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KOMMENTAR/215: Vermessungsjoch und Leistungszwang (SB)


Mit Freiwilligkeit fängt es an: Pulsmesser für Schüler bald auch in Deutschland Pflicht?



Vor einem Jahr gingen in Deutschland Orthopäden und Unfallchirurgen mit der Alarmmeldung an die Öffentlichkeit, daß der Anteil übergewichtiger Kinder in den vergangenen zehn Jahren um 60 Prozent zugenommen habe. Die Mehrheit dieser Heranwachsenden sei auch im Erwachsenenalter übergewichtig und leide an schweren Folgeerkrankungen wie Arthrose, hieß es weiter. Darüber hinaus erhöhe Übergewicht durch eine gewisse Unbeweglichkeit die Unfallgefahr, beispielsweise im Schulsport. Dies und Erkrankungen, wie etwa Stoffwechselstörungen, führten zu erheblichen Folgekosten für das Gesundheitssystem. Um die aus Sicht der Fachschaften "bedrohliche Entwicklung" zu stoppen, müsse in der Bevölkerung ein gesundes Ernährungs- und Bewegungsverhalten etabliert werden. Bereits in Kindergärten und Schulen sollten Erzieher und Lehrer den Heranwachsenden einen gesunden Lebensstil vermitteln, etwa vermittels staatlich geförderter Präventionsprogramme, der Einführung neuer Unterrichtsfächer oder der Ausbildung von Präventionstrainern. [1]

Während Orthopäden und Unfallchirurgen in Deutschland eine tägliche Bewegungsstunde für Schüler fordern, nimmt in den USA, wo etwa 160 Millionen Übergewichtige oder Fettleibige leben sollen, eine "bedrohliche Entwicklung" ganz anderer Art Gestalt an. Dort ist man bei der Umsetzung und Etablierung von "Präventionsprogrammen", die die Heranwachsenden fit für Schule, Sport- und Arbeitsplatz sowie das Militär machen sollen, schon ein Stück weiter. Sind SportmedizinerInnen hierzulande noch damit beschäftigt, den Menschen die Vorzüge von Schrittzählern schmackhaft zu machen, damit sie statt der durchschnittlich rund 4000 Schritte irgendwann auch 10.000 pro Tag gehen, was dabei helfen soll, Übergewicht, Bewegungsdefizite oder, noch allgemeiner gesprochen, Gesundheitsrisiken abzubauen, werden in den USA ausgesuchte Schülergruppen bereits eng an der webbasierten Fitneßleine geführt.

Wie "Telegraph Herald" [2] aus dem Land der Bootcamps und des Big Data berichtet, hat die Schulbehörde von Dubuque in Bundesstaat Iowa beschlossen, daß Schüler der öffentlichen Mittel- und Oberschulen beim Sportunterricht einen Pulsmesser anlegen müssen. Das kleine Gerät der Marke PolarGoFit, das die Schüler an einem Brustgurt tragen, erlaubt die unmittelbare Selbst- und Fremdüberwachung via Datenscreening. Weil auch Wand- oder Bildprojektionen möglich sein sollen, können sowohl der einzelne Schüler als auch Mitschüler die körperlichen Leistungen sofort in Augenschein nehmen, was den allgemeinen Konkurrenzkampf noch um den Faktor multimedial vervielfältigten Datenvergleichs beschleunigen dürfte.

Pädagogen wird hier durch einen von Sportwissenschaftlern und -medizinern bis hin zur Lifestyle- und IT-Industrie massiv beworbenen Aktivitätsmesser ein perfektes Disziplinierungsinstrument in die Hände gegeben. Nur in den seltensten Fällen werden die Gesundheits- und Bewegungsideale sowie die Anwendungskorrelate überhaupt einer kritischen Zäsur unterworfen. Das liegt zum einen daran, daß die Datenerhebungen den Heiligenschein meßtechnisch verbürgter Objektivität tragen und den Menschen untrügliche Faktizität suggerieren. Zum anderen wird über die Quantifizierung von Bewegungssequenzen und die implizite Forderung, die Zahl zu erreichen, zu repetieren oder zu steigern, der Eindruck erweckt, als ließe sich daraus auch Bewegungsqualität oder gar körperliche Selbstbestimmung ableiten. Noch schwerer dürfte indessen wiegen, daß Konsensbegriffe wie "Gesundheit" oder "Fitneß" einen so hohen Adaptions- und Anpassungsdruck in der sportifizierten Leistungsgesellschaft ausüben, daß eine radikale Infragestellung kultureller wie medizinischer Normen, denen der ökonomische Verwertungszwang vorausgeht, wie ein Zivilisationsbruch erscheint. Nichts liegt daher näher, als das auf die Metrik des physischen und sozialen Vergleichs geeichte Leistungssubjekt selbst in Frage zu stellen, etwa wenn es ihm durch körperliche Aktivitäten nicht gelingt, den Herzfrequenzmesser über einen längeren Zeitraum in einem als gesund definierten Bereich zu halten, was von den Lehrerinnen und Lehrern in Dubuque leicht überprüft werden kann, wie US-Medien vermelden.

