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KOMMENTAR/147: Pechstein, Ullrich, Contador - Medien im Dienste der Doping-Inquisition (SB)



Wer die Sportberichterstattung der letzten Wochen im Zusammenhang mit den umstrittenen Dopingfällen Alberto Contador (Spanien), Lance Armstrong (USA) sowie Claudia Pechstein ("Causa Erfurt") und Jan Ullrich (beide Deutschland) aufmerksam verfolgt hat, der kann sich schwerlich des Eindrucks erwehren, daß in Deutschland die heilige Inquisition wiederauferstanden ist. Selbstgerechte, in bürgerlichen Projektionen, was denn (fairer) Sport sei, verstrickte Sportjournalisten, die sich einen wissenschaftlich haltlosen Dopingbegriff als ultimatives Legitimationsinstrument der Bezichtigung und sozialen Zerfleischung zu eigen gemacht haben, stoßen kräftiger denn je ins Horn der Dopingjagd und versuchen, mit schierer Stimmengewalt die Verstrafrechtlichung des Sports und seine paradigmatische Transformation zum repressiven Teilsystem globaler Innenpolitik herbeizuschreien. Das macht sie in ihren warmen, von erlaubtem Kaffeeduft geschwängerten Redaktionsstuben, die noch nicht von Dopingkontrolleuren der Enhancement-Polizei heimgesucht werden, wichtig und bedeutsam. Als subalterne Lohnschreiber der von ihnen weder politisch noch historisch hinterfragten Anti-Doping-Agenturen und Sportstreitschlichtungssystemen trocknen sie die Tränen der frustrierten Dopingfahnder und minderbewaffneten Sonderstaatsanwälte, immer darauf bedacht, mit anklagendem Finger auf das betrügerische Gesindel zu zeigen, das notorisch seine Unschuld beteuert und "frei von jeglicher Verdächtigung durch die Welt" (FAZ) turnt. Daß die Willkürmaßnahmen und -urteile von WADA, NADA, CAS und anderen Institutionen selbst von den berufsständischen Nutznießern dieser scheinunabhängigen und antidemokratischen Ordnungsinstanzen bestätigt werden, schert sie nur dann, wenn die Dopingjäger nicht hart und konsequent genug vorgehen, koste es, was es wolle. Der sich aufgeklärt wähnende Qualitätssportjournalist, der nicht mehr verlängerter PR-Arm von Sportverbänden und -wirtschaft sein möchte und über die "Töppi-Toppi-Calli-Kalli-Waldi-Schlappi-Rudi-Duzgesellschaft" (Holger Gertz, SZ) angewidert die Nase rümpft, fraternisiert heutzutage offen mit den Law-and-order-Eminenzen der Dopingbekämpfung, erblickt im Ex-FBI-Agenten Jeff "Dirt" Novitzky (FAZ: "Der härteste Fahnder der Welt") die wahren Hüter der Gerechtigkeit oder hebt einen Industrieanwalt wie den WADA-Gründungspräsidenten Richard Pound ("Doping ist eine Form von Korruption"), der zuvor als Marketingchef die "sauberen" Milliardengeschäfte des IOC eingefädelt hatte, als eine Art "Advocatus Diaboli für Sauberkeit" aufs Heldenpodest (siehe die letzte Play-the-Game-Konferenz in Köln). "Sünder", "Betrüger", "Lügner", "Manipulateure" oder "Täter" sind für die "Wahrheitssucher" feststehende Größen der Anklage, ohne daß auch nur im mindesten der Versuch unternommen wird, diesen regressiven Determinismen gegenseitiger Schuldzuweisung auf den Zahn ihrer Haltbarkeit zu fühlen.

Dabei weiß doch jedes Kind, daß 95 Prozent der Sportjournalisten Betrüger sind! Nein? Dann sollen sie einmal beweisen, daß sie es nicht sind, schließlich gibt es immer wieder schwarze Schafe in der "Parallelwelt des Mediensports". Um die "sauberen", vorgeblich "Öffentlichkeit und Transparenz" herstellenden Verdachtsberichterstatter zu schützen, sollten zunächst einmal sie selbst unter Generalverdacht gestellt und 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag kontrolliert werden - auf Steuerzahlerkosten, versteht sich. Schließlich müssen sich dies die Blut, Schweiß, Tränen und zunehmend Angst schwitzenden Spitzensportler auch gefallen lassen, um ihren Sport "sauber" zu halten. Das gehört zur "neuen Kontrollkultur", die leistungssportnahe Sportphilosophen und desillusionierte Rechtswissenschaftler "im Interesse der Athleten, Zuschauer und der Gesellschaft" etablieren möchten [1]. Mangelhafte Arbeitsnachweise, dubiose Informationsquellen und an den Haaren herbeigezogene Anschuldigungen von Journalisten sollten wie Sportwidrigkeiten mit Berufsverboten belegt, ihre "Hintermänner", auch aus den hehren Hallen der Anti-Doping-Wissenschaft, dingfest gemacht werden. Wer einmal unsauber recherchiert hat, sollte für immer aus dem Olymp der investigativen Journalisten ausgeschlossen werden, zumindest einen Olympiazyklus lang. Daß sich unter ihnen auch viele Falschnegative befinden, sollte klar sein, nur die "doofen" lassen sich erwischen.

