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KOMMENTAR/229: Zinkerspiele (SB)



Von wegen Chancengleichheit: IAAF verscherbelt Leichtathletik-WM 2021 ohne Bewerberverfahren an die USA

Schweigen kann auch ein Statement sein, nur noch aggressiver. "Zu dieser Entscheidung gebe ich keinen Kommentar ab", zitiert die Süddeutsche Zeitung (online) Helmut Digel, seit 1995 Mitglied im Council des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF und dort für das Ressort Marketing und Fernsehen zuständig. [1]

Der IAAF-Rat hatte gerade der 150.000-Einwohner-Stadt Eugene in den USA den Zuschlag für die Austragung der Leichtathletik-WM 2021 gegeben. Wie schon bei der umstrittenen Vergabe der Leichtathletik-WM 2019 vor wenigen Monaten an Katar waren "wirtschaftliche Gründe" entscheidend, wie der IAAF-Präsident Lamine Diack nach der Sitzung in Peking einräumte, was unterstellt, daß ansonsten andere Gründe Vorrang hätten. Demnach sind im Gesamtpaket garantierte öffentliche Gelder des Bundesstaates Oregon, finanzielle Unterstützung durch das NOK der Vereinigten Staaten sowie ein lukrativer TV-Vertrag einschließlich landesweiter Übertragung durch den Fernsehsender NBC enthalten. So wenig wie die IAAF-Funktionäre interessierte, daß die feudalen Bauwerke und Sportarenen, die im Emirat Katar aus dem Wüstenboden gestampft werden, mit dem Blut der wie Sklaven behandelten Arbeitsmigranten bezahlt werden, so wenig scherte es sie, daß die USA unter anderem wegen ihrer extralegalen Drohnenhinrichtungen, brutalen Folterpraktiken, rassistischen Polizeigewalt, Massenüberwachungen oder Kriegstreibereien in der internationalen Kritik stehen.

Es geht ums Geschäft, um Märkte, Profite und Produktplazierung. Das ist die einzige "Glaubwürdigkeit", die das Sportbusiness bei allen moralischen Spiegelfechtereien um die "Werte des Sports" noch hat. Zum ersten Mal findet eine Leichtathletik-WM in den USA statt. Rein zufällig ist Eugene auch die Heimat des Sportartikelkonzerns "Nike", der seine Produkte vornehmlich in asiatischen Billiglohnländern unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen herstellen läßt. "Nike" ist seit 2005 auch der Generalausrüster des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), dessen Präsident Clemens Prokop die Wahl Eugenes ausdrücklich begrüßte, weil die Stadt ein "Tempel der Leichtathletik" sei.

Als Doha im November vergangenen Jahres die WM 2019 an Land zog, nachdem den IAAF-Ratsmitgliedern wenige Minuten vor der Wahl eine schriftliche Bestätigung des Premierministers von Katar über einen 30 Millionen US-Dollar schweren "Incentive" (Extraanreiz) ausgehändigt worden war, wurde noch so getan, als gäbe es so etwas wie einen "fairen" oder "gerechten" Wettbewerb unter den Bietern - mag das Zuschlagsverfahren auf den letzten Drücker auch großes Befremden ausgelöst haben. Die Praxis der "Incentives" soll von keinem geringeren als dem skandalumtosten IAAF-Präsidenten Primo Nebiolo (1981-1999) eingeführt worden sein. Der für seine feudalen Auftritte berüchtigte Italiener, der als Spießgeselle von Horst Dassler (Adidas) und Juan Antonio Samaranch (IOC-Präsident) die Kommerzialisierung der Leichtathletik maßgeblich vorangetrieben hatte, soll den WM-Bewerbern erlaubt haben, sich mit finanziellen Argumenten gegenseitig zu überbieten, indem sie sogenannte Incentives einbringen, berichtete die NZZ. [2]

Doch selbst diese anrüchige Praxis kann noch übertroffen werden, zumal der Ruf der IAAF inzwischen so ruiniert ist, daß nicht einmal mehr der Anschein eines offiziellen Wettbewerbs aufrechterhalten werden muß. So wurde die WM direkt in die USA verhökert, ohne daß es ein vorheriges Bewerberverfahren gegeben hätte. "Ich weiß, dass diese Entscheidung von dem üblichen Prozedere einer WM-Vergabe abweicht. Aber ich freue mich, dass meine Council-Kollegen diese außergewöhnliche Gelegenheit erkannt haben", verwies IAAF-Präsident Lamine Diack auf die vielleicht nie wiederkommende Chance, einen "Schlüsselmarkt" zu erschließen. [3] Der Senegalese ist seit dem Tod von Nebiolo im Amt und kennt das Geschäft des Eine-Hand-wäscht-die-andere aus dem Effeff. Mit einer Reihe von internationalen Spitzenfunktionären war er in die Schmiergeldaffäre um die ehemalige Sportvermarktungsgruppe ISL/ISMM verwickelt und wurde dafür vom IOC milde sanktioniert. Seine Familie hat zudem ein vetternwirtschaftliches System um die Leichtathletik aufgebaut und betreibt auf internationalem Parkett einen schwunghaften Marketinghandel.

