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KOMMENTAR/171: "Sauberer Sport" - Jens Voigt empfiehlt sich für den Sheriff-Stern (SB)




Der alte christliche Kinderreim "Ich bin klein, mein Herz ist rein, daß niemand drin wohne als Jesus allein" bedarf in Anbetracht des mit inquisitorischer Observanz betriebenen Antidopingkampfes, der immer perfidere Formen vorauseilender Unterwürfigkeit und gegenseitiger Bezichtigung hervorbringt, einer zeitgemäßen Neuinterpretation: "Ich bin sauber, mein Verstand ist klein, daß niemand drin wohne als die Polizei allein."

Den Priestern und Technokraten des Antidopingregimes entkommt niemand, weder die Sündigen noch die Reinen. Das gilt sowohl für die von der Krone gekauften Zeugen, auch Kronzeugen genannt, deren durch milde Urteile gelockerter Leumund stets zweifelhaft bleibt, mögen sie ehemalige Kollegen noch so sehr anschwärzen und belasten, als auch für die Saubermänner des Sports, die gerade deshalb Argwohn wecken, weil sie sich als "sauber" bezeichnen. Dies ist keineswegs nur dem bekannten Umstand geschuldet, daß den Spitzensportlern teilweise unmenschlich anmutende Leistungen abverlangt werden, die ohne illegalisierte Mittel nur schwer zu erbringen sind, sondern ergibt sich auch aus der sozialen Bezichtigungsmatrix, daß der "saubere" Athlet den "schmutzigen" so dringend braucht wie die Kirche den Belzebub, um ihre Herrschaft über die Reinen und Sündigen zu formieren.

Will heißen: Ein "sauberer" Athlet, der es seinen Häschern in allen Belangen recht machen will und einer kritischen Auseinandersetzung mit den gegen die Sportler gekehrten Widersprüchen des Antidopingkampfes aus dem Wege geht, wird stets ein Knecht in der Gewalt seines Herrn bleiben. Jeder Versuch, sich durch Anpassung und Unterordnung die Milde seines Hegemons verdienen zu wollen, treibt den Sportler nur noch tiefer in das Verhängnis stets ungenügender Unschuldsbeweise. Die Zerfleischung der Athleten, sich gegenseitig zu verdächtigen, zu beschuldigen, zu denunzieren oder gar zu bespitzeln, sowie ihre fortgesetzte Verhackstückelung durch die Medien ist nicht etwa ein bedauernswertes Nebenprodukt des ansonsten sakrosankten Antidopingkampfes, sondern sein ureigenster Zweck. Je not- und schuldgetriebener der "saubere Athlet", desto leichter läßt er sich am Nasenring der Gerechten durch die Manage führen. Es gehört zu den folgenschwersten Irrtümern der weitgehend entpolitisierten Athleten, daß sie annehmen, der Antidopingkampf richte sich nur gegen die "schwarzen Schafe", während sie selbst und ihr soziales Umfeld - solange sie sich nur brav, regelkonform und gesetzestreu verhalten - von Verdächtigungen und Diffamierungen verschont blieben. Die totalitäre Programmatik des Antidopingkampfes, der alles und jeden unter Generalverdacht setzt und auch dann nicht nachläßt, wenn sich die Sportler mit jeder Faser ihres Körpers polizeipflichtig gemacht haben, prädisponiert jeden Menschen zum "potentiellen Dopingbetrüger", der seine Machenschaften lediglich hinter einer Fassade der Wohlanständigkeit zu verbergen trachtet. Um "glaubwürdig" zu bleiben, sind "saubere Sportler" faktisch gezwungen, sich gegenüber Konkurrenten, Berufskollegen oder Freunden skeptisch oder mißgünstig zu äußern. Wer sagt, nichts gewußt zu haben, macht sich genauso angreifbar wie jemand, der sagt, er habe etwas geahnt (aber geschwiegen).

