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KOMMENTAR/173: Die Leistungssportgeweihten grüßen den Kommerz (SB)




Mit Schreckensmeldungen wie der, daß ihm zum siebten Mal innerhalb von zehn Monaten die Kniescheibe herausgesprungen sei, wartet Stefan Kretzschmar heute nicht mehr auf. Vergessen auch, was der ehemalige Handballprofi, der 2004 sein Nationaltrikot an den Nagel gehängt hatte, kurz vor der WM 2007 im eigenen Land erzählte: "Ich spüre auch, dass ich die Belastungen nicht mehr ewig wegstecken kann. Das rechte Knie tut schon seit Jahren weh, da ist kaum noch Knorpel drin, und ich muss vor jedem Spiel eine Voltaren einschmeißen, um die Schmerzen auszuhalten. Der Stress wird von Jahr zu Jahr größer." [1]

Inzwischen verdingt sich Stefan Kretzschmar als Fernsehkommentator und Werbefigur. Ehrenamtlich ist er als Sportdirektor des Zweitligisten SC DHfK Leipzig tätig. Als er noch selbst als Spieler die Knochen hinhalten mußte und unter der Terminhatz im Profihandball litt, da ließ sich der "Handball-Punk" gern als rotzfrecher Kritiker der Branche vernehmen: "Am Ende regiert das Geld. Meine Knie sind hin, meine Arme auch. Aber die Manager sind nur daran interessiert, wie sie noch mehr Kohle rankriegen." [2]

Das war einmal. Heute gefällt sich der Medienstar als scharfer Kritiker von Nationalspielern, die zwar im Verein ihre nicht selten angeschlagenen Knochen hinhalten wollen, nicht aber unter allen Umständen mehr in der Nationalmannschaft. Die Meldung, daß die Flensburger Rückraumspieler Holger Glandorf und Lars Kaufmann ihre Teilnahme an der WM in Spanien (11. bis 27. Januar 2013) wegen Verletzungsproblemen absagten, habe für ihn das Faß zum Überlaufen gebracht, erklärte der ehemalige Weltklasse-Linksaußen empört. "Tendenzen in diese Richtung gibt es schon länger. Ich weiß nicht, ob jeder sich darüber im Klaren ist, was für die Nationalmannschaft und den Handball auf dem Spiel steht", sagte Kretzschmar dem Sportinformations-Dienst [3] und twitterte: "Nationalmannschaft absagen aus gesundheitlichen Gründen, aber jedes Wochenende im Verein 100 Prozent geben. Bedenklich und charakterlos!" Zu seiner Zeit, warf Kretzschmar sich in die Brust, "konntest du uns aufs Spielfeld tragen, und wir haben gespielt, wenn es für Deutschland ging".

Was allerdings nur die halbe Wahrheit darstellt, denn natürlich hatte auch Stefan Kretzschmar in seiner Karriere Verletzungen erlitten, bei denen er der Schmerzen oder möglicher Folgeschäden wegen lieber darauf verzichtete, sich aufs Spielfeld tragen zu lassen. So fehlte er etwa im WM-Finale 2003 aufgrund eines Fingerbruchs. Auch darf bezweifelt werden, daß der gebürtige Leipziger "für Deutschland" die Zähne zusammengebissen hat. Da auch im ökonomisierten Sport die sozialen Beziehungen Warencharakter angenommen haben, dürfte vielmehr die Steigerung von Marktwert, Sozialprestige und Medienaufmerksamkeit im Kalkül gestanden haben. Daß sich unter den Bedingungen eiskalten Erfolgsdrucks und knüppelharter Leistungsanforderungen auch wärmespendende Kameradschaftsgefühle im DHB-Team entwickeln, zumal wenn der Kader steht und die Stammspieler nicht noch durch weitere interne Konkurrenzkämpfe belastet sind, sollte nicht verwundern. Als humaner Faktor des Sports sollte die Kompensation der Not allerdings nicht gerade verklärt werden.