Daß die IAAF die europäischen Leichtathletik-Nationen vollständig ausmanövriert hat, konnte auch beim europäischen Dachverband EAA nicht ohne Reklamation bleiben. Göteborg, das ebenfalls mit der WM liebäugelte, habe noch nicht einmal die Chance gehabt, sich für dieses Event zu bewerben, beklagte sich Svein Arne (Norwegen), neuer Präsident der EAA, über das völlige Fehlen eines ordentlichen Bewerbungsverfahrens. Die schwedische Stadt feiert 2021 ihr 400jähriges Bestehen - doch anders als in Doha oder Eugene gibt es in Göteborg für die Global Player der IAAF offenbar nicht so viel zu holen. Das hat allerdings auch mit der Stellung der Europäer im Weltverband zu tun, die im Council nur noch 10 von 27 Stimmen und im Kongreß 50 von 219 Sitzen haben.

Vor kurzem hatte sich der DLV-Ehrenpräsident und Sportsoziologe Helmut Digel noch damit hervorgetan, daß er in einem offenen Brief die verhaltenen, aber in vielen Aspekten durchaus begründeten Sorgen des DOSB und seiner Athletenkommission um die Auswirkungen des geplanten Anti-Doping-Gesetzes unter Niveau abbürstete. Mit dem Gesetz würde die "Chancengleichheit" von sauberen Athleten "bei nach wie vor sehr chancenungleichen Wettkämpfen" erhöht, erging sich der emeritierte Professor in der Quadratur des Kreises und malte sich eine Ethik schön, wonach für einen sauberen Athleten auch nicht der Grundsatz gelte, "dass alles was nicht ausdrücklich verboten ist, im Hochleistungssport erlaubt sein soll. Er sucht sich nicht jene Lücken und Schlupflöcher in der Liste der verbotenen Substanzen aus, um sich daraus einen Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen Gegnern zu verschaffen. Er setzt sich viel mehr ausdrücklich für einen fairen Wettkampf ein". [4]

Heißen die Wettbewerbsvorteile jedoch "Incentives" und wird die vermeintliche "Chancengleichheit" dadurch ausgehebelt, daß man einen "fairen Wettkampf" in einem "chancenungleichen" Bewerbungsverfahren gar nicht erst zuläßt, dann müssen die Leichtathletik-Funktionäre wohl "Lücken und Schlupflöcher" auf der Liste "nicht ausdrücklich" verbotener Geschäftspraktiken genutzt haben. Einen Brandbrief Digels an die IAAF-Mitglieder, die dieses Verfahren gerechtfertigt haben, hat es indessen nie gegeben und wird es vermutlich auch niemals geben. Dann schon lieber das schwächste Glied der Kette an die Wand stellen und die Kriminalisierung des sündigen Athleten fordern ...

Das macht eben die Profession von Sportfunktionären aus: Sie schlagen bei ausgesuchten Gelegenheiten mit Fairneß-, Moral-, Ethikkeulen so aggressiv um sich, daß kein Athlet wagt, ihr hegemoniales Deutungsmonopol, was denn "chancengerechter Wettbewerb" sei, in Frage zu stellen. Die Teilhaberschaft der "sauberen" Athleten besteht darin, daß sie die fremdnützigen Verwertungsbedingungen ihrer Leidenschaft als die eigenen verinnerlicht haben - so sehr, daß insbesondere der Profi- und Spitzenathlet nur noch als fleischgewordene Personifizierung der ökonomischen Verhältnisse in Erscheinung tritt, geradezu darum bettelnd, im Sinne der Verwertungsordnung reglementiert zu werden (siehe Leistungs- und Anti-Doping-Regime). Dieser modernen Sklavenform des Sportheroismus ist die Selbstgerechtigkeit einer Funktionärskaste äquivalent, die sich nicht nur mit Haut und Haaren der Kommerzialisierung des Sports verschrieben hat, sondern diese auch mit Zähnen und Klauen zu Lasten anderer Möglichkeiten menschlichen Agierens verteidigt.

Wenn IAAF-Chef Lamine Diack nach dem WM-Verkauf in die USA meint, seiner Sportart solle damit der Zugang zu einer der erfolgreichsten Leichtathletik-Nationen und einer der größten Wirtschaftsmächte der Welt ermöglicht werden, dann spricht daraus das Kalkül jedweden Marketenders, seine Geschäfte am besten im Schutz der stärksten Militärmaschinerie auf Erden zu verrichten. Was könnte die Lohnsklaverei und Baustellentoten in Katar besser relativieren als zwei Jahre später eine Kriegs-Dollar-WM beim Supersheriff USA, der die größte Gefangenenbevölkerung der Welt hat und dennoch als Herold der Freiheit gefeiert wird? Hatten Medien sowie Menschenrechtsorganisationen die Petro-Dollar-WM in Doha aus naheliegenden Gründen noch scharf kritisiert, herrscht im Falle Eugenes auf einmal Schweigen im Wald. Wie die Kommentarlosigkeit von Helmut Digel spricht auch das eine beredte Sprache.

Fußnoten:

[1] http://www.sueddeutsche.de/sport/leichtathletik-ausser-konkurrenz-1.2439012. 16.04.2015.

[2] http://www.nzz.ch/sport/das-jahrzehnt-des-golfstaats-1.18441460. 10.12.2014.

[3] http://www.sueddeutsche.de/news/sport/leichtathletik-vergabe-ohne-bewerbung-wm2021-erstmals-in-den-usa-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-150416-99-04302. 16.04.2015.

[4] https://www.leichtathletik.de/fileadmin/user_upload/11_Verband/DOSB_Offener_Brief.pdf. 02.03.2015.

27. April 2015


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