Bestes Beispiel Jens Voigt. Der als "Saubermann des Radsports" bekannte Routinier, der mit dem Geld, das er verdient, eine Frau und sechs Kinder ernähren muß, behauptet steif und fest, nie gedopt zu haben. Der Berliner wird u.a. von einem früheren Teamkollegen bei CSC, Armstrong-Kronzeuge Tyler Hamilton aus den USA, beschuldigt, gedopt und über verbotene Praktiken im CSC-Team gewußt zu haben, was Voigt bestreitet. Gerade weil Jens Voigt nicht müde wird, sich zum "sauberen Sport" in einem Berufsumfeld zu bekennen, das als hochgradig dopinggefährdet gilt, lenkt er jedoch den Dopingverdacht auf sich. In einem kürzlichen Interview mit "Der Welt" [1] räumte Voigt ein, daß sogar sein Familienleben unter den Folgen des Falls Lance Armstrong zu leiden habe: "Im Kindergarten neulich fege ich gerade das Laub zusammen, damit meine und die anderen Kinder ordentlich spielen können, da kommen Eltern auf mich zu und sagen: 'Herr Voigt, und Sie? Was sollen wir denn über Sie denken?' Wenn ich mich vor Menschen, die ich kaum kenne, rechtfertigen muss für meinen Beruf, dann ist eine Grenze überschritten. Das passiert mir sogar an der Supermarktkasse."

Diese gefühlsmäßige Grenze, auf die der 41jährige Familienvater abhebt, wird vom expansiven Wahrheitsregime des Antidopingkampfes, das nicht nur eine Kontroll-, sondern auch eine Mißtrauenskultur normativ zu festigen sucht, zu Lasten des Individuums immer weiter verschoben. Der Bürger lernt und verinnerlicht, sich und sein soziales Umfeld durch die Augen der Dopingpolizei zu sehen. Was die Anti-Doping-Journaille in ihrer Verdachtsberichterstattung nahezu täglich vorexerziert, färbt unweigerlich auf die Gesellschaft ab.

Ohne sich über das allgemeine Unbehagen hinaus gegen den steigenden Bezichtigungsdruck zu wehren, gibt Jens Voigt selbst darüber Auskunft, wohin die Reise geht, wenn sich die gegenseitige Verdächtigung sportübergreifend im Denken und Handeln der Bürger eingenistet hat. Auf die Frage des Interviewers, ob er tatsächlich nie etwas mitbekommen habe von Doping bei seinen Rad-Kollegen, erklärte der gebürtige Mecklenburger: "Ich bin ja nicht dumm oder taub. Aber schauen Sie: Sie sitzen doch auch mit zehn, vielleicht 20 Kollegen im Büro, jeden Tag acht Stunden. Wenn die abends aus dem Büro gehen, wissen Sie, was die machen? Ob sie Fernsehen gucken? Sport treiben? Oder ob sie koksen, Marihuana rauchen? Zahlen sie GEZ-Gebühren, ihre Steuern? Man arbeitet acht Stunden zusammen. Aber was weiß man deshalb über die anderen? So geht es mir auch, und so ist es auch mit Doping im Radsport. Wer etwas Verbotenes tut, redet nicht darüber." [1]

Die Ratio des Antidopingkampfes, der nach Darstellung der Politik eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vorangetrieben werden müsse, verlangt nach Abhilfe: Um potentiellen Delinquenten das Handwerk zu legen, müssen überall im Berufsleben Kontrollücken reduziert, das Netz der Überwachung gestrafft, Meldeauflagen verschärft und härtere Strafen bei Vergehen eingeführt werden. Wer sich nicht zu einer sauberen Gesellschaft bekennt, verdächtigen Kollegen nachspioniert oder gar grundlegende Zweifel an der Sinnfälligkeit der Maßnahmen äußert, muß als Vertuscher, Verharmloser oder Wahrheitsverhinderer geächtet werden. Um nicht nur persönlichen, sondern auch administrativen Anpassungsdruck zu erzeugen, sind die bewährten Konkurrenz- und Steigerungsimperative des Sports auch auf Sportarten, Institutionen und Länder anzuwenden. Wer in den internationalen Anti-Doping-Rankings zurückfällt (zu wenig positive Tests, zu laxe Kontrollen, zu lasche Gesetze, zu wenig Verfolgungsdruck, zu niedrige Budgets etc.) und seine "Vorreiterrolle" oder "Spitzenposition" im Antidopingkampf zu verlieren droht, muß nachbessern. Wettrüsten und Überbietung ad infinitum: Radsport vs. Fußball, NADA vs. USADA, Deutschland vs. Italien.