Die elektronisch überwachte Leistungsvermessung macht es den Lehrern noch leichter, ihre wie gutgeölte Maschinen mit einer bestimmten Umdrehungszahl arbeitenden Schüler zu benoten. So erklärte Amy Hawkins, Direktorin für Sport und Wellness in Dubuque, daß die Daten aus den Pulsmessern "einen großen Teil ihrer Note ausmachen werden, weil wir sie nach dem benoten wollen, was sie wirklich im Unterricht machen". Das Programm sei ein Versuch, Schüler aktiv zu halten und die Übungen strenger überwachen zu können. Der Schulbezirk wolle damit demonstrieren, "wie wichtig Gesundheit und Fitneß für unsere Jugend und unsere ganze Kommune ist. Wenn die Kinder besser ihren Fitneßgrad erkennen, dann wird sie das motivieren, diesen weiterhin zu verbessern". [3] Jackie Hart Weeber, eine Gesundheits- und Wellness-Lehrerin an der Eleanor Roosevelt Middle School, sagte, das Programm solle den Schülern eine sofortige Rückmeldung geben und zeigen, "ob sie es gut machen oder ein bißchen härter arbeiten müssen". Ein weiterer Effekt der Datenerhebung sei, daß sie Schüler nicht mehr durch Zuschauen benoten müsse. "Jetzt weiß ich, ob sie wirklich arbeiten." [4]

Die Überlegung, daß sich die "Motivation" der Schüler zur Leistungssteigerung womöglich daraus schöpft, daß ihnen auch noch letzte Freiräume genommen werden, in denen sie vom Lehrkörper unbeobachtet "bummeln", "faulenzen" oder die Übungen nach eigenem Vermögen und Vorlieben so umgestalten, daß sie eben nicht auf härtere Arbeit hinauslaufen, kommt in den Fitneß-Rechnungen sogenannter Gesundheits- und WellnesslehrerInnen offenbar gar nicht vor.

Längst hat sich insbesondere in hochproduktiven Industriestaaten eine Entwicklung breitgemacht, Spiel und Sport in ihr Gegenteil zu verkehren und gegen den Menschen anzuwenden: Aktivitätssteigerung wird zur obersten Bürgerpflicht, und wer sich ihr widersetzt, etwa indem er raucht, sich nicht kalorienbewußt ernährt oder ein weitgehend bewegungsarmes Leben favorisiert, muß sich dies als individuelles Fehlverhalten anrechnen lassen mit der Folge schlechterer Noten oder sozialer Sanktionen. Die elektronische Selbstvermessung und -optimierung treibt den Griff auf das Humankapital mit unentrinnbarer Härte voran, gilt es doch angesichts wachsender ökonomischer und agroindustrieller Krisen die sich mit billiger Nahrung immer schlechter über Wasser haltende Bevölkerung in eine neue Mangelordnung zu integrieren, die das Existenzrecht des einzelnen daran bindet, daß er sich bis zum letzten Pulsschlag und Kalorienverbrauch rechenschaftspflichtig macht.

Die Vorboten sind bereits zu erkennen. Das gilt insbesondere für die riesige Armutsbevölkerung in den USA. Studien besagen, daß von den weltweit rund 671 Millionen Menschen mit Übergewicht der größte Anteil in den Staaten lebt. Gleichzeitig sind in den USA allein 46 Millionen Menschen auf Lebensmittelmarken angewiesen - essentielle Unterstützungsleistungen, die im vergangenen Jahr sogar noch gekürzt wurden. Die Empfänger bekommen pro Monat knapp 189 Dollar Guthaben auf eine Plastikkarte geladen, mit der Lebensmittel an der Kasse bezahlt werden können. Kaufen dürfen sie aber nur bestimmte Nahrungsmittel und Getränke, kalorienreiches - sprich ungesundes - Fastfood ist inzwischen gar nicht mehr erlaubt. Gleichzeitig wird Druck auf die Bedürftigen ausgeübt, mit Hilfe von Sport und ausgewogener Ernährung einen "gesunden Lebensstil" zu pflegen, was aber aufgrund ihrer Mangelalimentierung gar nicht möglich ist.

