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KOMMENTAR/207: Begleitkuren zum Hochtouren (SB)


Herrschaft der Zahlen: Von der Stoppuhr über den Schrittzähler zum Activity-Tracker



Für SportwissenschaftlerInnen und -medizinerInnen, die sich der Optimierung menschlicher Leistungspotentiale in der Arbeits-, Freizeit- und Konsumptionssphäre widmen, müßten eigentlich Träume in Erfüllung gehen. Die Unterwerfung des menschlichen Körpers unter die Meßinstrumente und Vergleichsparameter strebt im Online-Zeitalter neuen Höhen entgegen. Zwar sind noch keine USB-Stecker erfunden worden, mit denen Computer und Körper zwecks störungsfreier Datenübertragung direkt verbunden werden können, doch in Zeiten allumfassenden Bewegungs-Trackings und internetgestützter Vernetzung ist das auch nicht nötig. Moderne Aktivitätsmesser, die die Herz-, Schritt- oder Trittfrequenz abtasten und alle Bewegungs- oder Arbeitsabläufe bis in den Schlaf hinein registrieren, sorgen rund um die Uhr für ein nahezu drahtloses Datenscreening.

Das Fitneßband am Handgelenk, per GPS oder Handy unsichtbar verkabelt mit Expertentools, welche die Algorithmen einer klugen Lebensführung vorgeben, treiben inzwischen Hunderttausende "gamifizierter" Selbstoptimierer auf die Trimmstrecke. Die alten Meßbänder und Stoppuhren, mit denen ganze Sportlergenerationen dem standardisierten Leistungsvergleich unterworfen wurden, was die Voraussetzung dafür war, die globale Rekordjagd zu entfesseln, sind megaout. In Zeiten zugespitzter Arbeitsverdichtung und der Ökonomisierung aller sozialen Verhältnisse sind zeitoptimierte Fitneßprogramme gefragt, die den von stumpfer Industrie- und Büroarbeit geräderten, gegen Burnout, Prekarisierung und Absturzängste anrennenden Bürger noch unentrinnbarer in das System permanenten Leistungsvergleichs einspeisen. Hier glaubt er endlich das gefunden zu haben, was ihm durch entfremdete, abgepreßte oder krankmachende Arbeit geraubt wurde: Himself. Mit der Selbstvermessung des "eigenen" Körpers, mit Selbstaktivierung, Selbstüberwachung und Selbstdisziplinierung, wird das Individuum zum Manager und Motivationsexperten seiner selbst, unablässig darauf bedacht, den "inneren Schweinehund" zu überlisten und sich im Wettbewerb mit seinesgleichen besserzustellen.

Die Selbstreflexion setzt den anderen voraus und umgekehrt; auch das Bessere braucht das Schlechtere, um sich spiegeln, vergleichen, messen zu können. Als Rechengrundlage dient der Körper, der anhand bestimmter Parameter leistungserfaßt wird. Vermessung und Objektivierung suggerieren dem Anwender, sich wissenschaftlicher Evidenz zu befleißigen - ehrlich und unbestechlich gegen sich selbst zu sein. In hübsch visualisierten Tabellenwerken, Diagrammen und Statistiken bekommt die Herrschaft der Zahlen und Korrelate ein nutzerfreundliches Antlitz. Armband, PC oder iPhone geben Bonus- und Malusauskünfte über Schrittzahlen, Pulsmessungen, Kalorien und Alltagsaktivitäten. Je nach dem, wie ausgefeilt die Anwendungsprogramme (Apps) und technischen Spielereien (Gadgets) sind, werden die Anwender durch die "Stimme im Ohr" erinnert, ermahnt, ermutigt oder angetrieben, nicht von der Spur abzuweichen. Bewegungspunkte, Leistungsdaten, Tagesziele, Scores, Level, Charts, Bonuseinheiten und Zufriedenheitswerte sind die Korrektive der Glücksverheißung. Internet-Foren und Communitys, wo sich die Nutzer über ihre Kalorienverbräuche, Leistungsumfänge und Trainingserfahrungen austauschen können, dienen als soziale Verstärker des Vergleichs zum Zwecke der Unterscheidung und der Unterscheidung zum Zwecke des Vergleichs.

Activity-Tracker sollen aktivieren, stimulieren, motivieren. Als positive Chiffren des Ansporns dienen Gesundheit, Prävention, Fitneß, Schönheit und Wohlgefühl - Leitwerte, die wie Glückssterne am Himmel der neoliberalen Wettbewerbsgesellschaft leuchten, obwohl die pathologischen Folgen von Fitneßwahn, Leistungskult und Selbstunternehmertum sozialwissenschaftlich längst beschrieben sind. Im Unterschied zum Sterntaler-Märchen geht es nicht um Barmherzigkeit und Großzügigkeit gegenüber anderen Menschen, sondern um das Sammeln von Geh-, Lauf- und Fahrradkilometern - im ureigensten Interesse, heißt es. Die asketischen Mühen und leistungssteigernden Pflichten werden sich lohnen, jede zusätzliche Bewegungseinheit zählt. Vom Manager und Profisportler bis zum Bewegungsmuffel und Herzkranken sind sich alle einig: Fit macht glücklich, nur die Dosis des täglichen Workouts muß stimmen!

