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KOMMENTAR/033: "Ein Stückchen Freiheit" - Tour de France für Sträflinge (SB)



Die rigiden Überwachungsmaßnahmen, denen sich Leistungs- und Spitzensportler im Rahmen des totalitären Anti-Doping-Kampfes "freiwillig" unterwerfen müssen, und der drakonische Freiheitsentzug, der Häftlingen in Strafanstalten zwangsweise auferlegt wird, weisen immer mehr Gemeinsamkeiten auf. Sofern sie die verschärften Meldeauflagen der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) nicht schönzureden versuchen, kommen sich auch viele Athleten bereits wie Verbrecher auf Freigang vor. Während sich manche Spitzensportler, wie etwa der Berliner Mittelstreckenläufer Carsten Schlangen, noch einzureden vermögen, sie wären "aus dem Leistungssport sofort raus", falls von ihnen verlangt würde, sie müßten sich auch einen Kontrollchip unter die Haut pflanzen lassen (dieser Akzeptanzschritt hat durch das Befolgen der Meldeauflagen längst stattgefunden, nur die technisch ausgereifte Umsetzung fehlt noch!), besteht für Sträflinge keine Möglichkeit, sich dem repressiven Strafvollzugssystem durch eine einseitige Aufkündigung der Teilnehmerschaft zu entziehen.

Kurzum, wenn schon Sportler geneigt sind, dem freiheitsberaubenden Charakter der WADA-Meldefesseln positive Seiten abzugewinnen, etwa weil dadurch, wie behauptet, mehr "Glaubwürdigkeit" oder mehr "Wettbewerbsgerechtigkeit" gewonnen wäre, um wie vieles mehr würden wohl Strafgefangene bereit sein, ihren Wärtern nach dem Mund zu reden, um den Ketten ihres Knastalltags zu entkommen?

Jüngst erregte die Meldung für Aufsehen, daß in Frankreich rund 200 Strafgefangene mit dem Rad ihre eigene Tour de France (4. bis 19. Juni) bestreiten werden. Die Rundfahrt ist 2.300 Kilometer lang. Als Begleitpersonal sind 124 Aufseher, Sportlehrer und andere dabei, die ebenfalls mit dem Fahrrad unterwegs sind. Die "Tour de France Pénitentiaire" beginnt in Lille und geht über 14 Etappen durch sämtliche Gefängnisverwaltungsregionen des Landes. Die Fahrer nächtigen allerdings nicht in den Haftanstalten der Städte, sondern in Hotels.

Das Feld müsse immer zusammenbleiben. Ausreiß- oder Fluchtversuche seien nicht gestattet, berichten die hiesigen Medien im heiteren Ton. Auf Nachzügler, die sich bei der Bergprüfung in die Büsche schlagen, müsse man sein Augenmerk richten, witzelte NDR Info. "Mit dem Projekt wollen die Behörden die Sträflinge resozialisieren - und ihnen ein Stückchen Freiheit gönnen", drosch auch der Deutschlandfunk (1.6.09) munter die Phrasen von der bürgerlichen Freiheit, die stückweise zu vergeben sei.

"Für uns ist das wie eine Befreiung, eine Chance, dem Gefängnisalltag zu entkommen", erklärte indessen der am Rennen teilnehmende Daniel pflichtschuldigst. "Wenn wir uns gut benehmen, werden wir vielleicht früher auf Bewährung entlassen", so der Wunschtraum des 48jährigen Häftlings aus Nantes, denn offiziell geht es nur um die berühmte Sportlerehre sowie um Resozialisierung. Dieses Projekt solle den Männern dabei helfen, sich mit Werten wie Fleiß, Teamwork und Selbstwertgefühl wieder in die Gesellschaft zu integrieren, betonte Gefängnisdirektorin Sylvie Marion.

Erklärungen und Hintergründe, wie und warum es zu dieser Knacki-Tour kommt, findet man im Medienboulevard nicht. Der Deutschlandfunk gab immerhin an, daß der Direktor der Haftanstalt Lille, Jean-Paul Chapu, die Idee zu dieser Häftlingstour hatte und sie im kleineren Rahmen bereits vor zwei Jahren in seinem Haftverwaltungsbezirk im Norden organisierte. Die diesjährige Tour soll etwa 350.000 Euro kosten und wird größtenteils von fünf privaten Sponsoren finanziert.

Nebenher erfährt man allenfalls noch, daß Frankreichs Gefängnisse hoffnungslos überfüllt und die Zustände alles andere als einladend seien. Nicht von ungefähr habe es unlängst heftige Proteste der Gefängniswärter gegeben. "Auch um das Klima zwischen Wärtern und Insassen zu entspannen, radeln sie jetzt gemeinsam", vermeldete der Deutschlandfunk.

Das dürfte die Untertreibung des Jahres sein. Tatsächlich sind die Zustände in den überfüllten und teilweise baufälligen französischen Gefängnissen so unerträglich, daß sich immer mehr Gefangene das Leben nehmen. Reihenweise haben sich Häftlinge an verknoteten Bettlacken oder Schnürsenkeln erhängt, auch Minderjährige gingen in den Freitod. Vergangenes Jahr brachten sich 115 Insassen um, mehr als 45 schon in diesem Jahr. Das sind Rekordwerte. Nach Angaben des Europarats ist die Selbstmordrate in Frankreichs Gefängnissen "doppelt so hoch wie in Deutschland und Großbritannien, und liegt drei Mal über jener von Spanien".