Über die steigenden Belastungen und die damit verbundene Verletzungshäufigkeit wird seit vielen Jahren im Profihandball geklagt, wo sich im wesentlichen zwei Sportverwertungssysteme einen Kampf um die Fleischtöpfe liefern. Die Verbände, die über die internationalen Turniere ihre Gelder generieren, veranstalten jedes Jahr eine EM oder WM. Alle vier Jahre kommt noch ein Olympiaturnier hinzu. Dazu jede Menge Test- und Qualifikationsspiele. Die Profivereine, die auch die Löhne zahlen, schöpfen indessen ihre Gelder aus Wettbewerben wie der Bundesliga, DHB-Pokal und Europacup. Nebenbei finden noch nationale und internationale Test- und Renommierspiele statt. Auf diese Weise kommen Spitzenkräfte leicht auf 100 Spiele pro Saison, ohne daß ihnen Regenerationszeiten verblieben. Obwohl der Terminkalender aus allen Nähten platzt, offerierte kürzlich das Europäische Olympische Komitee (EOC), ab 2015 noch "European Games" mit allem Drum und Dran veranstalten zu wollen. Auch den Olympiers geht es auf dem Wachstumssektor Sport vor allem um das Geschäft.

Am Ende der Verwertungskette steht der Leistungssportler, der die marktförmige Körperausbeutung soweit verinnerlicht hat, daß er Selbst- und Fremdbestimmung nicht mehr unterscheiden kann, dafür aber die Moralvorhaltungen des Sports aus dem Effeff beherrscht und jenen Charakterlosigkeit vorwirft, die sich nicht vollständig mit dem Produkt - hier "der Handball", den es voranzubringen gelte - identifiziert haben, selbst wenn dies auf Kosten der Gesundheit geht.

Wer wie Holger Glandorf, der sich im Frühjahr bei einem Lehrgang der DHB-Auswahl eine schwere bakterielle Infektion an der Achillessehne mit der Gefahr einer Amputation zugezogen hatte, woraufhin er dreimal operiert werden mußte, und der zudem unter ärztlich diagnostiziertem Bluthochdruck und Kreislaufproblemen leidet, seine körperlichen Reserven nicht vollständig ausschöpft, sondern vorerst nur im Verein spielen will, der bekommt nicht nur von ehemaligen Nationalspielern die Moralkeule aufs Haupt, sondern auch vom Bundestrainer. Martin Heuberger, der unlängst selbst erklärte, daß er sich im Handball die rechte Hüfte kaputtgemacht habe, ließ die Öffentlichkeit wissen - wohl auch als Drohgebärde für andere Abweichler -, daß "er das nötige Feuer von Holger Glandorf für die Nationalmannschaft vermisse". [4]

Um nicht als "verantwortungsloser Spieler" in den Augen der Sportfunktionäre und Handballfans dazustehen, war Holger Glandorf gezwungen, zahlreiche Interviews in Presse und Funk zu geben. Dort schwor der 29jährige Weltmeister Stein und Bein, daß ihn nicht Unlust, mangelnder Einsatzwille oder Druck von seiten des Vereins dazu bewogen habe, der DHB-Auswahl abzusagen, sondern allein gesundheitliche Gründe. Es habe ihn immer mit Stolz erfüllt, für die Nationalmannschaft zu spielen. Sobald er genesen sei, stünde er wieder voll zur Verfügung.

Ein Handballsport indes, der mit verkappten, subtilen oder offenen Moralvorhaltungen bis hin zu Nichtberücksichtigungen als Strafe für fehlende Opferbereitschaft (siehe die Handschrift von Ex-Bundestrainer Heiner Brand) arbeiten muß, um seine Bestenauswahl aufzustellen und soziale Kohäsion zu erzeugen, mag geeignet sein, aus seinen Elitesportlern das Maximum an Körpereinsatz herauszupressen. Aber nur so lange, wie man genug hochgezüchtetes Menschenmaterial hat, um dieses "Feuer" am Brennen zu halten. Da hat der Bundestrainer momentan schlechte Karten, denn immer mehr Profispielern geht auf, daß das Motivieren und Antreiben von Spielern genauso zum Geschäft gehört wie das Verheizen. Bei allem Idealismus und bei aller Leidenschaft für den Sport sind insbesondere Akteure, die bereits von schwereren Verletzungen heimgesucht wurden, nicht mehr länger bereit, für jede soziale Emphase ihren Körper zu malträtieren. Ihnen reicht das keineswegs knochenschonendere Happening im Verein, um sich im Reigen des gut bezahlten Erfolgs zu verlustieren. Neben Christian Zeitz zog sich auch Torwart Johannes Bitter (zuletzt Kreuzbandriß) aus gesundheitlichen Gründen aus der Nationalmannschaft zurück. Im Januar hängte Kapitän Pascal Hens (diverse Knie-, Rücken-, Fußverletzungen) seine DHB-Karriere an den Nagel, um sich fortan nur noch auf seinen Verein HSV Hamburg zu konzentrieren. Weitere Topspieler wie Uwe Gensheimer (Achillessehnenriß), Michael Müller (zuletzt Meniskusschaden) oder Michael Kraus (zuletzt Nasenbeinbruch, Bänderriß, Muskelriß) oder der bereits erwähnte Lars Kaufmann (Knie) stehen aus Gründen, die mit Verletzungen zusammenhängen, ebenfalls nicht zur Verfügung.