Eine Vorform auf dem boomenden Markt der Activity-Tracker sind die vergleichsweise einfachen Schrittzähler (Pedometer), deren zu Aktivitätsprofilen hochgerechnete Daten auf Internetplattformen ebenfalls ventiliert werden können. Sie werden von Gesundheitsmedizinern und Sportwissenschaftlern intensiv beworben. Gehe 10.000 Schritte jeden Tag und du hast eine Bewegungsmedizin, die sich positiv auf Zivilisationskrankheiten wie Adipositas, Alzheimer, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gelenkverschleiß, Diabetes, Krebs und andere chronische Krankheiten auswirkt - lautet die Heilsbotschaft an den bewegungsverarmten Menschen. "Mit täglich 10.000 Schritten reduziert sich die Zahl der lebensstilbedingten Erkrankungen um 20 bis 30 Prozent", so Prof. Dr. Christine Graf von der Deutschen Sporthochschule Köln [1]. Anläßlich des 1. Kölner Abends der Sportwissenschaft zum Thema "Fit statt Fett" erklärte die Medizinerin und Wissenschaftlerin: "Es muß nicht immer Sport sein, sondern jede Alltagsbewegung zählt auch. Das heißt, jede Minute, die ich in irgendeiner Weise gehe - Treppen steige, Briefe zur Post bringe, einkaufe, als Frau schön shoppe -, bringt uns weiter. Deswegen ist eigentlich die Steigerung der Alltagsaktivität das Allerwichtigste, was wir machen können." [2]

Diese von vielen Gesundheits- und Leistungsoptimierern vertretene Philosophie läuft letztlich darauf hinaus, das Subjekt entfremdeter Arbeit noch weitreichender als bislang der technokratischen Herrschaft des Messens, Zählens und Vergleichens anheimzustellen. Ob nun Schrittsammler oder Activity-Tracker - es geht darum, das zwischen nützlich, verbraucht und überflüssig changierende Funktionspartikel kapitalistischer Produktivitätssteigerung unter allen Bedingungen betriebsbereit zu halten - auch dort, wo es Kompensation, Erholung oder Regeneration von und für die Arbeit sucht. Der Ansporn ständiger Selbstüberbietung, die Bereitschaft, den Leib in jeder Lebenslage nach Leistungsvorgaben und Body-Mass-Indices zu ertüchtigen, soll auf jeden Fall erhalten bleiben. Denn nur so läßt sich das Bezichtigungsgefüge der neoliberalen Wettbewerbsgesellschaft aufrechterhalten: Wer krank wird, hat sich nicht genug um seine Gesundheit gekümmert, wer schwächelt, hat nicht genug Bewegungspunkte gesammelt. Wie praktisch: Im alle Aktivitäten vereinnahmenden Streben, die Bringschuld durch komparative Bewegungsmathematik zu begleichen, wird jeder Gedanke daran, sich vom Leistungsregime und seinen wie Naturgesetze aufscheinenden Maßgaben zu emanzipieren, gleichsam mit entsorgt. Der Mensch verschwindet, Zahl und Funktion bleiben.

Wohl nicht zufällig verläuft die Evaluation möglichst aller Alltagsaktivitäten parallel zur Etablierung des aktivierenden Workfare-Staates, der sozialpolitisch den Wohlfahrtsstaat abgelöst hat. Das staatliche Kontroll- und Sanktionsregime der neuen Ordnung macht die Gewährung von Sozialleistungen abhängig von der Gegenleistung des Hilfsempfängers, jede Beschäftigung anzunehmen, Wohlverhalten zu zeigen und die Lebensverhältnisse vollständig dem Prüfblick der Behörden freizugeben. Wer nicht alle seine körperlichen Möglichkeiten ausreizt und nicht alles unternimmt, um seine vermeintlichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, bekommt, als hätte er etwas hinzugewonnen, Leistungsentzug. Workfare und Workout sind Zwillingsbrüder der Selbstaktivierung.

Die "freiwillige", über den sozialen Vergleich stimulierte Selbstoptimierung hat sich indessen als die effizientere Form der Fremdausbeutung erwiesen, denn eine nur auf Verbote und Reglementierung ausgerichtete Leistungsgesellschaft stößt dort an die Grenzen ihrer Produktivität, wo die blanke Repression entweder kollektive Abwehr wachruft oder als übermäßiger Kostenaufwand in Konflikt mit dem marktwirtschaftlichen Profitprinzip gerät. Viel günstiger ist da die Variante, daß sich der Bürger, sobald Fitneßarmband oder Schrittzähler Minuswerte anzeigen, selbst in den Hintern tritt. Sportlich, präventiv, proaktiv!

Fußnoten:

[1] http://www.marburger-bund.de/landesverbaende/nrw-rlp/artikel/allgemein/aerztekammer-nordrhein/2013/ein-gesunder-weg-nach-rom. 19.06.2013.

[2] http://www.youtube.com/watch?v=FBFX8WJOfQA. Veröffentlicht am 24.05.2012.

29. April 2014