Fehler eingestehen, Unzulänglichkeiten zugeben, Regeln hinterfragen, Denktabus aufheben? Aber nein, alles Ausreden und Schutzbehauptungen! Es gilt die "Nulltoleranz", die jeden Tag zu leben sei, wie DOSB-Präsident Thomas Bach vor dem Hintergrund der Berichte über die ungeklärten Vorgänge am Thüringer Olympiastützpunkt rekurrierte. "Der Abschreckungsfaktor muss so hoch wie möglich gelegt, es dürfen keine Kompromisse geschlossen werden. Wenn wir den Dopingsumpf austrocknen wollen, müssen wir ein noch größeres Augenmerk auf die Hintermänner, Dealer und Ärzte richten", so der Wirtschaftsanwalt aus Tauberbischofsheim [2], der sich bekanntlich für das Hochamt im Olympiazirkus empfiehlt. Der Erfurter Arzt Andreas Franke hat bei 30 Athleten, darunter auch Claudia Pechstein (Eisschnellauf), Marcel Kittel (Radsport) und Nils Schumann (Leichtathletik), Blutbehandlungen mittels UV-Bestrahlung zur Infektbekämpfung vorgenommen - eine Methode, die angeblich gegen die WADA-Richtlinien verstößt, obwohl von ihr keine leistungssteigernden Effekte belegt sind und sie "mehr im Bereich des Okkultismus angesiedelt" sei, wie Detlef Thieme, Leiter des WADA-akkreditierten Dopingkontrollabors in Kreischa, dem MDR verriet.

Aber Strafe muß sein. Zumal wenn es die WADA - eine privatrechtliche Stiftung, die zur Hälfte vom IOC finanziert wird und aufgrund ihrer Monopolstellung mit politischer Allmacht ausgestattet ist - sagt und definiert. Es spielt dabei keine Rolle, daß etliches, was auf der Verbotsliste erscheint, weder ungesund noch leistungssteigernd ist, Grenzwerte willkürlich festgelegt wurden und vieles Ominöse mehr. Der Richtblock der WADA, für die Anti-Doping-Legalisten eine so unumstößliche Selbstvergewisserungsinstanz wie einst den Hexenjägern der Scheiterhaufen, ist das Maß aller Dinge. Wenn die Hexen brennen, klatschen die rechtschaffenden Obskuranten begeistert Beifall. Wer sich wie Claudia Pechstein gegen die "Hetzjagd" der ARD wehrt, auf den rotzen die erbitterten Journalisten ab, mitunter gar, um sich für das Amt des DFB-Präsidenten zu empfehlen.

Daß Medienschaffende (wie auch andere Berufsgruppen) kein wirtschaftliches Motiv hätten, um nach der Verregelung und Verrechtlichung des Sports auch seine Verstrafrechtlichung herbeizugeifern, mag glauben, wer will. Fest steht: Der ökonomische Druck auf den Journalismus ist gestiegen, die Zahl der Redakteure in den Zeitungen wird immer stärker abgebaut. Leistungskompression manifestiert sich nicht nur in den Sportarenen, sondern auch in den Redaktionen. Angeblich eine Folge der kostenlosen Angebote im Internet, wie kürzlich eine Vertreterin des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) vor dem Bundestagsausschuß für Kultur und Medien erklärte. Die Redaktionen griffen deshalb verstärkt auf die Arbeit freier Journalisten zurück, deren Gehälter und Honorare gleichzeitig gekürzt würden. Vor allem bei Lokalzeitungen sei ein Trend zum "Kaputt-Sparen" der Redaktionen zu befürchten. [3]

Was liegt also für den ehrgeizigen Sportjournalisten, der so lange als bloßes Anhängsel der Politik- und Wirtschaftsredaktionen betrachtet wurde, näher, als das Brachfeld einer strafrechtlich bewehrten Antidopinghatz, die in einer medikalisierten Leistungsgesellschaft auch durch sämtliche Bürgerstuben führen würde, urbar zu machen und die "neue Kontrollkultur" nach bestem Wissen und Gewissen zu bewirtschaften? Am besten mitten im Sportunterhaltungsteil, das läßt beim emotional leicht entflammbaren Sportkonsumenten, der nach Adressen seiner Schübe sucht, stimmungsvolles Anti-Doping-Bashing erwarten und spendet volkspogromartige Gemeinschaftsgefühle.

