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KOMMENTAR/189: Wettstreit innovativ - Neue Maße, neue Werte, neuer Mensch (SB)


Letztes Gefecht der Leichtathletik: Knallharte Kriminalisierungspolitik für "saubere" Goldmedaillen



Ist eine Welt ohne die professionalisierte und kommerzialisierte Leichtathletik, wie sie etwa bei der Weltmeisterschaft in Moskau (10. bis 18. August) mit großem Aufwand inszeniert wurde, vorstellbar? Wird die olympische Kernsportart bald nur noch im Schul- und Breitensport zur Erlernung motorischer Grundfertigkeiten für Kinder und Jugendliche oder auf Volkslaufveranstaltungen und Sportabzeichen-Treffs vertreten sein? Der Niedergang der Individualsportart scheint unaufhaltsam. Eine veränderte Bewegungs- und Konsumkultur bei der jüngeren Generation, ein immer älter werdendes (Fach)Publikum, rückläufige Zuschauerzahlen und TV-Einschaltquoten sowie sterbende Meetings und Stadionfeste bescheren der großen Leichtathletik offenbar einen Tod auf Raten. Ohne das am Rande des finanziellen Abgrundes stehende Internationale Stadionfest (ISTAF) im Berliner Olympiastadion hätte die elitäre Leichtathletik kaum noch öffentliche Aufmerksamkeitsplattformen in Deutschland.

Darüber hinaus steht die Leichtathletik wie auch der gesamte Hochleistungssport aufgrund der Dopingproblematik unter großem Rechtfertigungsdruck, der insbesondere durch das Bandespiel von Sportmedien und -verbänden, die das Dopingkonstrukt zum Schutz ihrer jeweiligen Verwertungsinteressen verteidigen, aufgebaut wird. Gerade das oberflächliche Gemeinverständnis, Doping sei Betrug oder ein Anschlag auf die eigene Gesundheit, führt vollkommen an den realen Verhältnissen im Leistungs- und Hochleistungssport vorbei und dient vielmehr dazu, eine kritische Auseinandersetzung mit der konventionellen Sportpraxis wie auch ihren gesellschaftlichen Determinanten zugunsten wohlfeiler Empörung und schneller Übereinkünfte zu verschließen. Solange auch von engagierten Antidopingkämpfern letztlich suggeriert wird, ohne Doping wäre die Welt des Sports wieder in Ordnung und alle müßten sich nur an die Regeln halten, wird sich in einer Gesellschaft, die das Leistungsprinzip auch in ökonomischer Hinsicht verabsolutiert hat, nichts ändern. Denn dann würden die neuen, entchemisierten "Öko-Athleten" eben über sauberdefiniertes Doping zu Höchstleistungen getrieben (siehe Tour de France).

Gerade im Leistungsbereich zeigt sich anhand zahlreicher belegter Fälle, die von schweren Unfällen, Sportverletzungen bis hin zur Invalidität von Spitzensportlern künden, daß der große Sport alles andere als gesund ist. Erfolgreiche Sportlerkarrieren gehen in der Regel nicht aus freien Stücken zu Ende, sondern weil die körperliche Not die Akteure dazu zwingt. Erst kürzlich kündigte die frischgebackene Wimbledon-Siegerin Marion Bartoli ihren Rücktritt vom Tennis an, weil ihr Körper "fertig" sei. Nur unter Schmerzen habe sie es geschafft, durchzuhalten und Wimbledon zu gewinnen, sagte die 28jährige, deren Laufbahn von zahlreichen Verletzungen begleitet war. Auch der Diskusweltmeister und Olympiasieger Robert Harting, als "deuscher Usain Bolt" gefeiert, ist nur durch erlaubte Leistungsmanipulation (Schmerzmedikamente, Physiotherapie, psychologische Betreuung etc.) in der Lage, die internationale Konkurrenz zu überflügeln. Die Süddeutsche Zeitung, die im Sport die scheinheilige Repressionslinie um Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) verfolgt, huldigte dem WM-Titelverteidiger mit der Überschrift: "Gold überstrahlt den Schmerz im Kreuz".

