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KOMMENTAR/261: Faule Kompromisse und Scheinmanöver ... (SB)



Die Sorgen des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), die am 15. Oktober diesen Jahres neugegründete Interessenvertretung "Athleten Deutschland e.V." könnte etwas anderes wollen als die Funktionäre, sind völlig unbegründet. Von einem Interessenkonflikt zwischen den zur ständigen Leistungssteigerung getriebenen Sportlern/Spielern auf der einen Seite und den Besitzern, Veranstaltern oder Organisatoren der sportlichen Arbeitskraft auf der anderen Seite scheint die neue Athletenvertretung meilenweit entfernt. Zwar geistern Schlagworte wie "Gewerkschaft", "Unabhängigkeit" oder "Emanzipation" durch die Medien, doch einer inhaltlichen, gar streitbaren Bestimmung dieser gefälligen Platzhalter sind die 45 Gründungsmitglieder des neuen Vereins, dem nur beitreten kann, wer zu den gewählten, eher stromlinienförmigen AthletenvertreterInnen der rund 60 Landessportverbände gehört, nicht ohne Grund schuldig geblieben. Zum einen wollte man die Abwehrreflexe innerhalb des Sportbundes nicht zu sehr verstärken, wie Gründungsmitglied Silke Kassner (Wildwasser-Kanutin) erläuterte, zum anderen auch nicht auf Konfrontationskurs mit den Verbänden gehen. "Wir möchten ein vernünftiger und vertrauensvoller Gesprächspartner sein." [1]

Es geht vor allem darum, für die etwa 10.000 Spitzenathletinnen und -athleten in Deutschland eine Interessenvertretung aufzubauen, eine Art vernetzte Kontakt- und Serviceeinrichtung, die sich auf professionelle und kompetente Weise den gestiegenen An- und Überforderungen der Kaderathleten widmet. Themen wie Training, Schule, Studium, berufliche Ausbildung, Absicherung und Förderung gehören ebenso dazu wie die nicht selten umstrittenen Direktiven oder Normenvorgaben aus Politik, Funktionärswesen, Wirtschaft und Recht.

Die Probleme und Widersprüche, die sich den Eliteathletinnen und -athleten in den Weg stellen, sind gewaltig. Das fängt schon bei der vermeintlichen Unabhängigkeit an. Medienberichten zufolge sollen die AthletenvertreterInnen durch Gespräche mit Politikern in Berlin "Geldquellen" aufgetan haben, die nicht vom Dachverband DOSB gespeist werden. Die Kosten für den eigenständigen Verein mit Büro und drei hauptamtlichen Mitarbeitern haben die Athleten auf 300.000 bis 400.000 Euro jährlich beziffert. Doch wenn jetzt die Berliner Politik den neuen Verein sponsert - wie steht es dann mit der Unabhängigkeit? Zumal nicht wenige Athleten, aber auch Trainer und Wissenschaftler, den Medaillenforderungen von Bundesinnenminister Thomas de Maizière sehr kritisch gegenüberstehen. Bekanntlich hatte der CDU-Politiker 30 Prozent mehr Medaillen von den Spitzenathleten gefordert, was dann ja auch für minderjährige Topleister steigende körperliche Anforderungen bedeuten würde.