Nicht, daß die Profiklubs pfleglicher mit ihren Leistungsträgern umgehen würden als der Verband, denn auch dort herrscht aufgrund der Verletzungsträchtigkeit des "High-Speed-Handballs" ständig Not am Mann. Wenn Stefan Kretzschmar beklagt, daß die Vereine Einfluß auf die angeschlagenen Spieler ausübten und ihnen nahelegten, nicht zu spielen, sondern sich auszukurieren, dann mag das auf den ersten Blick so aussehen, als seien die Manager und Vereinsärzte in besonderem Maße um das Wohl der Spieler besorgt. Doch weit gefehlt. Der gesunde, sprich wettkampffähige Spieler stellt nicht mehr als eine betriebswirtschaftliche Rechengröße dar, dessen Körperkapital auf jeden Fall vernutzt werden soll. Modernes Gesundheitsmanagement sowie verbesserte wissenschaftliche Trainingsmethoden versuchen lediglich, das Kosten-Nutzen-Verhältnis zu optimieren. Dosierung und Prävention dienen im Hochleistungssport nur dem Zweck, die Arbeitskraft des Profispielers so lange und kostenschonend wie möglich zu verwerten.

Das wissen auch die Profis. Die seit Anfang der 1990er Jahre stetig vorangetriebene Kommerzialisierung und Professionalisierung des Handballsports in Deutschland hat auch bei Profispielern zu marktgängigen "Lerneffekten" geführt. Der soziale und wirtschaftliche Mehrwert, für die Nationalmannschaft zu spielen, wird schlicht mit dem Gesundheitsrisiko verrechnet, das der von seinem Broterwerb abhängige Spieler einzugehen bereit ist. Auf diese Weise fügt sich der sportliche "homo oeconomicus" ein in die Rationalität gewinnbringender Ressourcenabwägung, bis das individuelle Bereicherungsglück erlischt und der euphemistisch als "Verjüngungsprozeß" oder "Umbruch" beschriebene Austausch verbrauchter durch frische Kräfte seinen scheinbar natürlichen Lauf nimmt.

Bei Kretzschmar waren es die Knorpel, bei anderen sind es die Bänder oder Gelenke. Es sollte den Spielern überlassen bleiben, ohne moralischen Druck darüber zu befinden, inwieweit sie sich den unbestreitbaren Härten des Gewerbes überantworten wollen. Wenn dabei herauskommt, daß das "Aushängeschild Nationalmannschaft" an Strahlkraft verliert und somit auch das Gesamtprodukt Handball, dann mag das für die Handballwirtschaft von Schaden sein, nicht aber für die Physis der Spieler.

Fußnoten:

[1] Interview mit Pascal Hens und Stefan Kretzschmar. 24.01.2007.
http://mobil.stern.de/sport/sportwelt/handball-punks-kretzschmar-und-hens-die-lust-auf-party-ist-da-580955.html

[2] http://www.rp-online.de/sport/handball-starkes-geschlecht-will-frauen-raechen-1.1540375. 31.05.2001.

[3] http://www.handelsblatt.com/handball-nationalmannschaft-kretzschmar-kritisiert-nationalmannschafts-absagen/7517692.html. 13.12.2012.

[4] Bundestrainer Heuberger muss bei der WM auf die Flensburger Glandorf und Kaufmann verzichten. 13.12.2012.
http://www.dhb.de/index.php?id=107&tx_ttnews[tt_news]=3513&cHash=54e35604b4b5cdd2d164f8d1c2116990.

26. Dezember 2012