Schattenblick → INFOPOOL → SPORT → MEINUNGEN


KOMMENTAR/272: Handball - digitale Leistungssteigerung ... (SB)



Nein, die deutschen Bundesliga-Handballerinnen und -Handballer haben sich noch keinen Mikrochip in die Hand einpflanzen lassen, wie dies beispielsweise in Schweden, Großbritannien oder den USA der Fall ist. Dort haben einzelne Unternehmen bereits damit begonnen, ihren Angestellten kleine Funkchips zwischen Daumen und Zeigefinger zu spritzen - etwa zum schnelleren Einloggen in Computer oder zum zügigen Öffnen von Türschlössern. Um die Harmlosigkeit der Implantate zu unterstreichen, versichern alle Firmenleitungen, daß es nicht um eine lückenlose Überwachung oder um eine perfektionierte Leistungskontrolle der Beschäftigten gehe. Obwohl "theoretisch" die Möglichkeit dazu bestünde, sollen die Bewegungsdaten keinesfalls dazu dienen, die Menschen zu mehr Leistung am Arbeitsplatz anzutreiben ...

Und im Bundesliga-Handball? Wer sich die Hofberichterstattung und Sponsorenpresse im professionellen Handballsport vor Augen führt, der muß sich wie im siebten Daten-Himmel fühlen. Wie der Ligaverband HBL stolz verkündet, werden alle Erstliga-Klubs zur kommenden Saison mit hochmoderner Analyse-Technologie ausgerüstet. Das innovative Chip- und Sensoren-Netzwerk von Technologiepartner "Kinexon" werde wertvolle Echtzeit-Daten für "hochpräzise Leistungsanalyse in Wettkampf und Training" liefern. Laut Frank Bohmann, Geschäftsführer der Handball-Bundesliga GmbH, sollen Fans, Medienpartnern und Sponsoren "zusätzliche faszinierende Blickwinkel" eröffnet und "neue Erlebniswelten und innovative Angebote" geschaffen werden. Die ganzheitliche Implementierung der Analyse-Technologie sei im professionellen Ligasport weltweit einmalig. [1]

Obwohl es naheliegend wäre, bekommen die Handballer kein Implantat gespritzt. Doch das ist auch nicht nötig. Um die Bewegungen der Spieler sowie des Spielballs millimetergenau erfassen zu können, werden in die Trikots der Probanden Mikrochips integriert. Auch im Inneren eines speziell dafür entwickelten Handballs (bislang nur für sechs Bundesligaklubs verfügbar) befindet sich ein solcher Chip. "Per Funk werden die Leistungsdaten jedes Spielers in Echtzeit und vollkommen automatisiert aus dem Wettkampf- oder Trainingsspiel heraus verfügbar gemacht", heißt es in einer Pressemitteilung der HBL, die fünf Millionen Euro in ihr Vorzeigeprojekt investiert haben soll. Erste Feldversuche mit gläsernen Handballerinnen und Handballern gab es bereits 2016, nachdem der Deutsche Handballbund (DHB) entsprechende Kooperationen mit dem Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) in Leipzig und dem Münchner Unternehmen Kinexon geschlossen hatte.

Die mit Hilfe moderner Trackingmethoden immer feinere Erfassung und Durchdringung der sportlichen Höchstleister, die sich "freiwillig" dem totalen Zugriff von Wissenschaft, Medizin, Leistungsdiagnostik, Dopinganalytik und Big-Data-Analysen aussetzen, hat in der Konsequenz zur Folge, daß die SpielerInnen anhand ihrer Stärken und Schwächen noch effizienter gegeneinander ausgespielt werden können. Mit Hilfe innovativer Vergleichsparameter und Leistungskoeffizienten werden die Ausbeutungsverhältnisse im professionellen Handballsport weiter "objektiviert" und damit auf eine für die SpielerInnen noch weniger durchschaubare und angreifbare Stufe der Fremdverfügung gestellt.

