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KOMMENTAR/046: Kältekammer und Quarantäne - die Zukunft des fremdbestimmten Sportlers (SB)



Sommersportler, die wie in Kienbaum in der Kältekammer "schockgefroren" werden, Wintersportler, die wie in Oberhof im Sommer bei Minustemperaturen in einem Skitunnel trainieren - der Bundesregierung ist offenbar jedes technische Mittel recht und billig, um über Steuermittel alimentierte Medaillenkandidaten zur Mehrung des sportlichen Erfolgs und nationalen Prestiges heranzuziehen.

Vier Wochen vor Beginn der Leichtathletik-WM in Berlin wurde die erste Kältekammer für deutsche Sportler im Bundesleistungszentrum Kienbaum eingeweiht. Die Initialzündung für die 320.000 Euro teure Anlage soll glaubhaften Medienberichten zufolge auf ein Gespräch zwischen dem Bundestags-Sportausschuß-Vorsitzenden Peter Danckert (SPD) und dem Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), Jürgen Mallow, zurückgehen. Bei einem Sommerfest vor gut zwei Jahren in Kienbaum soll der SPD-Politiker den Sportfunktionär gefragt haben, was ihm denn noch fehle. Offenbar inspiriert durch die knapp 70 Kältekammern, die es bereits in Deutschland vornehmlich zur Behandlung von Rheuma- und Schmerzpatienten gibt, sowie einschlägigen Erfahrungen australischer und französischer Sportler, schlug Mallow nämliche Gefrieranlage auch für den deutschen Spitzensport vor. Als dann alle Instanzen "von der Wichtigkeit und Richtigkeit des Projekts überzeugt waren" (DOSB), wurde diese "legale Methode" (Mallow) zur Leistungssteigerung, die auf keiner Dopingliste steht, durch das Konjunkturprogramm II der Bundesregierung binnen drei Monaten realisiert.

Seither findet dieses technische Doping, das sich vom pharmakologischen Dopingbegriff abgrenzt, an den leistungssportlichen Probanden Anwendung. "Fachleute gehen von einer Leistungssteigerung von einem bis zwei Prozent, manche sogar von noch mehr aus", verlautete der DOSB, ohne rot zu werden. Andere Publikationen sprechen "von bis zu zehn Prozent bei Amateuren und zwischen fünf und acht Prozent bei Profis" (SZ, 31.7.09). Kienbaum diente den knapp hundert deutschen Leichtathleten auch als zentrales Trainingslager für den "allerletzten Feinschliff" kurz vor der WM, wo das DLV-Team nach dem Olympiadebakel von Peking (eine Bronzemedaille) mit neun gewonnenen Medaillen (2/3/4) und Platz fünf der Nationenwertung überraschend gut abschnitt.

Das vom Bundesinnenministerium abgesegnete und gesponserte sowie von Sportmedizinern und -wissenschaftlern begleitete und weiterentwickelte Kältekammer-Projekt für Sportler ohne medizinische Indikation, das durchaus geeignet sein könnte, den "Tatbestand Doping" zu erfüllen, etwa wenn man den olympischen Anti-Doping-Code heranzieht, der die "Verwendung von Hilfsmitteln in Form von Substanzen und Methoden, welche potenziell gesundheitsschädigend sind und/oder die körperliche Leistungsfähigkeit steigern können", untersagt, macht die ganze Absurdität und moralische Willkür des "sauberen Wettkampfs" deutlich: Wer auf chemischem Wege seine Leistung steigert, ist böse und wird gesteinigt, wer um des gleichen Effektes willen auf kryophysikalischem Wege seine Leistung steigert, wird zum Nationalhelden hochgejubelt.