Zuvor hatte sich Harting das Wohlwollen der Journaille erworben, weil er sich erneut für ein rigoroseres Vorgehen gegen Dopingsünder ausgesprochen und härtere Strafen ins Gespräch gebracht hatte. Um den Generalverdacht gegen Leichtathleten die Spitze zu nehmen und "Glaubwürdigkeit" zu suggerieren, sind alle Athleten wie auch sämtliche Funktionsträger des Hochleistungssports gezwungen, ostentative Beweise ihrer "sauberen" Gesinnung abzuliefern. Harting forderte ein Antidopinggesetz und zur Abschreckung mindestens eine Fünf-Jahres-Sperre. Kurz zuvor hatte der Leichtathletik-Weltverband IAAF angekündigt, des Dopings überführte Ersttäter ab 2015 wieder für vier Jahre zu sperren, obwohl dies nicht im Einklang mit den WADA-Bestimmungen steht. Die Internationale Anti-Doping-Agentur hat allerdings selbst eine Kampagne gestartet, den aktuell gültigen WADA-Code so umzuschreiben, daß Berufsverbote von vier Jahren möglich werden. Dies würde in Deutschland gegen grundgesetzlich geschützte Rechtsgüter verstoßen.

Aufgrund der vielen Dopingfälle in den vergangenen Wochen beklagte der Ehrenpräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), Prof. Helmut Digel, einen großen Imageschaden für seine Sportart. Daß vor den Titelkämpfen in Moskau die Weltklassesprinter Tyson Gay (USA) und Asafa Powell sowie Veronica Campbell-Brown und Sherone Simpson (alle Jamaika) mit positiven Testergebnissen aufgefallen waren und noch dazu zahlreiche russische und türkische Leichtathleten gesperrt wurden, hat den Generalverdacht gegen Athletinnen und Athleten, für die sich der Mythos vom "sauberen Sport" zum unentrinnbaren Irrgarten heilloser Fremd- und Selbstdiffamierung verwandelt hat, neue Nahrung gegeben. Um so mehr, als zum Verdruß der bereits das Messer wetzenden Dopingjäger ausgerechnet Sprint-Weltrekordler Usain Bolt noch ungeschoren ist. Von den zehn schnellsten 100-Meter-Läufern der Geschichte gelten derzeit nur der Jamaikaner und sein Landsmann Nesta Carter als unbelastet.

"Die Leichtathletik ist existenziell gefährdet. Das Problem ist, dass man international nur noch über Doping redet. Wir haben Betrüger in unseren Reihen. Jeder Zuschauer denkt: `Da läuft der Zweifel mit.` Das ist für saubere Athleten ein großes Dilemma", ließ IAAF-Council-Mitglied Helmut Digel im Gespräch mit der ARD in Moskau wissen [1]. Der emeritierte Professor des Institutes für Sportwissenschaft in Tübingen könnte theoretisch selbst ein Opfer der saubermännischen Bezichtigungsrhetorik, wie sie im Sport Hochstände feiert, werden. Würde sich beispielsweise vor dem Hintergrund der Plagiatsaffären im Wissenschaftsbetrieb eine Sprachregelung durchsetzen, die Wissenschaftler ständig mit dem Attribut "sauber" konnotiert, geriete sehr schnell der gesamte Berufsstand unter Generalverdacht, und zwar irreversibel. Jeder Entlastungsversuch wäre dann eine Bestätigung des niemals grundlegend verworfenen Bezichtigungsverhältnisses und eine verstetigte Abkehr der im juristischen Raum nicht ohne Grund verankerten Unschuldsvermutung.

Vorrangiges Ziel aller vom Sport profitierenden Kräfte ist es nach wie vor, die Schuldfrage zu personalisieren und auf einzelne Akteure abzuwälzen. Nicht das brutale Konkurrenzsystem des Leistungs- und Spitzensports, die staatlichen Medaillenziele, die Prämienanreize, die hochgesteckten Qualifikationsnormen, der Mediendruck oder die Abhängigkeit von staatlichen Fördergeldern, die Athleten oder Verbände nur bekommen, wenn sie Spitzenplätze erringen, stehen am Pranger, sondern der sogenannte "Pharma-Betrüger" - als ob ein leistungsorientierter Sport ohne den Einsatz pharmakologischer Mittel unter den vorherrschenden Bedingungen überhaupt denkbar wäre. Oder als ob Doping ein "Kopf-" oder "Mentalitätsproblem" sei, wie so viele sich in psychologisierenden Erklärungsmustern verlierende AntidopingkämpferInnen glauben, um weder die materialistischen Grundlagen des Konflikts noch die Inkonsistenzen des Dopingbegriffs beim Namen nennen zu müssen. So behauptet etwa Ines Geipel, ehemalige DDR-Leistungssportlerin und Vorsitzende des Dopingopfer Hilfevereins DOH: "Doping ist eine Frage des Kopfes, der inneren Entscheidung, nicht mehr." [2]