Daß sich Sportmediziner und -wissenschaftler, wie nicht nur die "Affäre Erfurt" aufzeigt, von den kalten Anti-Doping-Kriegern wie kleine Schuljungen durchs mediale Dorf treiben lassen, so daß man ernste Befürchtungen haben muß, daß auch noch die Reste ärztlicher Therapie- und wissenschaftlicher Forschungsfreiheit auf dem Altar der Antidopingjäger geopfert werden, verdeutlicht nur, wie weitreichend Akademiker bereits Geißel respektive Sachwalter des Antidopingregimes geworden sind. Kaum zieht die Inquisition durch die Lande und stellt die D-Frage, geben die Fachschaften Verlautbarungen heraus, in denen sie hoch und heilig schwören, keine wie auch immer gearteten Dopingpraktiken zu tolerieren. Wer den ganzen Anti-Doping-Wahnsinn anzweifelt, sich das Denken nicht verbieten läßt und über alternative Optionalitäten zum repressiven Antidopingkampf nachsinnt, wird von den ehrenwerten Kollegen zum Paria erklärt und der öffentlichen Meinungsmeute zum Fraß vorgeworfen.

Auch der Genfer Professor für Leistungsphysiologie Bengt Kayser wunderte sich, warum für Spitzensportler verboten ist, was andere an Medikamenten und leistungssteigernden Mitteln freiweg konsumieren dürfen. Er wurde vor vier Jahren aus dem Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Sportmedizin ausgeschlossen. Kayser hatte laut über Sinn und Unsinn der Dopingbekämpfung nachgedacht [4]. Unter anderem vertrat er die Idee, Doping unter ärztlicher Kontrolle schrittweise freizugeben. Dazu unterbreitete er einige praktische Vorschläge und diskutierte Konsequenzen - nicht mehr möglich in dieser "freien" Gesellschaft, die offene Grundrechtsverletzungen am gläsernen Athleten duldet. In einem Interview [5] mit Prof. Christoph Asmuth von der Technischen Universität Berlin, Leiter des Internetverbundprojektes "Translating Doping - Doping übersetzen", erklärte Kayser, daß ihm diese "totale Nulltoleranz" im Sport, die auf einer ganz starken repressiven Politik basiere, Züge von "Inquisition" und "Moralpanik" aufweise und immer mehr in die Gesellschaft einsickere, Angst mache. Er plädiere für eine pragmatische "Doping-Regulierung", seine persönliche Position sei jedoch eine "Dopingfreigabe". Im politischen Raum von heute sei das aber völlig unmöglich. Wie gesundheitsregulierende Alternativen zur Nulltoleranz in diesem "unglaublichen Antidopingkrieg" im Detail aussehen könnten, deutete Kayser im Interview nur an. Was er jedoch auf keinen Fall möchte, sei ein "Polizeistaat", wo jeder Bürger, auch Studenten bei Prüfungen, jede Woche einer Urinkontrolle unterläge. "Das scheint mir etwas zu sein, gegen das wir streiten sollten", so Kayser. Von solchen Worten hört und liest man im hysterischen Anti-Doping-Mainstream nichts. Dort eifert man darum, wer die beste Story vom Ungeheuer aus dem Dopingsumpf auf den Markt bringt und als erster ("exklusiv") Doping-Verdächtige an den Pranger stellt.


Anmerkungen:

[1] Aus: Giselher Spitzer, Elk Franke (Hrsg.): Sport, Doping und Enhancement - Transdisziplinäre Perspektiven. Sportverlag Strauß, Köln, 2011.

[2] http://www.welt.de/print/die_welt/sport/article13845036/Jagd-auf-Hintermaenner-Dealer-und-Aerzte.html. Letzter Zugriff 16.02.2012.

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/parl/fakten/pafb3023.html. Letzter Zugriff 16.02.2012.

[4] The Lancet, Volume 366, Page S21, 1 December 2005
http://thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736%2805%2967831-2/fulltext. Letzter Zugriff 15.02.2012.

[5] http://www.translating-doping.de/sites/td/files/dokumente/Interview_Bengt_Kayser_10_11_06.mp3. Letzter Zugriff 16.02.2012.

18. Februar 2012