Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → MEINUNGEN

KOMMENTAR/047: Kinderausbeutung und -sklaverei im Fußballkapitalismus (SB)



"Der große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein", hatte einst der weltberühmte Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht gesagt. In seinem Essay "Krise des Sports" (1928) plädierte er für einen nicht von fremden Interessen instrumentalisierbaren Sport: "Kurz: ich bin gegen alle Bemühungen, den Sport zu einem Kulturgut zu machen, schon darum, weil ich weiß, was diese Gesellschaft mit Kulturträgern alles treibt, und der Sport dazu wirklich zu schade ist. Ich bin für den Sport, weil und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (also nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist."

Vor rund 80 Jahren konnte Brecht noch nicht ahnen, daß seine Befürchtungen in jeder Hinsicht übertroffen werden würden, und zwar so sehr, daß es heute nicht einmal mehr eine fundamentale Sportkritik von gesellschaftlicher Relevanz gibt, die die zeitgenössischen Erscheinungsformen der Sportkultur, insbesondere des globalisierten Spitzensports, radikal in Frage stellt. Letzte Zuckungen in dieser Hinsicht gab es in den 1970er Jahren, als die sogenannten Neuen Linken in Anlehnung an die kritische Theorie der Frankfurter Schule sowie an neomarxistische Theorien den Sport als Form der Verdinglichung, Entfremdung und Maschinisierung des Menschen in den modernen (kapitalistischen) Industriegesellschaften sowie die dahinterstehenden Ideologien bloßstellten.

Doch ebenso, wie sich die Kritik institutionalisierte (siehe die Etablierung der Sportwissenschaft/Sportsoziologie/Sportpsychologie in der Bundesrepublik als Sachwalter und Teilhaber gesellschaftlicher Unterdrückung) und die Kommerzialisierung und Professionalisierung der Sportkultur voranschritt, so daß wir es heute im globalisierten Spitzensport mit zu profitorientierten Wirtschaftsbetrieben mutierten Vereinen und Verbänden zu tun haben, die mit ihren unersättlichen Vermarktungsmaschinen und der nimmermüden Marketingpropaganda die gesamte Sportkultur durchherrschen, verschwand auch die grundsätzliche Sportkritik der Linken in der Versenkung.

Wenn sich nun ausgerechnet die Global Player des Fußballs, FIFA-Präsident Joseph Blatter und UEFA-Präsident Michel Platini, in die Pose des Kritikers werfen und die ausbeuterischen Verhältnisse im global organisierten Fußballgeschäft scheinbar radikal beim Namen nennen, wie schlimm muß es dann tatsächlich um den Fußball als Spiegelbild kapitalistischer Vergesellschaftung stehen? Wenn schon ein Machtmensch wie Joseph Blatter, der dem reichsten und größten Sportverband der Welt vorsteht, den Umstand, daß die Vereine die Rechte an Spielern haben, die sie in Talenteschmieden in Afrika großziehen, dahingehend bewertet, daß man das "auch Neokolonialismus oder Sklaverei nennen" [1] könnte, müßte man dann nicht vielmehr davon ausgehen, daß dies die ausbeuterischen Verhältnisse im Profisport noch verdeckt oder beschwichtigt?

Auf seinem Kongreß im Juni hatte der Fußball-Weltverband auch über Kindertransfers diskutiert. In der Abschlußerklärung wurde u.a. festgehalten, daß die FIFA Maßnahmen gegen "Kinder-Sklavenhandel" ergreift. Hintergrund ist die gängige Praxis, daß europäische Vereine "erfolgshungrige", oft minderjährige Talente aus Afrika und Südamerika mit lukrativen Angeboten, mitunter für die ganze Familie, ins reiche Westeuropa locken, wo sie dann, wenn sie sich nicht sportlich rentieren, wie eine heiße Kartoffel fallengelassen werden. Viele Spieler stranden mit zerstörten Träumen und ohne finanzielle Mittel in der Illegalität. Die FIFA erlaubt solche Transfers, wenn es sich um eine "Familienzusammenführung" handelt.