Die Pädagogisierung oder Moralisierung des Antidopingkampfes, der das "sündige" Subjekt in den Mittelpunkt stellt und mit inquisitorischem Eifer bis tief in die Intimsphäre und Körperbiologie hinein nach Auffälligkeiten für illegalisiertes Verhalten sucht, hat die Entwicklung hin zum repressiv kontrollierten Verdachtssport, der Leistung per se als potentiell betrügerisch ausweist, noch befördert. Um das Identifikationsmodell des heroischen Sports zu retten, haben auch Leichtathletik-Funktionäre erhebliche Steigbügeldienste geleistet. Wenn Ex-DLV-Präsident Helmut Digel sich heute beklagt, daß bei Leichtathleten ständig der Zweifel mitlaufe, ob da jemand gedopt habe, dann kann er sich auch bei seinem Nachfolger Dr. Clemens Prokop bedanken, der schon 2006 bei der Leichtathletik-EM das Wort prägte: "Der Argwohn läuft mit." Der Jurist und Richter hatte 2001 das Zepter im DLV übernommen, u.a. weil die sonderliche Welt des Sports durch ihre Verrechtlichung zunehmend zu einem Minenfeld juristischer Fallstricke und Finessen geworden war.

Wie kaum ein zweiter Funktionär repräsentiert Clemens Prokop die harte Linie der Dopingverfolgung mit allen rechtlichen und gesetzlichen Mitteln. Unter Prokop wurde die Strategie, immer schärfere Maßnahmen zu verlangen, um sich nicht Nachlässigkeit oder falsches Spiel im Antidopingkampf nachsagen zu lassen, geradezu perfektioniert. Als hätte nicht schon die Rauschgift- oder Alkohol-Prohibition eine harte Landung auf dem Müllhaufen der Geschichte erlebt, soll der "Anti-Doping-Krieg" auch durch den Staat mit seinen erweiterten Verfolgungsinstrumenten geführt werden. Wie Radsport-Präsident Rudolf Scharping (SPD), dessen Verband unter noch höherem Konformitätsdruck steht als der DLV, fordert Clemens Prokop ein Anti-Doping-Gesetz mit allen Schikanen, ohne daß die gesellschaftlichen Auswirkungen eines solchen Dammbruchs über die Argumente hinaus, mit denen er buchstäblich verkauft wird, einer breiten Öffentlichkeit dargelegt werden. Auch Sportrechtler halten sich sehr bedeckt, scheinen sie doch neue berufliche Herausforderungen und Einkommenschancen durch die Verstrafrechtlichung des Sports zu wittern. Lediglich sportferne Rechtsexperten warnen vor der Instrumentalisierung des Strafrechts durch den sportindustriellen und -politischen Komplex, insbesondere durch das Unterhaltungsgenre, für das die galoppierende Antidopingjagd eine schier unerschöpfliche Quelle profaner wie profiliertester Skandalsierung darstellt. Es spricht Bände, daß namhafte Zeitungen mit dem verdrehten Argument, "dem Generalverdacht gegen Athleten entgegenzuwirken", eine regelrechte PR-Kampagne für ein hartes Durchgreifen des Staates gestartet haben (FAZ: "Die Welle rollt"), wobei sie von Innen- und Justizministern unterstützt werden, die auch schärfere Sicherheitsgesetze und die verstärkte Überwachung der Bevölkerung mit Videokameras fordern. Die Logik sieht jedoch ganz anders aus, als in den Medien kolportiert: Durch eine entfesselte staatliche Dopingverfolgung würde der Generalverdacht nicht nur fest-, sondern bis zum St. Nimmerleinstag fortgeschrieben werden.

Je nach Ausgestaltung könnte ein striktes Antidopinggesetz dazu führen, daß schon der Besitz geringer Mengen von Arzneimitteln, die zu Dopingzwecken mißbraucht werden könnten, zum Einsatz von sonst nur bei der 'Terrorabwehr' erfolgenden Maßnahmen berechtigt. Will heißen: Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen, Telefonüberwachung, Untersuchungshaft, Kronzeugenregelung oder V-Leute im großen Stil.

Wer sich dieser Tage fragt, wie es angehen kann, daß ein vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) gefördertes Forschungsprojekt der Berliner Humboldt Universität (HU), die mit der Westfälischen Universität in Münster die westdeutschen Doping-Praktiken untersucht hat, so hohe Wellen in der Öffentlichkeit schlagen konnte, obwohl die meisten Ergebnisse entweder längst publiziert oder die politischen Schlußfolgerungen daraus lange vorher schon auf der Hand lagen, der findet hier eine Antwort: Der Skandal um "systematisches Westdoping" und der sich daraus ableitende Druck auf die alten und neuen Funktionseliten des Sports wurde genutzt, um der populistischen Forderung nach einer gesetzlichen Strafverfolgung von Dopern neuen Auftrieb zu geben.