Auch die sogenannte Spitzensportreform, in deren Rahmen das "Potenzialanalysesystem" PotAS eingeführt werden soll, das die Mittelvergabe algorithmisch berechnen und Athleten mit geringem Medaillenpotential die Gelder kürzen will, bleibt nicht nur wegen der Streichung von Stützpunkten und Leistungszentren umstritten. AthletenvertreterInnen, die sich näher mit der über ihre Köpfe hinweg dekretierten Reform beschäftigt haben, beginnen bereits zu ahnen, daß eine konsequente Förderung von Medaillenkandidaten, garniert mit einigen Zugeständnissen, um die Sozialverträglichkeit des Systems zu erhöhen, mindererfolgreiche Topathleten vor arge Probleme stellen wird. Profunde Kritik an PotAS, wie sie etwa Prof. Gunter Gebauer (Freie Universität Berlin) vor dem Sportausschuß des Deutschen Bundestages vorgebracht hatte ("Die Mathematik, die die Zukunft vorhersagt, gibt es nicht."), wird weitenteils ignoriert. Das als Lösung propagierte "Transparenzgebot" von Datenerhebungen und -bewertungen, sofern es überhaupt jemals eingelöst wird, kann ebensowenig überzeugen, ändert es doch keinen Jota am innersten Zweck der "potenzialorientierten Fördersystematik". Deren Funktion besteht vor allem darin, unter dem Mantel der Objektivität eine Legitimationsgrundlage zu schaffen, Eliteathleten mit potentiellem Förderentzug unter Druck zu setzen, sich noch stärker in die Eisen zu legen, um auf internationalem Parkett mithalten zu können. Über die sozialen und gesundheitlichen Schadensfolgen der Medaillenarithmetik - das in den Medien hochgehandelte Thema Doping wäre hier nur ein Aspekt - gehen die an der Spitzensportproduktion gut verdienenden Fachschaften gewöhnlich hinweg, um ihre alten wie neuen Claims nicht zu gefährden.

Wie hilf- und ahnungslos, ja geradezu selbstzerstörerisch die neue Athletenvertretung etwa bei der alles beherrschenden Doping-Problematik agiert, wird schon an der Forderung deutlich, die der Vorsitzende Maximilian Hartung vor der Gründung des neuen Vereins erhob. So verlangte der Säbelfechter eine über IOC-Standards hinausgehende Sanktionshoheit der Welt-Doping-Agentur (WADA) gegenüber nationalen Verbänden und Ländern, womit er sich nicht nur den langjährigen Forderungen der Scharfmacher angeschlossen, sondern sich auch dem Verdacht ausgesetzt hat, daß das eben der Preis für die Unterstützung des neuen Vereins durch die Bundespolitik war. Der Schritt würde die internationale Dopingpolizei mit einer Machtfülle und Sanktionsgewalt ausstatten, die der geopolitischen Instrumentalisierung des Anti-Doping-Kampfes, wie sie schon jetzt im Falle Rußlands sichtbar wird, Tür und Tor öffnete. Politisch mißliebige, meist ärmere Länder könnten unter dem Vorwand, nicht genug gegen Doping zu unternehmen, von den reichen und technologisch führenden Industrienationen noch stärker unter Druck gesetzt werden, eine Kontroll- und Überwachungsstruktur zu implementieren, die selbst in den Ländern mit Goldstandard von Experten als "reine Augenwischerei" oder "ideologische Maßnahme" angeprangert wird. Die im kleinen bereits betriebene Dauerbezichtigung der Athleten als Betrüger würde damit auf die zwischenstaatliche Makroebene gehoben werden mit der Folge, daß sich die tonangebenden Länder - vermittelt über ihre vermeintlich unabhängigen WADA/NADA-Agenten, die in Wirklichkeit die Interessen der globalen Sportindustrie und damit ihre eigene (gutdotierte) Teilhaberschaft in diesem Räderwerk schützen - gegenseitig mit Schuldvorwürfen traktieren.

Ohne professionelle (juristische) Unterstützung war es nach Aussage von Maximilian Hartung schon beim Ende 2015 in Deutschland eingeführten Anti-Doping-Gesetz schwer, im Sinne der Athletenschaft Stellung zu beziehen. Neue technische und gesellschaftliche Entwicklungen bei der elektronischen und sozialen Kontrolle von Leistungssportlern wird "Athleten Deutschland" weitere Stellungnahmen abfordern. Lediglich der spröde Firnis aus Datenschutz und Persönlichkeitsrecht hält die einschlägigen Dopingjäger noch davon ab, immer drastischere Maßnahmen zu ergreifen. Der Brite Mike Miller, Geschäftsführer der Vereinigung der Olympiateilnehmer weltweit (WOA), hatte kürzlich auf einer Konferenz über die "Integrität im Sport", vorgeblich als Privatperson, laut darüber nachgedacht, Sportlern in Zukunft einen Mikrochip zu implantieren, um die Einnahme von Dopingmitteln aufdecken zu können. "Wir versehen unsere Hunde mit Mikrochips, das scheint ihnen nichts auszumachen. Warum machen wir es dann nicht bei uns selbst? Wir müssen den Betrügern einen Schritt voraus sein", so Miller. [2]

