijew besiegte und sich im November vorzeitig gegen den Briten Tony Bellew durchsetzte.

Trotz dieses unbestreitbaren Könnens sieht sich Ussyk in der Königsklasse vor ganz andere Probleme gestellt, da dort die weltbesten Akteure nicht nur sehr groß, sondern zumeist auch deutlich schwerer als er sind. Zudem war die Schlagwirkung nie eine herausragende Stärke des Ukrainers, der seine Gegner auszumanövrieren und häufig zu treffen, aber eher nicht niederzuschlagen pflegt. Trifft er im Schwergewicht auf massive und hochklassige Gegner, dürfte sein erklärtes Ziel, auch dort alle vier Titel in seinen Händen zusammenzuführen, noch sehr viel schwerer als im Cruisergewicht zu erreichen sein.

Als Pflichtherausforderer der WBO könnte er im kommenden Jahr gegen den Sieger der Revanche zwischen Andy Ruiz und Anthony Joshua antreten, um sich womöglich die Gürtel der WBA, WBO und IBF zu sichern. Da Chazz Witherspoon eine Notlösung war, kann man weder Ussyk noch Eddie Hearn ankreiden, einen all zu leichten Gegner gewählt zu haben. Festzuhalten bleibt aber auch, daß der US-Amerikaner kein echter Prüfstein war, der Ussyks Vermögen, sich auch im Schwergewicht durchzusetzen, wirklich auf die Probe gestellt hätte. Daher ist nicht auszuschließen, daß der britische Promoter dazu neigt, einen weiteren Aufbaukampf des Ukrainers einzuplanen, bevor er auf einen Weltmeister trifft.


Fußnoten:

[1] www.boxingnews24.com/2019/10/oleksandr-usyk-vs-chazz-witherspoon-live-results/

[2] www.espn.com/boxing/story/_/id/27832530/oleksandr-usyk-scores-tko-win-vs-chazz-witherspoon-heavyweight-debut

[3] www.boxingnews24.com/2019/10/boxing-results-oleksandr-usyk-wins-heavyweight-debut-ready-for-title-shot/

16. Oktober 2019


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