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KOMMENTAR/223: Zugewinn durch Sisyphus ... (SB)


Leistungsförderung und Gesundheitsmanagement - zwei Seiten einer Medaille



Der vielgeschmähte Fußball-Weltverband FIFA soll bei der letzten WM in Brasilien einen Überschuß von rund 2,4 Milliarden Euro erwirtschaftet haben. Am Gewinn sind auch die Klubs beteiligt, die fleißig Abstellgebühren kassieren. Wie die FIFA jüngst berichtete, wurden an 396 Vereine 70 Millionen US-Dollar ausgeschüttet. Ein nicht unwesentlicher Teil betrifft das sogenannte Schutzprogramm, welches Vereine für Verletzungen ihrer Spieler bei im internationalen Spielkalender verankerten A-Spielen finanziell entschädigt. Nach seiner Einführung 2012 sollen in 126 Fällen insgesamt 39,3 Millionen Euro an die Vereine geflossen sein. Die FIFA rechnet für den Zeitraum bis 2018 mit Kosten in Höhe von 100 Millionen Euro. [1]

Das Echo der Klubs sei überaus positiv, vermeldet der Dachverband, der mit diesem "Schutzprogramm" nicht etwa die Gesundheit der Spieler "schützt", wie man vielleicht meinen könnte, sondern in erster Linie die ökonomischen Interessen der Vereine. Verletzen sich Nationalspieler bei Länderspielen so schwer, daß sie nach vier Wochen immer noch nicht auflaufen können, muß die FIFA ab diesem Zeitpunkt wegen einer "vorübergehenden vollständigen Sportinvalidität", so die technische Bezeichnung, den Vereinen, die die Gehälter der Profis weiterzahlen, Kompensation leisten. Da bei FIFA-Veranstaltungen auch Spieler zum Einsatz kommen können, die sich ihre Blessuren bereits bei Vereinsspielen zugezogen haben, schreibt das FIFA-Schutzprogramm zudem spezielle ärztliche Untersuchungen für "vorverletzte Spieler" vor - nicht aus Sorge um das körperliche Wohl der Nationalspieler, sondern aus versicherungstechnischen Gründen. Die FIFA will möglichst nicht für die Schäden aufkommen, die aufgrund oder infolge "bestehender Verletzungen" aus Vereinseinsätzen entstehen und die bereits ärztlich behandelt werden.

Über die Verletzungs- und Krankheitskarrieren von Spitzensportlerinnen und -sportlern wird in der Öffentlichkeit gewöhnlich nicht viel Aufhebens gemacht; sie sind Bestandteil der Sportinszenierung und lösen beim Publikum allenfalls achselzuckendes Bedauern aus. Außerdem gibt es ja eine "Hochleistungsmedizin für den Hochleistungssport" - so der Slogan, mit dem die Einladung zum "11. Symposium Hochleistungssport" im vergangenen November in Berlin überschrieben war. Die eng mit der Körperindustrie des Spitzensports kooperierenden Experten aus Sportwissenschaft, -medizin und -psychologie verstehen sich als "gute Partner" des Sports und fragen sich zum Beispiel, "welche interdisziplinären Weichenstellungen für die Regeneration des Hochleistungssportlers in Wettkampf und Training erforderlich sind, um ihn optimal in seiner Leistungsfähigkeit und Gesunderhaltung - sowohl physisch als auch mental - zu unterstützen". Der Clou der jüngsten Veranstaltung war, "die Prophylaxe einer neuen Verletzung bereits in die Phase der medizinischen Rehabilitation zu integrieren". [2]

Der Widerspruch, einerseits zur Leistungssteigerung ("Leistungsfähigkeit optimal unterstützen") des Athleten beizutragen, andererseits seine Körperschäden zu therapieren und ihn gleichzeitig vor weiteren Folgeschäden zu bewahren (Rehabilitation und Prophylaxe), ist nur scheinbar einer, weil das Leistungsprinzip und seine verhängnisvolle Programmatik (Überlastung - Verletzung - Überlastung) nicht grundsätzlich in Frage gestellt und zugunsten eines die menschlichen Potentiale schonenden - und nicht, wie im modernen Spitzensport, Verlust und Verbrauch steigernden - Körperumgangs aufgegeben wird.