Derzeit befinden sich in Frankreich über 64.000 Menschen in Haft - die 194 Haftanstalten des Landes bieten aber nur Platz für 52.000 Gefangene. Rund 20.000 Untersuchungshäftlinge, die oft mit bereits Verurteilten in eine kleine Zelle gepfercht werden, warten jahrelang auf ihren Gerichtsprozeß. Die Platznot in den Zellen ist so groß und die Haftbedingungen sind so miserabel, daß sogar schon die Gefängniswärter - in erster Linie weil sie Meutereien und Aggressionen gegen die eigene Zunft fürchten - trotz Streikverbots Protest- und Blockadeaktionen anzettelten und sich dabei Handgemenge mit der Polizei lieferten.

Die unmenschlichen Verhältnisse sind das Ergebnis der Regierungspolitik unter Nicolas Sarkozy. Der Staatspräsident hatte versprochen, die französische Justiz werde im Kampf gegen die Kriminalität nach der "Null Toleranz"-Devise härter durchgreifen und vor allem Wiederholungstäter nach "pauschalen Mindeststrafsätzen" zu längeren und rigorosen Strafen verurteilen. Folgerichtig stieg die Zahl der Inhaftierten kontinuierlich an, bis 2017 wird mit mehr als 72.000 Häftlingen gerechnet, wie der Tagesspiegel angab. Von einer regelrechten Gefängnis-Bevölkerung wie in den USA sind die Franzosen zwar noch weit entfernt, doch sie mausern sich.

Statt die sozialen Verhältnisse und die politischen Justiznormen im Land zu ändern, die in erster Linie für Kriminalität verantwortlich zu machen sind, treibt die "Grand Nation" den Bau weiterer Haftanstalten, die über zweifelhafte Privatisierungsmodelle finanziert werden, voran. Um zudem für Entlastung zu sorgen, werden Gefangene, die für kleine Vergehen verurteilt wurden, vermehrt mit einer elektronischen Fußfessel in die "Halbfreiheit", wie es beschönigend heißt, entlassen.

Natürlich sind die Gefangenen "dankbar", wenn sie Freigang oder Hafterleichterungen bekommen, sei es an der Fußfessel, sei es auf dem Fahrrad. Und sie würden auch jede Menge Argumente liefern, um der stumpfen Eintönigkeit des Gefängnisalltags, der von Bewegungsarmut, Langeweile, Frust, Aggression und geringen sozialen Kontakten geprägt ist, mit Hilfe der gesellschaftlich anerkannten "Bewegungsdroge" Sport entfliehen zu können. Sport wirke wie ein Ventil, argumentieren die Befürworter, mit dem Abbau von Spannungszuständen könne gewaltsamen Konflikten vorgebeugt werden. Außerdem erschöpfe er die überschüssigen Kräfte der Häftlinge. Zudem fördere er das soziale Verhalten und das Einhalten von Regeln und unterstütze die Resozialisierung. Körperlich fitte Gefangene helfen zudem, Gesundheitskosten einzusparen. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Der Sport trägt wesentlich zur sozialen Sicherheit und Ordnung im Knast bei. Wunderbar!

Der kapitale Webfehler: Es ist die Gefängnis- und Ausbeutungsordnung des kapitalistischen Systems, die durch Sport geschützt wird. Nicht die gesellschaftlichen, also im wesentlichen soziale und materielle Ursachen für Delinquenz und Kriminalität, werden angegriffen, sondern die Auswirkungen von gefängnisinterner Repression und gesellschaftlicher Unterdrückung werden therapiert. Würde der Sport, auch von seinem Wertefundament her, widerständige, emanzipatorische oder gar aufrührerische Elemente beinhalten, die sich gegen die herrschende Ordnung richteten, wäre er sicherlich nicht in den Knastalltag integrierbar. Vor diesem Hintergrund kann sich jeder leicht ausmalen, welche Funktion der Sport auch außerhalb der Gefängnismauern innerhalb der gesellschaftlichen Schranken und Konventionen hat. Noch weniger als die Arbeits- und Überlebensbedingungen des Alltags kann die Knastsituation darüber hinwegtäuschen, daß der Freude am Sport die Einschränkung der (Bewegungs-)Freiheit vorausgeht und der Gefangene sich lediglich ein bißchen von dem wiederzuholen versucht, was ihm längst genommen wurde. Nicht zufällig spricht der Deutschlandfunk davon, daß die Behörden den Teilnehmern der Knasttour "ein Stückchen Freiheit gönnen" würden. Fehlt eigentlich nur noch, daß die Sträflinge ihren Gönnern dankbar vor die Füße fallen. Was wiederum so abwegig nicht ist, denn das eigentliche Arbeitscredo der Pedaleure, "quäl dich du Sau!", wie es aus besseren Tagen von Profifahrer Jan Ullrich bekannt sein dürfte, hat schon viele, auch gestandene Radrennfahrer, dazu gebracht, daß sie nach den mörderischen Strapazen im Ziel vor Krämpfen und Erschöpfung zusammengebrochen sind. Körperlich geschundene und dopingtotalüberwachte Sportler sind der Resozialisierungsgesellschaft lieber als Menschen, die sich weder Eisen noch Ketten anlegen.

7. Juni 2009