Das betrifft im gewerblichen Sport insbesondere das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Trainern, die die Saisonziele und Erfolgsvorgaben der Klubbesitzer, Sponsoren, Manager und Verbandsfunktionäre auf dem Spielfeld umzusetzen suchen, und den Vertragsspielern. Trainer und Funktionäre können sich noch besser hinter der Maske vermeintlicher Neutralität oder Faktizität verstecken, wenn sie SpielerInnen mit Hilfe "objektiver Daten" ihre Schwächen und Defizite vorhalten bzw. vorrechnen. Aber auch, wenn Marktwertanalysen oder Vertragsgespräche anstehen, kann auf die Leistungsdaten der SpielerInnen zurückgegriffen werden. Im Profifußball arbeiten Vereine im Scoutingbereich bereits mit KI-Systemen, die über 400 Leistungsdaten pro Spieler auswerten, um etwa anhand von Laufstärke, Paßquoten oder Zweikampfverhalten geeignetes "Spielermaterial" für den Profizirkus aufspüren und den Wert der Talente taxieren zu können. [2]

In der Hoffnung, Wettbewerbsvorteile zu realisieren, ehe die Konkurrenz nachgerüstet hat, aber auch aus Sorge, Trends zu verschlafen, greifen immer mehr Profiklubs und Nationalmannschaften auf technische Innovationen aus dem IT-Bereich zurück - gepusht von Unternehmen, die die Verbände und Vereine oftmals mit erheblichen Summen sponsern und im Profibereich ideale Testbedingungen und Bereitschaftshaltungen für ihre Technologien vorfinden. Im organisierten Handball soll der gesamte DHB-Trainerstab bereits 2015 beschlossen haben, das gewinnverheißende Datenprojekt voranzutreiben.

Das neue Trackingsystem unterstellt, daß alle Beteiligten vom gläsernen Handballspieler profitieren würden. Der Trainer des amtierenden Deutschen Meisters SG Flensburg-Handewitt, Maik Machulla, erhofft sich sogar einen "Mehrwert" bei der "Belastungssteuerung": Die Verfügbarkeit zusätzlicher Daten könne die Früherkennung unterstützen und Spieler vor Verletzungen schützen. Zwar räumen nahezu alle Experten ein, daß man durch diese Daten nicht genau vorhersagen könne, ob ein Spieler eine Verletzung erleiden wird oder nicht. Doch immerhin soll es möglich sein, das Verletzungsrisiko zu minimieren. So wird zum Beispiel behauptet, die Regeneration bei Spielern präziser steuern, oder Akteure, die sich auf dem Spielfeld bei Aktionen von hohem Energieverbrauch ("Impacts") stark verausgabt haben, durch eine ökonomische Auswechselstrategie vor weiteren Leistungsüberziehungen schützen zu können. Das soll im Endeffekt dazu führen, daß die eingesetzten Akteure möglichst immer auf hohem Niveau ("topfit") mit wenig Leistungseinbrüchen und Ermüdungserscheinungen spielen.

Soweit die graue Theorie. Die Praxis im unter zahlreichen Druckkonstellationen stehenden Hochleistungssport sieht in der Regel ganz anders aus. Flensburgs Trainer Maik Machulla formuliert, daß durch das Tracking ein präziser, kontinuierlicher Einblick in die Leistungsparameter jedes einzelnen Spielers möglich werde, daraus ließen sich "wichtige Erkenntnisse ableiten, die dabei unterstützen, Spieler und Teams athletisch weiterzuentwickeln".

"Athletisch weiterentwickeln" stellt ähnlich wie "Potentiale ausschöpfen" eine Chiffre im professionellen Hochleistungssport dar, die ohnehin überdrehte Belastungsschraube so anzuziehen, daß sich das Verhältnis zwischen Aufwand und Verlusten für das Handballunternehmen ökonomisch besser rechnet. Nicht die Gesundheit der Spieler steht dabei im Vordergrund, sondern bezogen auf den endlichen Verbrauch des Körpers seine optimale Nutzanwendung und Wirtschaftlichkeit.