Noch ist es nicht soweit, daß Fitneßgrad, Nahrungsmittelangebot und Kostendämpfung in einem Gesundheits-Algorithmus subsumiert werden, der von den Behörden mittels Activity-Tracker (mißt Schritte, Kalorienverbrauch, Puls, Blutzucker etc.) jederzeit überprüft werden kann. Die Aktivitätsmesser sind auch noch recht teuer, so daß sie meist nur von den Sporties der "bessergestellten" Bevölkerungsschichten zu erstehen sind. Doch die Bereitschaft, Körperdaten zu erheben, ist in der gesamten Bevölkerung aufgrund der evangeliengleichen Heilsversprechen zunehmend vorhanden. Innovative Produkte der elektronischen Bewegungsmessung schießen auf dem Markt der Wearables (am Körper getragene Datenverarbeitungsgeräte) wie Pilze aus dem Boden. Hinzu kommt, daß Kampagnen und wissenschaftliche Studien, die sich zum Teil sogar widersprechen, den Bezichtigungsdruck auf den beleibten "Wohlstandsbürger", der die Kosten für das Gesundheits- und Solidarsystem hochtreibe, weiter erhöhen. Demnach beginne Übergewicht bereits im Mutterleib, dicke Mütter hätten entweder dümmere Kinder oder stellten eine tödliche Gefahr für die Kleinen dar. Überhaupt sei Übergewicht eine selbstverschuldete Krankheit, zudem würden dickleibige Menschen gesellschaftlich zunehmend als faul, gefräßig und unattraktiv geächtet. "Schlechtes Körpergefühl" beeinträchtige außerdem das Wohlbefinden in der Familie und Schule. Wegen der "sozialen Ansteckung" sollen fettleibige Menschen sogar eine Gefahr für Normalgewichtige darstellen, selbst fettsüchtig zu werden. Die Reihe der diskriminierenden Zuschreibungen könnte man endlos fortsetzen.

Da Gewichtssenkung allein durch Sport und Bewegung sehr zeitaufwendig und mühsam ist (1 Tafel Schokolade = 1 Stunde Joggen), dürfte sich der Fokus ohnehin mehr auf die Reduzierung der Kalorienzahl bei Nahrungsaufnahme und -angebot ausrichten. Dem Sport würde in diesem Sinne eher die Funktion zukommen, den Menschen körperliche Selbstüberwindung und Leidensfähigkeit nach Regeln und Konkurrenzprinzipien einzuüben, während Aktivitätstracker, Kalorienzähler und Body-Mass-Index-Überwachung die Funktion übernehmen, für ein automatisiert schlechtes Gewissen bei der Nahrungsaufnahme zu sorgen, so daß am Ende Nahrungsverknappung sogar als "Plus" für die eigene Gesundheit aufgefaßt wird.

Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, wann die private und öffentliche Verschmelzung von Gesundheitsdaten neue Formen der Bevölkerungskontrolle hervorbringt. Trotz erheblichen Widerstands durch kritische Ärzte, Bürgerrechtsorganisationen und Datenschützer wird das Mammutprojekt von Politik, IT-Industrie, Gesundheitswirtschaft und Kassen, die elektronische Gesundheitskarte (eGK oder e-Card), massiv vorangetrieben. Die zentrale Erfassung aller Medizindaten von Millionen Bürgerinnen und Bürger setzt nicht nur Mißbrauchspotentiale frei (Datenklau und -verkauf, Diskriminierung und Ausgrenzung aufgrund von Krankheiten/körperlichen Mängeln etc.), sondern qualifiziert generell die informationelle Verfügungsgewalt über auf Sozial-, Gesundheits- und Leistungsdaten reduzierte Menschen. Als Schub in diese Richtung dürfte sich die marktgetriebene "Digitale Agenda" der Bundesregierung erweisen. Sie läuft in vielen Bereichen nicht nur auf Internet-Spionage im NSA-Maßstab hinaus, sondern strebt auf den Feldern der digitalen Wirtschaft, Kommunikation, Bildung, Wissenschaft und Kultur die totale Daten-Mobilisierung an - natürlich als große Chance, "unseren Wohlstand und die Lebensqualität zu steigern", wie es heißt.

Die freiwillig weitergegebenen Bewegungs-, Ernährungs- und Gesundheitsdaten, aus denen die IT-Industrie mit Hilfe von "Quantified Self"-Apps fleißig Profile errechnet, harren indessen der kommerziellen wie medizinal-administrativen Verwertung. Wie weit es allerdings mit der Freiwilligkeit bestellt ist, zeigen US-Schulen, wo Schülern bereits zur Pflicht gemacht wird, sich zur dauerhaften Überprüfung ihrer Fitneßarbeit an einen internetfähigen Pulsmesser anzuschließen. Aus der digitalen Trainings- wird somit quantifizierte Lebenssteuerung werden, und zwar mit der gleichen Selbstverständlichkeit und Nachhaltigkeit, wie heutzutage Schrittzähler gegen Übergewicht an Frau und Mann gebracht werden. Dem vollüberwachten "Homo Digitales" winkt eine gesunde Zukunft!

Fußnoten:

[1] http://www.dgou.de/presse/pressemitteilungen/detailansicht-pressemitteilungen/artikel/orthopaeden-und-unfallchirurgen-fordern-fuer-schueler-eine-taegliche-bewegungsstunde.html. 09.10.2013.

[2] http://bit.ly/1oAh5z8. "Cardiac kids: Educators to monitor students' heart rates" by Jeff Montgomery. 15.08.2014.

[3] http://abcnews.go.com/Health/iowa-students-wear-heart-rate-monitors/story?id=25014947. 17.08.2014.

[4] http://www.sfgate.com/news/article/Dubuque-teachers-to-monitor-students-heart-rates-5690876.php. 15.08.2014.

2. September 2014