In einer Rede vor dem Europäischen Parlament in Brüssel hatte UEFA-Präsident Michel Platini bereits im Februar die Minister der Länder eindringlich aufgerufen, Transfers minderjähriger Spieler in der EU zu unterbinden und mit dem "Kinderhandel" im Sport Schluß zu machen: "Ein Kind zu bezahlen, damit es gegen einen Ball tritt, unterscheidet sich kaum davon, ein Kind zu bezahlen, am Fließband zu arbeiten. In beiden Fällen handelt es sich um die Ausbeutung von Minderjährigen. Und wenn man ein Kind oder seine Eltern dafür bezahlt, daß es einen Ozean überquert, es kulturell entwurzelt, es seiner wichtigen Bezugspersonen beraubt, dann nenne ich das Kinderhandel. Wir haben es hier mit einer Art von sportlicher Zuhälterei zu tun!"

Bislang sind Transfers von Jugendlichen ab 16 Jahren gemäß EU-Recht erlaubt. Vor dem Hintergrund, daß wir heute wüßten, daß weder im Fußball noch in der Wirtschaft der Markt in der Lage sei, "seine eigenen Auswüchse zu korrigieren", plädiert Platini im Einklang mit der FIFA dafür, internationale Transfers von Spielern unter 18 Jahren zu untersagen. Zumal ein solches Verbot, so lautet die weitere Argumentation, auch ein Schutz für die ausbildenden Vereine, deren Sponsoren, Manager, Trainer und Helfer viel in ihr "Spielermaterial" investiert haben, davor ist, "ausgeplündert" und "bestohlen" zu werden.

Hier wird die Sprache der Funktionäre, die den wildgewordenen internationalen Fußball-Kapitalismus nicht nur aus "moralisch-ethischen" Gründen, sondern auch aus "Wettbewerbsgründen" bändigen möchten, immer verräterischer.

Aus eben diesen Gründen hatte der Geschäftsführer von Bayer Leverkusen und ehemalige Bundesliga-Präsident, Wolfgang Holzhäuser, den jüngsten Spruch der "Kammer zur Beilegung von Streitigkeiten der FIFA", gegen den englischen Branchenriesen FC Chelsea ein Transferverbot von nationalen und internationalen Spielern für die nächsten beiden Transferperioden zu erwirken, ausdrücklich begrüßt. Laut Urteil, das erstmals in dieser Härte ergangen ist, sollen die Londoner den damals 15jährigen Gael Kakuta zum Vertragsbruch angestiftet haben. Kakuta war 2007 vom französischen Klub RC Lens an die Stamford Bridge gewechselt. Lens hatte dagegen Beschwerde eingelegt und schließlich durch die FIFA-Schlichtungskammer Recht bekommen. Chelsea muß nun an Lens eine Ausbildungsentschädigung in Höhe von 130.000 Euro zahlen. Darüber hinaus wurde der Teenager, um dessen Wohl und Wehe sich die hohen Funktionäre zu sorgen vorgeben, persönlich für sein Verhalten bestraft, indem er mit einer Sperre von vier Monaten belegt und zu einer Zahlung von 780.000 Euro angehalten wurde, die jedoch vom FC Chelsea erstattet wird.

Während aktuell vor allem Klubs der englischen Premier League im Fadenkreuz stehen, verwies Wolfgang Holzhäuser in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (6.9.09) darauf, daß man als Bundesligaverein ein klein wenig vorsichtig sein müsse, "denn im Prinzip, und das wird oftmals vergessen bei der Diskussion, machen wir ja auch nichts anderes. Denn auch wir holen die Spieler mit acht, neun, zehn Jahren möglicherweise von einem kleinen Verein auf dem Land und integrieren sie dann in unsere Jugendabteilung". Diese Praxis bezeichnete Holzhäuser als "Sinn der Sache". Kritisch werde es aber, wenn Verträge mit den Eltern und Spielern, vor allem Ausbildungsverträge, in denen drinstehe, wie die Ausbildung stattzufinden habe und was nach der Ausbildung passiere, "wissentlich gebrochen werden".