Wer sich Lebensbereiche vorbehält, in denen nicht überprüft werden kann, ob das Null-Toleranz-Prinzip für Verbotenes auch eingehalten wird, dem ist mit nachhaltigem Mutmaßungsdruck zu begegnen. Nur wer sich proaktiv zum "sauberen Sport" in einer "sauberen Gesellschaft" bekennt, verdient es, von den "sauberen Medien" wahrgenommen zu werden. In dieser Hinsicht hat das ambitionierte Versuchskaninchen Jens Voigt seine Lektion bereits gelernt. Im Bemühen, sich als Sportler mit reinem Gewissen und weißer Weste zu produzieren, nahm er auch auf dem Verhörstuhl der "taz" Platz, um sich den bohrenden Fragen der Anti-Doping-Wahrheitskommission zu stellen. Natürlich könne er nicht sicher sein, was seine Teammitglieder, die in Luxemburg, Belgien oder in der Schweiz leben, alle so machten, sagte Voigt im Interview. Er sei an dem Thema ("Restrisiko") manchmal verzweifelt. "Dann möchte ich am liebsten vorschlagen, dass alle Teammitglieder hier in Berlin in eine alte Kaserne ziehen, mit vollständiger Überwachung. Wenn ich eine Chance hätte, die Zweifler zu überzeugen, dann würde ich sogar eine elektronische Fußfessel tragen." [2]

Wenn seine Frau nichts dagegen hätte, würde er sich auch einen taz-Praktikanten zu sich holen, der ihn den ganzen Tag überall hin begleite: "Der ist im Bad, wenn ich dusche, der putzt die Zähne mit mir, der schläft mit mir im selben Raum und ist jede Sekunde bei mir, um alles auf einem Blog zu dokumentieren. Und dann fahre ich im Frühjahr Rennen - genauso, wie ich immer gefahren bin, weil ich genauso wie immer trainiert habe. So könnte ich vielleicht meine Glaubwürdigkeit stärken. Ich möchte einfach, dass alle mir glauben." [2]

Niemals ausreichende Glaubwürdigkeit zum Preis totaler Kontrolle und saubermännischer Gefangenschaft? Es spricht für die Pseudo-Liberalität der taz, daß sie nicht vergaß, Herrn Voigt auch noch danach zu fragen, warum er sich eigentlich nicht an die Spitze der "Antidopingbewegung" setze. Bekanntlich geben Aufseher aus den Reihen der Gefangenen die besseren Vollzugsbeamten ab. Voigt indes versicherte, daß er dies in gewisser Weise ja schon mache: "Und ich mache es auch, weil ich nicht will, dass die Bösen gewinnen." [2]

Auf so einen Sheriff, der in Hollywoodmanier die "Bösen" zur Strecke bringen will, hat die schreibende Dopingpolizei von Springer bis taz nur gewartet.

Fußnoten:

[1] Interview mit Jens Voigt. Von Jens Hungermann. 02.11.2012.
http://www.welt.de/sport/article110560504/Wissen-Sie-ob-Ihre-Kollegen-abends-koksen.html

[2] Interview mit Jens Voigt. Von A. Rüttenauer und M. Völker. 10.11.2012.
http://www.taz.de/Jens-Voigt-und-das-reine-Gewissen/!105268/

19. November 2012