In den letzten Jahren reüssierende Forschungskonzepte, die einen Ausweg aus dem sogenannten "Risk-Pain-Injury Paradox" suchen und ein "ganzheitliches Verletzungsmanagement" (neuerdings "Gesundheitsmanagement") propagieren [3], erweisen sich bei näherer Betrachtung als Augenwischerei. Die Sportwirtschaft denkt gar nicht daran, dem gnadenlosen Leistungswettbewerb abzuschwören, dem Schmerzen, körperliche Beschwerden und Verletzungen auf seiten der Athleten nicht etwa tragische "Begleiterscheinungen" oder "Phänomene" sind, sondern treibende, nach optimaler Regulation rufende Essenz.

Sportsoziologische Untersuchungen haben gezeigt, daß "Playing hurt" ein weitverbreitetes und akzeptiertes Verhalten im Leistungs- und Spitzensport darstellt. Schmerzen und Verletzungen werden nicht nur durch den massenhaften Einsatz von Medikamenten oder physiotherapeutischen Maßnahmen auf erträgliche Maße gedimmt. Sie werden für den trainingsmethodischen Leistungsaufbau und die körperliche Konditionierung geradezu als notwendig erachtet, vielfach auch glorifiziert. Als soziale Währung können Beschwerden sogar Identitäten stiften.

Relevant werden Schmerzen erst dann im Sport, wenn sie leistungsmindernd sind. Dann werden sie aber häufig verschwiegen oder geleugnet, denn Schwäche, Versagen oder Erfolgslosigkeit sind keine Wettbewerbstugenden - nichts, was in Punkten, Zeiten, Zahlen oder Ranglisten positiv zu Buche schlagen würde. Wer nichts bringt, fällt durchs Rost. "Das soll keine Entschuldigung für die schwache Leistung sein" und ähnliche Statements von Athleten, die sich vor den Mikrofonen und Kameras selbst bezichtigen, sind gang und gäbe im Mediensport. Gleichzeitig müssen sich die nicht selten fitgespritzten und zum "positiven Denken" erzogenen Sportler irgendwie glücklich fühlen, damit das emotionale Pendel nicht die weitere Leistungsgenese hemmt oder gar in Depressionen umschlägt. Die nahezu totale Kontrolle der Topathleten, die nicht nur in Training und Wettkampf stetig leistungsdiagnostiziert, verletzungspräventiv sondiert und psychologisch austariert werden, sondern sich auch im Alltag bis in die intimsten Zonen hinein permanent überprüfen lassen müssen (siehe Anti-Doping-Regime), kreiert einen Funktionskörper, wie man ihn eigentlich nur aus der modernen Nutztierhaltung kennt. Nicht anders als Hochleistungskühe, die durch Zucht, Fütterung, Haltung und Veterinärmedizin so eingestellt werden, daß sie möglichst lange und viel Milch produzieren, sind auch Spitzenathleten gehalten, alles aus sich herauszupressen, was nur geht. Im günstigsten Fall werden die Torturen durch verletzungspräventive Programme lediglich verlängert. Wäre doch schade, wenn potentielle Medaillenkandidaten frühzeitig austherapiert wären. In der hocheffizienten Agrarwirtschaft wird doch auch darauf geachtet, daß die Tiere möglichst lange gesund bleiben und es ihnen an nichts mangelt ...

Allerdings könnte auch der weitverbreitete Schmerzmitteleinsatz im Hochleistungssport bald ein Ende haben - bei gleichzeitigem Erhalt der Leistungsmaximen sowie der kommerziellen Interessen der Vereine und Verbände. Für ihn sei das Ende der Fahnenstange erreicht, erklärte jüngst Thorsten Rarreck, bis vor kurzem noch Vereinsarzt des Fußball-Bundesligisten Schalke 04. Der erfahrene Wettkampfmediziner bestätigte in einem Interview, daß der Schmerzmitteleinsatz im Profi-Fußball in den letzten Jahren stark zugenommen habe: "Es gibt Zahlen, wonach mehr als zwei Drittel der Sportler regelmäßig Schmerzmittel einnehmen, um trainieren und spielen zu können." Auf die Frage, ob der Gebrauch eingeschränkt oder verboten werden müsse, antwortete Rarreck: "Ja, da muss sich etwas tun. Es gibt ja auch Bestrebungen der internationalen Dopingkommission, wonach der Gebrauch von Schmerzmitteln massiv eingeschränkt werden soll. Wenn das in ein paar Jahren so kommt, wird es einen Aufschrei in der Szene geben." [4]