Wie unschwer zu erkennen ist, dient die vielstimmig erhobene Forderung nach einem Antidopinggesetz als letzte Ausflucht vor den Konsequenzen, die ein Sport bergen würde, der sich körperemanzipatorischen Fragen zuwendet und sich im Idealfall nicht mehr sportindustriell ausbeuten läßt. Daß sich nun immer mehr ehemalige und aktuelle Funktionsträger aus Sportpolitik und -business für ein Antidopinggesetz aussprechen - bezeichnenderweise auch der durch die HU-Recherchen in Erklärungsnot geratene Hans-Dietrich Genscher (FDP) sowie die sich sonst eher Zurückhaltung befleißigende Linkspartei -, wirft ein Schlaglicht darauf, wie sehr der Konformismus die Dopingdebatte prägt.

Die Vorwärtsverteidigung ist das Geschäft der Spitzenfunktionäre, und Richter Clemens Prokop betreibt sie im Einvernehmen mit den auf Heldenverehrung und -schlachtung abonnierten Zirkusmedien am hemmungslosesten. So fordert er nicht nur bei jeder Gelegenheit die Strafbarkeit des Besitzes von Arzneimitteln oder Wirkstoffen zu Dopingzwecken ab dem ersten Milligramm, sondern schlug kürzlich auch eine internationale Harmonisierung beim Anti-Doping-Gesetz und die Einrichtung einer Art "Interpol des Anti-Doping-Kampfes" vor [3]. Auch auf "sportlicher" Seite will er die Daumenschrauben anziehen. So soll die derzeit achtjährige Verjährungsfrist für Dopingvergehen auf 20 Jahre ausgeweitet werden. Außerdem müßten allgemein die Kontrollen verstärkt werden, u.a. auch in Mannschaftssportarten. Die globale Dopinghatz soll ebenfalls intensiviert werden: Ländern, die kein vernünftiges Kontrollsystem mit gewissen Mindeststandards haben, solle die Teilnahme an Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften verweigert werden. Natürlich müsse der Steuerzahler auch viel mehr Geld in die Nationale Anti-Doping-Agentur (Nada) stecken (Prokop gegenüber 'Sport Bild plus': "Schande für Deutschland").

Dank Prokop hat sich zudem eine innovative Sprachregelung eingeschlichen. "Generalverdacht" heißt nun nicht mehr (nur), daß alle Sportler potentielle Doper sind, sondern nach Prokop bedeute Generalverdacht, "dass Misstrauen gegen die Effizienz des Kontrollsystems besteht" [3]. Mit diesem semantischen Trick läßt sich natürlich herrlich die Ausweitung der entwürdigenden Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen bis weit in die Privatsphäre hinein rechtfertigen, weil sich das Mißtrauen ja angeblich nicht gegen die Athleten richtet.

Schon jetzt wird das Kontrollsystem von einer verhängnisvollen Verdachtslogik beherrscht: Nach allgemeiner Lesart bedeuten positive Tests, daß die Kontrollen greifen oder funktionieren. Neben der Androhung von Strafe soll ein funktionstüchtiges Kontrollsystem die Athleten dazu bringen, das Dopen zu unterlassen, weil sie sonst befürchten müssen, aufzufliegen. Indes: Erfüllt sich der Straf- und Kontrollzweck, weil die abgeschreckten Athleten weniger dopen und somit weniger positive Tests vorliegen, dann gilt gerade das als Beweis dafür, daß die Kontrollen nicht effektiv sind und die Sportler noch erfinderischer dopen. Ergo: Wie sich die Athleten auch verhalten, ein "sauberer" Sport bleibt immer ein verdächtiger oder betrügerischer Sport!

Die klassische Leichtathletik steht an einem Scheideweg: Entweder weiterhin Goldmedaillen mit Hilfe einer dissoziativen Verdächtigungs- und Kriminalisierungspolitik oder - was Förderer, Funktionäre, Athleten und Konsumenten gleichermaßen betrifft - die nüchterne Hinterfragung der eigenen Teilhaberschaft an dieser Entwicklung.

Fußnoten:

[1] http://www.presseportal.de/pm/6561/2534848/dlv-ehrenpraesident-digel-raeumt-dopingprobleme-ein-leichtathletik-ist-existenziell-gefaehrdet. 14.08.2013

[2] RTF.1-Sporttalk am 08.07.2013. Interview mit Ines Geipel.
http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=ZddramLnk8o#at=79

[3] http://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/doping/im-gespraech-clemens-prokop-wir-schoepfen-nicht-alles-aus-im-anti-doping-kampf-12452794.html. 08.08.2013.

26. August 2013