Schon seit gefühlten Ewigkeiten beklagen die Profis die Überbelastungen im Handballsport sowie fehlende Regenerationszeiten, ohne daß ihre Stimme in den maßgeblichen Verbands- und Ligagremien Gehör fände und Maßnahmen zu einschneidenden - d.h. Kommerz und Geschäft beschneidenden - Veränderungen ergriffen würden. Erst im April dieses Jahres hatten zahlreiche Weltklassespielerinnen und -spieler in einer kurzfristig Aufsehen erregenden Videoaktion gegen körperliche Überlastung und Terminhatz im Spitzenhandball protestiert. [3] In dem knapp zweiminütigen Film richteten die Stars eindringliche Appelle an die Funktionäre, nicht mit ihrer Gesundheit zu spielen. Nationalspieler müssen teilweise über 80 Spiele pro Saison bestreiten, bei den letzten Welttitelkämpfen waren zehn Partien binnen 18 Tagen zu absolvieren. Mit kurzer Pause begann danach schon wieder der Ligaalltag mit Punktspielen und Europacuppartien. Und die Belastungsschraube wird immer weiter gedreht, bei der nächsten WM 2021 in Ägypten sollen erstmals 32 statt 24 Nationen teilnehmen. Auch die EM 2020 wurde von 16 auf 24 Teams aufgestockt. In der deutschen Bundesliga zahlen die Profis schon seit Jahren einen hohen Preis. Laut aktuellem "Sportreport 2018" der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG), der sich auf die Saison 2016/17 bezieht, konnte vor allem in der Handball-Bundesliga "ein massiver Verletzungsanstieg um 19,2 Prozent beobachtet werden". Von vier untersuchten Mannschaftssportarten wies der Spitzenhandball mit durchschnittlich 3,1 Verletzungen pro Spieler und Saison die höchsten Werte auf. [4] Nicht von ungefähr steht der Hallenhandball in dem Ruf, Kniekiller Nr. 1 zu sein.

Daß sich unter diesen, der Steigerung von Kommerz und Medienaufmerksamkeit geschuldeten Rahmenbedingungen "smarte" Suffizienzmodelle durchsetzen könnten, die die Belastungen der Spieler - im Zweifelsfall auch gegen die Saisonziele des Vereins und Erwartungshaltungen der Fans - mindern könnten, steht nicht zu erwarten. Hier braucht man sich nur die Digitalisierungsoffensiven von Wirtschaft und Industrie unter dem Stichwort "Arbeit 4.0" anzuschauen, um zu erkennen, zu wessen Lasten die Verhaltens- und Leistungsüberwachung mit Hilfe von Wearables (am Körper getragene Datenverarbeitungsgeräte) geht. Nicht nur für die abhängig Beschäftigten bedeutet die KI-gestützte Optimierung ihrer Tätigkeitswege gesteigerten Arbeitsdruck (siehe GPS-Überwachung bei Amazon), sondern auch für Berufssportler. Je mehr Leistungsparameter erhoben und datentechnisch erfaßt werden können, desto mehr Handhaben für die erfolgsverpflichteten Trainer und Funktionäre, das Individuum auf seine Konditionsmängel, Motivationsverluste oder Potentialverfehlungen festzunageln - sowohl im Training und Wettkampf als auch in der Freizeit, wenn die weit verbreiteten "Activity Tracker" zum Einsatz kommen und Trainingsrückstände oder Abweichungen von den Sollzahlen signalisieren.

Wearables sind noch eine Übergangstechnologie, ehe es zum innerkörperlich verchipten Body- und Biohacking kommt. Im vergangenen Jahr befaßte sich in der Schweiz die Vereinigung der 20 größten wiederkehrenden Sportveranstaltungen ("SwissTopSport") mit der Frage, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf den Sport haben wird. Rund 50.000 Menschen sollen weltweit mit freiwillig eingepflanzten Mikrochips leben und mit den dadurch gewonnenen Möglichkeiten experimentieren. "Wie kann man den Menschen leistungsfähiger machen? Es ist eine Aufgabenstellung, die perfekt zum Leistungssport passt. Auch dort suchen die Athleten im Verlangen nach einem Leistungsvorteil mit letzter Konsequenz das Optimum", schrieb die Aargauer Zeitung. [5].