Was zu bezweifeln ist, denn schon jetzt verbeißen sich die Spitzenathleten Schmerzen aller Art, um Leistungen bringen zu können, nicht aus dem A-Kader zu fliegen, den Stammplatz nicht zu verlieren, Verträge, Prämien und die Erwerbsgrundlage nicht zu gefährden, die Erwartungen der Trainer, Eltern, Zuschauer, Sponsoren und Fans nicht zu enttäuschen, nicht als "Weichei" zu gelten etc. pp. Sportlern aus kampfbetonten Sportarten mit viel Körperkontakt wird sogar geraten, aktiv in den Schmerz zu gehen, um dort, wo es weh tut und sich andere der Verletzungsgefahren wegen nicht mehr hintrauen, Vorteile zu erringen. Weil der Leistungs- und Erfolgsdruck auf die Spieler, Trainer und Funktionäre in diesem Geschäft nicht geringer wird, steht allerdings zu befürchten, daß die Bereitschaft der Aktiven, auch mit schmerzenden Verletzungen, die nicht mehr medikamentös betäubt werden, aufzulaufen, eher zunimmt. Die Anpassungsleistung von Spitzensportlern besteht ja gerade darin, die (fremdbestimmten) Regeln und Wettkampfbedingungen eben nicht zu hinterfragen oder grundsätzlich zu bestreiten, sondern sich mit ihnen optimal zu arrangieren. Würde man Entzündungshemmer, Schmerzstiller, Fiebersenker oder ähnliches wie Dopingmittel sanktionieren oder gar kriminalisieren, könnte der saubere "Quäl-dich-du-Sau-Sport" bald in voller Blüte stehen.

Auch Thorsten Rarreck legt nur soviel Konsequenz an den Tag, wie es typisch für seine Profession ist, die ihre Aktien in dem Leistungsgeschäft nicht aufgeben möchte. Zwar räumt er im Verlauf des Interviews ein, daß sich selbst mit optimalen präventiven Maßnahmen nicht alle Verletzungen im Fußball verhindern lassen, es "handelt sich nun mal um eine sehr verletzungsträchtige Aggressiv-Sportart". Und natürlich gibt es auch "knallharte kommerzielle Interessen", die das Pensum an Partien und Wettbewerben für Spieler "weit über das hinaus, was für den Körper noch gut ist", immer mehr ansteigen lassen. Doch am Ende spielt auch er den "Gesundheitsmanager", der allerhand präventive Maßnahmen feilzubieten hat: Verbessertes individuelles Training, Ernährung, Blutanalysen, "metabolisches Tuning" durch gezielte Nährstoffvergaben, mentales Stressmanagement sowie gezieltes Coaching, um "leistungsmindernde und verletzungsförderliche Denkmuster" abzubauen.

Wieviel Denkblockaden müßten wohl bei Wettkampfmedizinern und Sportwissenschaftlern abgebaut werden, so fragt man sich unweigerlich, damit sie offen aussprechen, daß Leistungs- und Gesundheitsförderung im Spitzensport zwei Seiten einer Medaille sind?

Fußnoten:

[1] http://de.fifa.com/aboutfifa/organisation/news/newsid=2506392/. 13.01.2015.

[2] http://www.vbg.de/SharedDocs/Medien-Center/DE/Broschuere/Die_VBG/Programm_11_Symposium.pdf?__blob=publicationFile&v=1

[3] http://www.zeitschrift-sportmedizin.de/artikel-online/archiv-2014/heft-6/editorial/. Juni 2014.

[4] http://www.handelsblatt.com/sport/fussball/nachrichten/ex-schalke-mannschaftsarzt-im-interview-die-spieler-tun-mir-leid-seite-all/11137952-all.html. 31.12.2014.

23. Januar 2015