Mit anderen Worten: Der ganz normale, nach vertragsrechtlichem Statut ausgeübte Kinderhandel ist schon in Ordnung! Schließlich braucht ja sowohl die Bundesliga als auch die Nationalmannschaft ständig Nachschub an gesundem Spielermaterial für den leistungssportlichen Verschleißbetrieb und Zuschauerzirkus. Wenn Kinder an ausländischen Fußball-Fließbändern stehen, dann bezeichnet das Platini als "Ausbeutung". Wenn die "Rohdiamanten" aber in heimischen Zuchtbetrieben, auch "Talente- oder Eliteschulen" genannt, zurechtgeschliffen werden, dann nennt sich das "Nachwuchsförderung". Und wenn dann aus der Masse der Talente welche ausgesondert werden, die sich im besonderen Maße für den Spitzenfußball eignen, sprechen die Bosse von "vielversprechenden Ausnahmetalenten", deren Potential man behutsam verheizen - pardon - wecken wolle. Wo die vielen anderen Kinder geblieben sind, die in den Internaten oder Jugendabteilungen der Vereine und Verbände hochtrainiert wurden, ohne daß ihnen der Durchbruch gelang, fragt da niemand mehr. Die sind dann wohl dem "gesunden Konkurrenzkampf" erlegen gewesen. Noch bessere Antwort der Fußballmacher: "Ihr Talent reichte nicht" - so als ob die Leistungs- und Konkurrenzprinzipien des Sports es überhaupt zuließen, daß etwas anderes als systematische Selektion und Ausgrenzung betrieben würde. Selbst wenn es Tausende Wunderkinder gäbe, würden die Leistungssiebe immer dazu führen, daß sich eine stärkere Minderheit zu Lasten der schwächeren Mehrheit durchsetzt.

Eben diese "Pyramide", deren Spitze aus dem alles dominierenden Profifußball besteht, will Michel Platini, wie er vor dem EU-Parlament darlegte, in einer Art Klassenkompromiß zwischen Reich und Arm in ihrem Bestand sichern. Der Elitefußball und die Einnahmen, die er erwirtschafte, sind für Platini das Instrument, "das es uns möglich macht, den Fußball an der Basis, in den Dörfern und Städten, zu stärken und zu fördern. Aber damit diese Solidarität zwischen Reichen und deutlich weniger Reichen gut funktioniert, ist es unerläßlich, daß die Werte, die der Elitefußball vermittelt, im Einklang stehen mit den sozialen und erzieherischen Zielen des Breitenfußballs".

Solange die Funktionsträger des elitären Fußballs das Leistungsprinzip verabsolutieren und eine soziale wie ökonomische Verwertungsordnung von oben nach unten gutheißen, bleibt der Sport, spiegelbildlich zur Gesellschaft, repressiv angelegt. Im Rahmen dieser "sagenhaften Pyramide", von der Platini spricht, sind die "Werte" und "Normen", die Kinder und Jugendlichen an der Basis oder im Breitenfußball vermittelt werden, lediglich funktionale Bestandteile einer, um es in Anlehnung an Brecht zu sagen, "kultivierten", "gesellschaftsfähigen" und "fremdnützigen" Ausbeutungsordnung im Sport.


*


[1] Möglicherweise handelte es sich bei Blatters Kritik an der "neokolonialitischen" Rechte- und Transferpolitik europäischer Spitzenklubs lediglich um einen verbalen Konter auf zuvor erhobene Forderungen seitens der Vereine, finanzielle Entschädigungen von der FIFA für den Antritt ihrer Profis bei den Weltmeisterschaften zu erhalten.

14. September 2009