Wer in großen Höhen trainiert oder bei besonders tiefen Temperaturen, vermehrt in seinem Körper auf "natürliche Weise" die Retikulozyten (Vorstufe der roten Blutkörperchen, die Sauerstoff von der Lunge zu den Muskeln transportieren). Wer aber die gleiche leistungssteigernde Wirkung durch den Hormon-Wirkstoff Erythropoietin (EPO) oder durch Eigenblutinfusion erzielt, wird zum Dopingsünder erklärt. Schwanken indessen die Retikulozyten-Werte auf vermeintlich "unnatürliche Weise", wie im Fall der Eisschnelläuferin Claudia Pechstein, dann wird man des Dopings verdächtigt und muß sich wie eine Laborrate in einen Käfig stecken lassen. Um den Beweis ihrer Unschuld anzutreten, will sich Pechstein "freiwillig" unter Quarantänebedingungen einer wissenschaftlichen Langzeit-Beobachtung aussetzen. Ein aberwitziges Experiment, das nicht deutlicher aufzeigen könnte, wer die eigentlichen Strippenzieher im Soziallabor des Hochleistungssports sind: Sportmediziner, -forensiker und Statistiker der einen Fraktion, die Pechstein "abnormaler" und "schwankender" Retikulozytenwerte bezichtigen, sitzen Wissenschaftskollegen gleicher oder verwandter Fachbereiche gegenüber, die die Eisschnelläuferin vor einer zweijährigen Sperre bewahren wollen. Die Oberaufsicht soll die ebenfalls mit wissenschaftlichen Experten besetzte Nationale Anti-Doping Agentur (NADA) haben, deren sportpolitische Funktionäre bereits im Vorfeld des Pechstein-Falles angekündigt hatten, daß der erste Indizienprozeß, der die Möglichkeiten des neuen WADA-Codes voll ausschöpft, "nicht in die Hose gehen" dürfe (1) - ein deutlicher Fingerzeig darauf, daß es gar nicht um Claudia Pechstein geht, sondern um die wissenschaftliche und juristische Etablierung des "indirekten Beweises" bei Dopingverfahren.

Die Fremdbestimmung des Leistungssportlers kann in Anbetracht der Experten und Instanzen, die über sein Wohl und Wehe maßgeblich bestimmen, ohne daß der Sport-Probant auch nur die geringste Chance hätte, sich den administrativen Vorgaben auf selbstbestimmte Weise zu entziehen, als total bezeichnet werden. Nicht Sportler entscheiden über ihre Leiblichkeit, sondern Hämatologen, Molekularbiologen, Pharmakologen, Onkologen, Forensiker, Statistiker, Mathematiker und Juristen. Die Verwissenschaftlichung und Verrechtlichung des Leistungssports hat einen gerichtsmedizinisch kontrollierten und auf Indizienbasis sanktionierbaren Sport-Homunkulus geschaffen, der nur noch seinen leistungs- und sozialdynamischen Biovitalfaktor beizusteuern hat - den Rest erledigen die mit seiner optimalen Zurichtung und Überwachung befaßten Instanzen und Berufsstände.

Die NADA wird Pechstein in Kürze empfangen, um sich die Argumente der Sportlerin zum Konzept der sechswöchigen Studie anzuhören. Unterdessen haben die beiden größten Anti-Doping-Komiker in Deutschland, der Molekularbiologe Werner Franke sowie der Pharma-Experte Fritz Sörgel, die die Eckdaten der Studie festlegten, auf halber Strecke ihre Mitarbeit an diesem Testvorhaben aufgekündigt. Als Begründung für Frankes Rückzieher wird das Verhalten des Pechstein-Managements hinsichtlich seiner Person genannt. "Was da abgelaufen ist, war absolut schlechter Stil. Kaum hat man etwas miteinander besprochen, da lese ich es schon im Videotext, dass ich mit Pechstein in einem Boot säße. So geht das nicht: Ich bin raus, der Fall ist für mich erledigt", schimpfte Franke laut dpa.

Tatsächlich drängt sich der Eindruck auf, daß nicht das Pechstein-Management, sondern der Druck der Medien, die von Beginn an in eindeutig vorverurteilender Weise Front gegen die Olympiasiegerin machten, der eigentliche Grund für Frankes Kneifen ist. Die Kolportage, Franke säße mit Pechstein in einem Boot, kommt ja nicht von Sportlerinnenseite, sondern von der Anti-Doping-Journaille, die über jeden den Stab des Verdachtes bricht, der sich nicht zum Scharfrichter der Athleten macht. Vom Vorwurf der "Vereinnahmung" sind Sportfunktionäre ebenso betroffen wie Berichterstatter, Wissenschaftler oder Juristen. Um nicht der mangelnden "Unabhängigkeit" oder "Objektivität" bezichtigt zu werden, heulen die Experten in der Regel lieber mit den Wölfen.

Beim gutachterlichen Expertenstreit geht es mit Sicherheit nicht um Claudia Pechstein. Sie hat allenfalls eine Vorwandsfunktion für eine um soziale und materielle Pfründe buhlende Sportmedizin und -wissenschaft, die im Dienste von Politik sowie industrieller Produktion und Reproduktion stehen. Ob nun leistungs"optimiert" aus dem Gefrierschrank oder leistungs"manipuliert" auf der Eisbahn - diesen Widerspruch hat der fremdbestimmte Athlet nicht zu bewältigen, sondern ausschließlich zu erleiden.


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(1) Siehe auch:
KOMMENTAR/038: Claudia Pechstein - Präzedenzfall für die sportjuristische Schlachtbank (SB)

7. September 2009