Die technologische Optimierung des Kontroll- und Überwachungsapparates liegt auch im Bestreben der deutschen NADA, welche in Zusammenarbeit mit Datenschützern über GPS-basierte Ortungsgeräte für "Gefährder"-Athleten nachdenkt. Die Bonner Agentur, die in Deutschland die umstrittene Kriminalisierung einer Sportregelverletzung wie Doping vorangetrieben hatte, um Athleten mundtot zu machen, die ohne Angst vor juristischer Verfolgung in der Öffentlichkeit über ihre Dopingdilemmata sprechen wollten, will nun auch "Athleten Deutschland e.V." in ihrem Recht auf einen dopingfreien Sport unterstützen. Mit der kritiklosen Inanspruchnahme dieses "Rechts" läuft die neue Athletenvertretung allerdings in das Messer eines Verfolgungsterrors, der die SportlerInnen um so mehr heimsucht, je "sauberer" und "gläserner" sie sein wollen.

Nicht nur auf den politischen Rechtsaußenfeldern, sondern auch in der Wissenschaft walten Kräfte, die einer autoritären Lösung der sozialen Probleme zuneigen. So plädierte kürzlich Helmut Digel, Sportwissenschaftler, -soziologe und -funktionär in personam, für einen Perspektivwechsel. "Aus Opfern müssten Täter werden", forderte der emeritierte Professor vor dem Hintergrund, daß ein sauberer Hochleistungssport "in weiter Ferne" sei. Anders als viele seiner Wissenschaftskollegen, die den Athleten als schwächstes Glied der Kette und Opfer eines geradezu entmenschlichten Wettbewerbssystems im Hochleistungssport sehen, spricht sich Digel gegen eine Opferstilisierung aus und verlangt noch repressivere Maßnahmen als die bereits bestehenden. Solidarität mit Tätern müsse sich selbst verbieten, fordert der ehemalige Leichtathletikpräsident. Anstelle einer falschen Anteilnahme müsse soziale Ächtung treten. Natürlich plädiert er auch für lebenslange Sperren und härtere ökonomische Strafen für Dopingsünder. [3]

Anteilnahme, gar solidarisches Verständnis für die vielfältigen Abhängigkeiten und Zwangslagen der Kaderathleten aufzubringen, ohne den legalistischen Stab über die zu potentiellen Tätern gestempelten "Helden" zu brechen, scheint im Angesichte sich massiv zuspitzender Widerspruchslagen der Leistungsgesellschaft, als deren Ideologieträger Spitzenathleten fungieren, kaum mehr möglich. Stehen sportliche Leistungen unter permanentem Betrugsverdacht, wird irgendwann auch die Athletenvertretung hinfällig, weil jede Renitenz als Befürwortung von Doping ausgelegt werden kann. Da können "mündige Athleten", die diesem vielzitierten, meist unerfüllt bleibenden Anspruch auch gerecht werden, nur stören.

Fußnoten:

[1] http://www.taz.de/Interessenvertretung-ohne-Sportbund/!5454991/. 15.10.2017.

[2] http://www.sport1.de/mehr-sport/2017/10/doping-mikrochip-soll-helfen-betrueger-zu-ueberfuehren. 11.10.2017.

[3] http://sport-quergedacht.de/essay/ist-der-anti-doping-kampf-glaubwuerdig/. 31.07.2017.

13. November 2017


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