Die Akzeptanzgewinnung von im oder am Körper getragenen Sensoren, die per GPS, RFID-Systemen, Mobilfunk- oder WLAN-Netzen Verbindungen zu Kontroll-, Analyse- und Überwachungsstationen aufnehmen, läuft normalerweise über Werbung, Unterhaltung und Fitnesspropaganda. Um nicht über die neuesten Unfall-, Krankheits- und Verschleißinzidenzen im professionellen Handballsport sprechen, geschweige denn naheliegende Zusammenhänge zwischen der Verletzungsrate der Profis und den destruktiven Leistungs- und Marktprämissen im Handballgewerbe aufzeigen zu müssen (darüber schweigt auch der VBG-Report), verlegte sich auch Ligafunktionär Frank Bohmann lieber darauf, den Fans den neuesten Handball-Gimmick schwackhaft zu machen. Diese Technologie würde die außerordentlichen Leistungen der Bundesligaspieler "noch spannender, aufschlussreicher und werthaltiger machen", verspricht Bohmann.

Um dem Publikum mehr Zahlen- und Statistikfutter zu servieren, an dem es sich sattfressen kann, sollen die "Top 10-Metriken" sowohl in den Hallen auf Videoleinwänden oder -würfeln als auch in der TV-Berichterstattung und auf den Social Media-Plattformen ausgerollt werden. Geplant sind Daten zu Geschwindigkeit (km/h), verbrauchter Energie (kcal), Sprunghöhe (cm), Airtime (sec), Zeit auf dem Spielfeld (min), Wurfdistanz (m), Anzahl der Pässe, Ballbesitz (%), zurückgelegte Distanz (km) und Wurfgeschwindigkeit (km/h) jedes einzelnen Spielers. Auch wenn am Ende einer Partie immer noch zählt, welche Mannschaft die meisten Tore geworfen und somit das Spiel gewonnen hat, sollen dem Handballkonsumenten noch mehr Möglichkeiten geboten werden, die Akteure auf dem Feld differenziert zu bewerten.

Wer springt am höchsten? Wer hat den härtesten Wurf? Wer ist der Schnellste? Wie es scheint, soll der Handballsport zum Leichtathletik-Event für Zuschauer mutieren, die ihrerseits bereits gewohnt sind, sich mit Fitness-Armbändern, Kalorien-Apps oder anderen Gadgets auf das gerade angesagte Leistungs- und Gesundheitsoptimum zu bringen. Der Umstand, daß sogar die verbrauchte Energie eines Spielers angezeigt werden soll, kann beim Zuschauer nur deshalb Gefühlsreflexe auslösen, weil er selbst schon Funktionsbestandteil der alle Lebensbereiche durchdringenden Verhaltenssteuerung durch algorithmische Datenverarbeitungssysteme geworden ist. Die Emotionalisierung von Zahlen, Daten, Statistiken und Rankings, wie sie im Mediensport Hochstände feiert, trägt zur Herrschaftsförmigkeit der Massen bei - nun auch vollautomatisch, in Echtzeit und ganzheitlich implementiert.

Fußnoten:

[1] https://www.dkb-handball-bundesliga.de/de/n/news/intern/2018-19/handball-bundesliga-gmbh-ruestet-alle-erstligisten-mit-hochmoderner-analyse-technologie-von-kinexon-aus/. 07.05.2019.

[2] https://www.deutschlandfunk.de/kuenstliche-intelligenz-in-der-bundesliga-talentscouting-4-0.1346.de.html?dram:article_id=428803. 22.09.2018.

[3] https://www.facebook.com/uwegensheimer/videos/290214135228171/. 03.04.2019.

[4] http://www.vbg.de/SharedDocs/Medien-Center/DE/Broschuere/Branchen/Sport/VBG-Sportreport%202018.pdf?__blob=publicationFile&v=5

[5] https://www.aargauerzeitung.ch/sport/werden-unsere-sportler-bald-besser-dank-einem-eingepflanzten-chip-133604883. 20.10.2018

6. Juni 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang